Azhar-Erklärung zum muslimisch-christlichen Zusammenleben
Die ägyptische Al-Azhar-Universität, die vermutlich weltweit einflussreichste Institution des sunnitischen Islam, hat eine Erklärung zum muslimisch-christlichen Zusammenleben veröffentlicht, die die Vereinbarkeit des Islam mit religiösem Pluralismus erklärt, die Gleichheit von Muslimen und Nichtmuslimen in Bezug auf Rechte und Pflichten im Rahmen eines nationalen Verfassungsstaates bekräftigt und das staatsbürgerliche Prinzip (citizenship) als einen islamischen Grundsatz hervorhebt.
An der von Al-Azhar und dem Muslim Council of Elders (MCE, Vereinigte Arabische Emirate) einberufenen Konferenz „Freedom and Citizenship: Diversity and Integration“ (28.2. bis 1.3.2017 in Kairo) nahmen Berichten zufolge rund 600 Delegierte, Wissenschaftler und muslimische wie auch christliche Würdenträger aus über 50 Ländern teil. Höhepunkt war die Präsentation der „Al-Azhar-Erklärung für Staatsbürgerschaft (muwātana) und gemeinsames Zusammenleben“1 (Al-Azhar Declaration on Citizenship and Coexistence) durch den Großscheich Ahmad Muhammad al-Tayyeb2. In seiner Einführung verurteilte er Gewaltanwendung im Namen der Religion und forderte zum Zusammenleben in Harmonie und gegenseitigem Respekt auf. Al-Azhar werde weiterhin die Kooperation „zwischen den Religionsgemeinschaften“ stärken, „um religiöse und moralische Bildung sowie das staatsbürgerliche Prinzip zu fördern“. Al-Tayyeb rief dazu auf, Islamophobie zu bekämpfen, die von Radikalen gepflegt werde. Ebenso seien Nichtmuslime vor Verfolgung zu schützen, da der wahre Islam damit nicht vereinbar sei. Entschieden wandte er sich gegen die Propaganda, die die falsche Vorstellung einer fatalen Verbindung von Islam und Terrorismus verbreite. Eine solche irreführende Stereotype führe schließlich zur Kriminalisierung aller Religionen, was „ultramodernen“ Religionskritikern in sogenannten „fortschrittlichen“ Gesellschaften in die Hände spiele.
Die Erklärung umfasst sechs Punkte (auf gut drei Seiten in der englischen Fassung), die wie folgt knapp zusammengefasst werden können:
1. „Das Konzept der ‚Staatsbürgerlichkeit‘ [Citizenship] hat seinen Ursprung im Islam, da es in der Verfassungsurkunde von Medina und in den nachfolgenden Bündnissen und Verträgen, in denen der Prophet Muhammad – Friede und Segen seien auf ihm – die Beziehungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen regelte, in vollkommener Form angewendet wurde.“ Dieses Konzept sei im „gerechtesten Herrschaftssystem“ in Medina völlig frei von Diskriminierung gewesen und habe eine Politik bestimmt, die auf religiösem, ethnischem und gesellschaftlichem Pluralismus basiere. Alle Bürger (citizens) Medinas waren gleich zu behandeln, was ihre Rechte und ihre Pflichten anbelangte; alle zusammen bildeten eine „Nation“ (arab. umma). Die Veranstalter wie auch die anwesenden christlichen Führer bekräftigten die Bedeutung der „Gleichstellung von Muslimen und Christen hinsichtlich der Rechte und Pflichten, die vom Staat festgelegt werden“, ganz im Einklang mit den Bestimmungen der „Verfassung (Charta) von Medina“.
2. Der nationale Verfassungsstaat muss gestärkt werden, da (nur) hier die Prinzipien der Staatsbürgerlichkeit, der Gleichberechtigung und der Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sind. Die Rede von „Minderheiten“ ist gefährlich, sowohl im Blick auf Muslime als auch auf Nichtmuslime, da der Begriff Diskriminierung und Segregation unter dem Deckmantel von „Minderheitenrechten“ befördert.
3. Alle „himmlischen Religionen“ (das sind i. d. R. Judentum, Christentum, Islam; F. E.) haben nichts zu tun mit Terrorismus in irgendeiner Form. Das muss angesichts der zunehmenden Welle von Extremismus, Gewalt und Terrorismus erneut betont werden. Wenn dies nicht klargestellt werde, liefere man „pro-Moderne Fanatikern“ (pro-modernity fanatics) Argumente für die Eliminierung jeglicher Religion unter dem Vorwand der Stabilität der Gesellschaft.
4. Die Hauptaufgabe des Staates sei der Schutz des Lebens, der Freiheit, des Eigentums sowie der staatsbürgerlichen Rechte und der menschlichen Würde seiner Bürger. Hierzu braucht es einen starken Staat.
5. Es wurden schon viele Anstrengungen unternommen, auf individueller wie auch auf institutioneller Ebene Korrekturen, Verbesserungen und Erneuerungen voranzubringen. Zu diesen Bemühungen gehören auch die vertieften Beziehungen zu religiösen Institutionen in der arabischen Welt und weltweit (Vatikan, Canterbury/Anglikanische Kirche, Ökumenischer Rat der Kirchen). Die Kooperationen sollen ausgeweitet werden, um einen kulturübergreifenden muslimisch-christlichen Dialog aufzubauen.
6. Es wird der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass eine zu erneuernde Partnerschaft „oder ein Vertrag“ zwischen allen arabischen Staatsbürgern, seien sie Muslime, Christen oder Angehörige einer anderen Religion, etabliert wird, und zwar auf der Grundlage der Werte gemeinsamer Verständigung, gegenseitiger Anerkennung, Staatsbürgerlichkeit und Freiheit. Dies sei keine optionale Möglichkeit mehr, sondern unbedingt erforderlich.
Die Erklärung schließt mit dem Bild des gemeinsamen Bootes, in dem alle sitzen (und das auch in der islamischen Prophetentradition vorkommt, die als solche zitiert wird). Alle versammelten Muslime und Christen erneuerten ihre Brüderlichkeit „und ihre Absage an jedweden Versuch, sie durch die Behauptung zu spalten, dass Christen in ihren Heimatländern ein Angriffsziel seien“.
Die Azhar-Erklärung verurteilt Gewalt im Namen der Religion. Hier stehen extremistische Bewegungen und insbesondere der „Islamische Staat“ (IS) vor Augen. Und sie verurteilt jede politische Machtausübung, die die Unterscheidung von Muslimen und Nichtmuslimen ausnutzt und zu Doppelstandards und Ausgrenzung führt. Dies richtet sich zum einen gegen die Stigmatisierung von Muslimen in westlichen Gesellschaften („Islamophobie“), aber auch gegen die unrechtmäßige Behandlung von Christen in mehrheitlich muslimischen Gesellschaften. Muslime wie Nichtmuslime sollen ihre staatsbürgerlichen Rechte vollumfänglich wahrnehmen können. Das sind wichtige Impulse, weshalb auch diese Erklärung als Schritt in die richtige Richtung gewertet werden muss. Die Betonung der citizenship hat den libanesischen Premier Saad Hariri veranlasst, in der Azhar-Erklärung „die Botschaft des Libanon“ zu sehen, „die Botschaft der Mäßigung, des Dialogs und der Koexistenz von Muslimen und Christen“.3
Hier ist allerdings ein zweiter Blick geboten. Die Azhar-Erklärung spricht an keiner Stelle vom säkularen Rechtsstaat. Das Modell des „nationalen Verfassungsstaats“ wird in Medina unter dem Regiment des Propheten Muhammad gesehen. Dort entstand im ersten Drittel des 7. Jahrhunderts das erste islamische Gemeinwesen, mit Regelungen für die Rechte von jüdischen und anderen Minderheiten. Sie wurden als zu einer „Nation“ (umma) gehörend betrachtet und hatten insofern Rechte und Pflichten. Von einem religiösen „Pluralismus“ und von „gleichen“ Rechten und Pflichten zu sprechen, ist zumindest missverständlich, wenn nicht schlicht falsch. Die „staatsbürgerlichen“ Rechte dieses Modells wurden im Laufe der Zeit in Scharianormen gegossen, die sicher interpretationsfähig, nicht aber mit moderner gesellschaftlicher Teilhabe vergleichbar sind. Die historische und sachliche Diskrepanz kann nicht einfach ignoriert werden, wenn nicht gerade dadurch Doppelstandards nahegelegt werden sollen. Kritiker haben deshalb darauf hingewiesen, dass die gesellschaftlichen Minderheiten zwar von der Konnotation eines „negativen“ Elements befreit werden sollen, damit aber die Voraussetzungen für eine gleichberechtigte bürgerschaftliche Partizipation nicht berührt sind. Der Text der Erklärung ist aus dieser Sicht nicht nur missverständlich, sondern auch widersprüchlich. Das Konzept der Citizenship wird nicht kritisch dargelegt, sondern quasi suggestiv eingeführt und doch ungebrochen mit einem traditionellen „Medina-Modell“ verbunden, das ohne den „Dhimmi-Status“ der Minderheiten (zudem nur der „himmlischen Religionen“ Christentum und Judentum) nicht schlüssig zu denken ist. Es ist zu vermuten, dass dies kein Zufall ist.
Jedenfalls springt die Nähe der Azhar-Erklärung zur Erklärung von Marrakesch vom Januar 2016 ins Auge (vgl. MD 3/2016, 103-106). Auch hier wurde die Charta von Medina zur maßgeblichen Grundlage heutiger Gesellschaftsverhältnisse erklärt. Der Vorsitzende in Marrakesch war Scheich Abdallah ibn Bayyah. Dieser gründete mit anderen Gelehrten im Jahr 2014 den MCE und sitzt diesem Rat vor – zusammen mit Großscheich Ahmad al-Tayyeb von der Azhar-Universität.
Friedmann Eißler
Anmerkungen
1 So der Titel in der (ungenügenden und unbrauchbaren) deutschen Übersetzung: www.azhar.eg/observer-de/details/al-azhar-erkl228rung-f252r-staatsb252rgerschaft-muw226tana-und-gemeinsames-zusammenleben . Der Text auf Englisch: www.azhar.eg/observer-en/al-azhar-declaration-on-citizenship-and-coexistence-issued-by-his-eminence-the-grand-imam-of-al-azhar .
2 Zu al-Tayyeb siehe MD 5/2016, 189-191.
3 http://nna-leb.gov.lb/en/show-news/76866/Hariri-Al-Azhar-declaration-about-coexistence-between-Muslims-and-Christians-reflects-message-of-Lebano n.