Lutz Lemhöfer

Befreiungsdienst im Kontext evangelikaler und charismatischer Frömmigkeit

In der Öffentlichkeit wird die Lehre und Praxis des „Exorzismus“ zumeist als ein katholisches Thema wahrgenommen. Dabei wird vielfach übersehen, dass eine vergleichbare Praxis unter anderem Namen auch in evangelischer, genauer: evangelikaler Frömmigkeit eine Rolle spielt; im Kontext der (transkonfessionellen) Charismatischen Bewegung hat sie sogar einen sehr viel höheren Stellenwert und wird vermutlich sehr viel häufiger praktiziert als im Katholizismus.1 Georg Otto Schmid, ein Experte aus der Reformierten Kirche, unterscheidet im evangelischen Spektrum vier Positionen2: Zum ersten das „aufgeklärte Christentum“, das mit der Existenz von Dämonen und der Möglichkeit von Besessenheit nicht rechnet, sondern entsprechende Phänomene psychopathologisch deutet und deshalb auf medizinisch/psychiatrische Hilfe setzt. Die zweite Position (im Gefolge von Zwingli und Calvin) rechnet mit Besessenheit allenfalls bei Nichtchristen, also im Feld der Mission. Eine dämonische Belästigung freilich könnten auch Christen erleben; dem sei aber durch Sündenbekenntnis und Verhaltensänderung, nicht durch einen Exorzismus zu begegnen. Eine dritte Position sieht Schmid im Pietismus: Besessenheit wird dort als eine seltene Möglichkeit auch unter Christen angesehen, abzulesen vor allem an paranormalen Phänomenen wie Spukerscheinungen. Ein Exorzismus könne angezeigt sein, wie ihn z.B. Johann Christoph Blumhardt im bekannten Fall der Gottliebin Dittus nach langem Zögern angewandt habe; er gelte jedoch als seltene Ausnahme im christlichen Leben, ähnlich wie im Katholizismus. Demgegenüber zeichne sich die vierte Position, die der Charismatiker, durch eine deutliche Ausweitung des Begriffes der Besessenheit (und des Gegenmittels „Befreiungsdienst“) aus.

Grundsätzlich geht die charismatische Sicht der Dinge davon aus, dass Besessenheit und dämonische Belästigung (die Unterscheidung beider Phänomene verfließt hier) auch Christen betreffen können und gar nicht so selten betreffen. Die Liste möglicher Anzeichen greift einerseits auf paranormale Phänomene zurück (ähnlich der klassischen katholischen Kriteriologie), geht aber weit darüber hinaus. In einer erstmals 1992 und dann wieder 2005 publizierten Schrift der „Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der Evangelischen Kirche“3 werden etwa genannt:

• übernatürliche Kräfte oder Fähigkeiten und unerklärliche Kenntnisse;

• Abscheu-Reaktionen auf Anbetung, Gebet und heilige Gegenstände;

• „irrationale Opposition gegen gläubige Menschen oder gute Projekte“, zumal gegen „Christen, die Verantwortung tragen“;

• Spukphänomene.

Neben diesen „äußeren“ Manifestationen böser Geister gebe es aber auch „versteckte Anzeichen“:

• psychische Störungen;

• hartnäckige Krankheiten und Funktionsstörungen, die auf ärztliche Behandlung (und charismatischen Heilungsdienst? – L.L.) nicht ansprechen, nicht zuletzt Suchtkrankheiten („Magersucht schließt ... immer einen destruktiven Geist mit ein“);

• schwere moralische Verfehlungen wie Abtreibung („Im Falle einer Abtreibung sind wahrscheinlich Geister der Ablehnung, des Mordes und des Todes da“);

• traumatische Erfahrungen sowohl von einzelnen Menschen als auch von Kollektiven wie Ortschaften oder Völkern;

• „Engagement für Religionen oder Sekten, die leugnen, dass Jesus wahrer Gott ist und für unsere Sünden starb“, also letztlich jede Bindung an eine fremde Religion;

• okkulte Praktiken nicht nur einer bestimmten Person, sondern auch ihrer Vorfahren und Verwandten.4 Dazu zählt auch der „Gebrauch von alternativer Medizin, z. B. Homöopathie oder Akupunktur“.

Wie kommt diese enorme Ausweitung des Besessenheitsbegriffes zustande? Drei Punkte scheinen mir hier bedeutungsvoll:

1. Moralische Verfehlungen oder Fehlverhalten werden auf unmittelbar dämonische Beeinflussung zurückgeführt („Geist des Stolzes“, „Geist der Ablehnung“ etc.). In der klassischen Theologie hätte man vom „Laster des Stolzes“ gesprochen und eine Umkehr forciert, ohne auf die Geisterwelt Bezug zu nehmen.

2. Menschen werden haftbar gemacht für echte oder vermeintliche Verfehlungen Dritter, insbesondere ihrer Vorfahren. Dahinter steht die Vorstellung, die Sünde (nicht nur die eigene, sondern auch die fremde) gebe den Dämonen Raum, sich in der Seele eines Menschen einzunisten; diese bösen Geister könnten geradezu „vererbt“ und damit über Generationen wirksam werden.5 Einige Autoren rechnen auch mit der Wirksamkeit von Verfluchungen.

3. Im Falle okkulter Praktiken reicht auch spielerisches Handeln oder Kontakt mit als okkult belastet geltenden Gegenständen. „In der Regel werden die Gläubigen aufgefordert, alle Gegenstände, denen okkulte Kräfte zugeschrieben werden, wie etwa Tonträgern mit weltlicher Rockmusik, Amulette, Sternzeichen, Götterfiguren oder ähnliches aus der Wohnung zu entfernen und wenn möglich zu vernichten.“6

Die Befreiung eines Menschen von dämonisch verursachten Leiden, Zwängen oder Versuchungen ist aus charismatischer Sicht nicht einfach ein hilfreicher Akt einfühlsamer Seelsorge, sondern „ein geistlicher Kampf zwischen zwei Königreichen – ein Machtkampf“.7 Während der katholische Exorzismus für diesen Machtkampf einem festen Regelwerk und Ritual folgt, ist der Befreiungsdienst in seiner Ausgestaltung frei. Dennoch hat sich ein Ablaufschema herausgebildet, das mindestens in der Einzelseelsorge wohl allgemein so oder ähnlich verwendet wird:8

1. Vorbereitung des Befreienden oder des Teams für den Befreiungsdienst durch Gebet, ggf. auch durch Fasten.

2. Vorbereitung des zu Befreienden durch Sündenbekenntnis, Anerkennung Jesu Christi als Herrn und Vergebung gegenüber denen, die Verletzungen, Traumata etc. verursacht haben.

3. Befreiungsgebet: Den Dämonen, deren Namen und ggf. Hierarchie zuvor erfragt wurden, wird im Namen und in der Autorität Jesu geboten, aus dem Menschen auszufahren. Dabei kann es zu körperlichen Manifestationen wie Schütteln, Schreien, Erbrechen kommen. Dow vermutet, Dämonen entwichen auf dem gleichen Weg, auf dem sie gekommen seien, „z. B. über die Augen, über Öffnungen der Geschlechtsorgane oder über die Finger“. Sie tun dies aber nur auf ausdrücklichen Befehl. „Es ist keine an Jesus gerichtete Fürbitte, sondern ein in seinem Namen gegen die Dämonen gerichtetes, befehlendes Gebet.“9 Dies ist strukturell gleich dem katholischen Ritual des Exorzismus; in der neueren katholisch-theologischen Diskussion plädieren jedoch ernst zu nehmende Stimmen für die Ersetzung dieses Befehls-Rituals durch eine mit dem Betroffenen gemeinsam zu betende fürbittende Liturgie.

4. Füllung des von den Dämonen befreiten Raums der Seele mit Segen bzw. mit dem Heiligen Geist. Die Einbindung des Befreiten in eine lebendige Gemeinde soll Rückfälle verhindern.

Diese Lehre und Praxis wirft eine Reihe Fragen auf. Zu Recht warnt Georg Otto Schmid (a. a. O.) vor einer „Dämonisierung des Weltbilds“ und vor der Verlagerung menschlicher Verantwortung in eine Geisterwelt, der dann eigene Fehlhaltungen und Fehlleistungen zugeschrieben werden können. Ganz zu schweigen von Misserfolgen, die dann nur nach dem Exorzisten mit der „stärkeren Salbung“ suchen lassen statt Alternativen ins Auge zu fassen. Dabei geht es keineswegs nur um einen Streit um die bessere Seelsorge-Methodik, sondern, überspitzt formuliert, um eine Art innertheologischen Kulturkampf.

Manche charismatischen Autoren verstehen ihre Art und Weise des Umgangs mit dem Bösen als Überwindung einer liberalen Theologie, die sie in der Sackgasse wähnen. Graham Dow berichtet noch eher ironisch darüber, wie Besucher aus Kirchen anderer Erdteile „schallend lachen“, dass die meisten englischen Geistlichen nicht an böse Geister glauben. Sehr viel deutlicher markiert Roger Forster, welchen Geist er aus der Theologie austreiben möchte: „Als Kirche Christi müssen wir die biblische Weltsicht der Geistwesen und Engel, der Gewalten und Mächte wiederentdecken, die in Jahren der materialistischen Interpretation und der Entmythologisierung verloren ging.“10

Hier trifft sich die charismatische Bewegung mit den Intentionen vieler vor allem pfingstlerisch geprägter Kirchen in der Dritten Welt, die dem entweder noch lebendigen oder erneut wachsenden Hexen- und Dämonenglauben in ihrer Umwelt nicht durch Aufklärung, sondern durch Entfaltung exorzistischer Gegenmacht begegnen wollen (vgl. MD 2/2006, 43-53). Und dies durchaus mit dem Anspruch, das schlaff gewordene christliche Abendland zu dieser Weltsicht zu bekehren. Ob sich diese Sicht als „christliche Trendreligion“ durchsetzt11 oder ob die gegenwärtige konservative Erweckungs-Bewegung innerhalb der Kirchen wiederum reformerische Gegenbewegungen hervorruft, bleibt abzuwarten.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a.M.


Anmerkungen

1 Eine Internet-Recherche ergab allein für den Monat Mai in Deutschland drei Befreiungsdienstseminare unterschiedlicher Träger, u. a. der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung in der Ev. Kirche.

2 Georg Otto Schmid, Befreiungsdienst in der Landeskirche, www.relinfo.ch/befreiung/landeskirchetxt.html 

3 Graham Dow, Befreiungsdienst. Erstmals publiziert als „Werkstattheft“ der Geistlichen Gemeinde-Erneuerung, Hamburg 1992, neu aufgelegt als „Sonderbeitrag“ innerhalb des Buches „Die Gaben des Heiligen Geistes“, hg. v. Friedrich Aschoff und Paul Toaspern, Hamburg 2005, 107-135.

4 Die Aufzählung dürfte repräsentativ für charismatische Theologie sein; Schmid (Befreiungsdienst in der Landeskirche) kommt unter Berufung auf einschlägige Autoren wie Derek Prince und John Wimber auf einen ähnlichen Kriterienkatalog.

5 Dieser Gedankengang weist überraschende Parallelen zur der Mode-Therapie der „Familienaufstellung“ nach Bert Hellinger auf.

6 Thomas Kern, Schwärmer, Träumer und Propheten? Charismatische Gemeinschaften unter der Lupe, Frankfurt a.M. 1998, 82.

7 Graham Dow, Befreiungsdienst, 126.

8 Nach Schmid, Befreiungsdienst in der Landeskirche; Dow, Befreiungsdienst.

9 Andreas Kusch, Esoterik, okkulte Einflüsse und die Freiheit durch Christus, Brennpunkt Seelsorge, H. 135, 3+4/2003, 68-81; hier zitiert nach dem Abdruck auf der Homepage der „Offensive junger Christen“, www.ojc.de.

10 Vorwort zu C. Peter Wagner, Territoriale Mächte, Solingen 1991, 5.

11 Vgl. Reinhard Hempelmann, 100 Jahre Azusa-Street-Erweckung und die Folgen, Materialdienst der EZW 4/2006, 123-130.