Begegnung und Auseinandersetzung
Zur Aufgabe der EZW im weltanschaulichen Pluralismus
1. Weltanschaulicher Pluralismus
Zur Signatur unserer modernen Gesellschaft gehört der weltanschauliche und religiöse Pluralismus. Die Vielfalt der Lebensstile und kulturellen Einflüsse, der religiösen, weltanschaulichen und ethischen Überzeugungen macht das Leben nicht nur bunt, sondern auch kompliziert. Einerseits kann jeder nach seiner Façon selig oder glücklich werden, andererseits ist ein Zusammenleben nicht möglich, wenn es nicht ein Mindestmaß an gemeinsamen Grundüberzeugungen gibt. Soll die pluralistische Gesellschaft nicht in eine Vielzahl von unverbunden nebeneinander bestehenden Subkulturen und Parallelwelten zerfallen, müssen Bindekräfte gestärkt werden, die den Zusammenhalt trotz bestehender Unterschiede und konfliktträchtiger Gegensätze fördern.
Das Besondere am modernen Pluralismus ist zum einen, dass die weltanschauliche, religiöse und kulturelle „Vielspältigkeit“ kein übergeordnetes Einheitsprinzip kennt. Zum anderen konkurrieren die unterschiedlichen Lebensformen und Weltdeutungen beständig miteinander. Der Pluralismus ist in der Moderne radikal oder prinzipiell geworden. Er ist nicht nur ein beschreibbarer Zustand, sondern gilt auch als gesellschaftliches Ideal, das freilich nicht ohne Probleme ist.
Solange sich Menschen aus dem Weg gehen können, muss der Pluralismus nicht zu Konflikten führen. Anders steht es jedoch, wenn Menschen miteinander leben, arbeiten und auskommen müssen. Ob in der Schule, am Arbeitsplatz oder in der Politik – es ist unter pluralistischen Vorzeichen weitaus schwieriger als in einigermaßen gleichförmigen Gesellschaften, sich auf Regeln des Zusammenlebens und gemeinsame Grundwerte zu verständigen. Begegnung und Verständigung sind nicht möglich, wenn nicht auch – respektvoll, aber eben doch – in strittigen Fragen die inhaltliche Auseinandersetzung geführt wird.
Wo es keine gemeinsame religiöse oder weltanschauliche Basis gibt, bieten sich möglicherweise Moral und Ethik als gesellschaftliches Bindeglied an. Die Idee eines kultur- und religionsübergreifenden Weltethos ist jedoch trügerisch. Sobald es darum geht, wie vermeintlich universale Regeln – wie das Tötungsverbot oder die Forderung, Gutes zu tun – im Einzelnen auszulegen sind, stößt man auf einen Pluralismus an ethischen Orientierungen und Begründungen. Auch der Appell an moralische Grundwerte und die Beschwörung einer Wertegemeinschaft verfangen nicht. Wie schon der Soziologe Max Weber schrieb, dient die Berufung auf Ethik und Werte häufig als Mittel des Rechthabens.2 Werte verbinden nicht, sondern trennen, wenn man sich unter Berufung auf Werte von anderen abgrenzt und diese ausgrenzt.
Eine pluralistische Gesellschaft kann freilich nicht bestehen, wenn es nicht zumindest einen Konsens über Regeln des Dialogs und der Konfliktregelung gibt. Sie braucht eine rechtsstaatliche und demokratische Ordnung, die von ihren Mitgliedern nicht nur akzeptiert, sondern auch aktiv gefördert wird. Das schließt die Achtung vor der Menschenwürde und den Menschenrechten ein.
Nach einer viel zitierten Formulierung des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde lebt der „freiheitliche, säkularisierte“ – und das heißt eben pluralistisch verfasste – Staat „von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“.3 Böckenförde unterstellt freilich noch eine Übereinstimmung in Fragen der Werte und der Moral, die stillschweigend aus der mehrheitlichen Zugehörigkeit der Bürgerinnen und Bürger zum Christentum abgeleitet wird. Diese Annahme trifft so jedoch nicht mehr auf die multikulturelle und multireligiöse Situation der heutigen Gesellschaft zu, wie z. B. die Diskussionen über eine deutsche Leitkultur zeigen oder darüber, ob der Islam inzwischen zu Deutschland gehört oder nicht. Auch lautet die Frage nicht nur, wie viel Religion der säkulare Staat braucht, sondern auch, wie viel Religion der moderne demokratische und weltanschaulich plurale Rechtsstaat verträgt.4 Hierüber ist nicht nur mit den verschiedenen Religionen, sondern auch mit einem sich neu artikulierenden und formierenden Atheismus die Auseinandersetzung zu führen. Mit der Übersiedlung der EZW von Stuttgart nach Berlin, die 1995 erfolgte, sind die Themen des Säkularismus und der fortschreitenden Entkirchlichung, der Konfessionslosigkeit und des Atheismus neu ins Blickfeld ihrer Arbeit gerückt.5
2. Öffentliche Theologie
Aus all dem Gesagten ergibt sich, dass der Dialog der Religionen und Weltanschauungen für eine pluralistische Gesellschaft kein Luxus, sondern lebensnotwendig ist. Der Dialog der Religionen und Weltanschauungen bedarf freilich auch einer wissenschaftlichen Begleitung. Nicht nur die Religionswissenschaft, sondern auch die Theologie ist gefordert, ihren Beitrag zur Deeskalation politischer Konflikte und zur Überwindung von Vorurteilen zu leisten, durch die das friedliche Zusammenleben in der multikulturellen und multireligiösen globalisierten Welt von heute gefährdet ist. Neben soliden Informationen über die verschiedenen Religionen ist aber auch der kritische Umgang mit dem Phänomen der Religion und ihren Ambivalenzen vonnöten. Theologisch gesprochen gehört dies zur biblisch geforderten Unterscheidung der Geister. Sie verlangt nicht nur nach religionswissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher, sondern auch nach theologischer Kompetenz. Die theologische Auseinandersetzung mit den Zweideutigkeiten der Religion setzt freilich ihrerseits solide religionswissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Kenntnisse voraus. Daher sind vermehrte interdisziplinäre Anstrengungen nötig.
Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungen ist solch eine Institution, die interdisziplinäre und theologische Kompetenzen bereitstellt, wie sie die pluralistische Gesellschaft für den sachlichen, d. h. aber durchaus auch kritischen Umgang mit der Vielfalt der Religionen und Weltanschauungen benötigt. Ihre Aufklärungs- und Beratungsarbeit kommt nicht nur der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihren Gliedkirchen zugute, sondern der Gesellschaft insgesamt. Wer Informationen und Rat sucht, ist hier an der richtigen Adresse. Die EZW beteiligt sich aber auch selbst am weltanschaulichen und interreligiösen Dialog. Sie leistet damit einen wichtigen Beitrag zum Gemeinwohl. Ihre Arbeit ist ein Beispiel für „öffentliche Theologie“. Der evangelische Theologe Wolfgang Vögele definiert öffentliche Theologie als „die Reflexion des Wirkens und der Wirkungen des Christentums in die Öffentlichkeiten der Gesellschaft hinein“. Sie ist für Vögele sowohl „die Kritik und die konstruktive Mitwirkung an allen Bemühungen der Kirchen, der Christen und Christinnen, dem eigenen Öffentlichkeitsauftrag gerecht zu werden, als auch die orientierend-dialogische Partizipation an öffentlichen Debatten, die unter Bürgern und Bürgerinnen über Identität, Ziele, Aufgaben und Krisen dieser Gesellschaft geführt werden“.6 Genau das tut auf ihrem Arbeitsfeld die EZW. Öffentliche Theologie, wie ich sie verstehe, ist als Absage an alle Versuche zu verstehen, mittels staatlicher Gewalt oder mithilfe des Rechts einer bestimmten Weltanschauung oder partikularen Moral allgemeine gesellschaftliche Verbindlichkeit zu verschaffen. Ihr Ziel ist vielmehr „ein konsequent pluralistischer Gesamtzustand ... des Gemeinwesens“.7
Ein solcher Gesamtzustand setzt freilich voraus, dass sich die einzelnen Akteure, Bürger und Gemeinschaften ihrer Identität bewusst bleiben, die ihrerseits keine feste Gegebenheit ist, sondern dem geschichtlichen Wandel unterliegt. Außerdem kann die eigene Identität je nach Kontext unterschiedlich bestimmt werden. Ein und dieselbe Person hat außerdem unterschiedliche Identitäten, z. B. die des deutschen Staatsbürgers mit türkischen Wurzeln, der vielleicht ein leidenschaftlicher Anhänger eines Bundesligavereins, zugleich auch Mitglied einer politischen Partei und überdies Muslim ist.
Selbst religiöse Identitäten sind fluide, zumal es das Christentum ebenso wenig wie den Islam oder denAtheismus gibt. Wie aber die individuelle Ausprägung einer religiösen oder weltanschaulichen Orientierung ausschaut, steht nochmals auf einem anderen Blatt. Wir sprechen heute auch von Christentümern im Plural. Die Aufgabe der EZW ist daher als eine ökumenische, die Konfessionen verbindende Aufgabe zu begreifen, die freilich auch eine Auseinandersetzung mit den innerhalb des Christentums in Glaubensfragen, im Kirchenverständnis oder in der Ethik bestehenden Unterschieden einschließt.
3. Interreligiöser Realismus
Interreligiöse und weltanschauliche Dialogbemühungen dürfen sich freilich nicht auf echte oder vermeintliche Konvergenzen der Religionen und Weltanschauungen beschränken. Sie müssen sich produktiv mit der konfliktträchtigen Konkurrenz religiöser Geltungsansprüche, aber auch mit dem „Abschied vom Prinzipiellen“8 auseinandersetzen, den die modernen pluralistischen Gesellschaften vollziehen. Sollen religiöse Geltungsansprüche nicht in Unterdrückung und Gewalt umschlagen, stellt sich die Frage, wie pluralismusfähig insbesondere die monotheistischen Religionen sind. Hierzu gehört die Anerkennung der Religionsfreiheit durch die Religionen selbst sowie des weltanschaulich neutralen Rechtsstaats.
Mit Recht forderte der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Wolfgang Huber schon vor Jahren zur Abkehr vor der Schummelei im interreligiösen Dialog auf.9 Viele wohlmeinende Versuche, die Gemeinsamkeiten aller Religionen und Weltanschauungen zu beschwören, sind reines Wunschdenken oder religiöser Kitsch. In der Tat muss der interreligiöse Dialog auf eine neue, realistischere Grundlage gestellt werden, bei der bestehende Unterschiede und offenkundige Gegensätze nicht verbrämt, sondern offen benannt und diskutiert werden. Insbesondere die monotheistischen Religionen erheben je für sich einen Wahrheits- und Geltungsanspruch, der mit jenem der übrigen Religionen durchaus konfligiert. Eine der zentralen Fragen im interreligiösen und weltanschaulichen Dialog lautet, wie sich Toleranz und eigener Wahrheitsanspruch miteinander versöhnen lassen.
Die Aufgabe der EZW im weltanschaulichen Pluralismus sehe ich darin, den nötigen Realismus im interreligiösen und weltanschaulichen Dialog zu fördern. Zugleich aber ist es ihre Aufgabe, zur Versachlichung bestehender Auseinandersetzungen beizutragen. Durch Aufklärung und Bemühungen um direkte Begegnung mit Angehörigen und Vertretern der verschiedenen religiösen Gemeinschaften und Weltanschauungen soll sie dem Anheizen und der politischen oder kirchlichen Instrumentalisierung weltanschaulicher oder religiöser Konflikte entgegenwirken.
4. Identität und Differenz als Thema einer Theologie der Religionen
Das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen und Weltanschauungen in Anknüpfung und Widerspruch zu bestimmen, ist die Aufgabe einer Theologie der Religionen. Eine Theologie der Religionen ist vom Dialog der Religionen nochmals zu unterscheiden. Während der Dialog die Kommunikation zwischen den Religionen oder Angehörigen derselben meint, ist unter Theologie der Religionen die theologieimmanente Reflexion auf die Existenz und Vielfalt der anderen Religionen zu verstehen. Sie wird aus der jeweiligen Perspektive der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion betrieben. Dementsprechend gibt es eine christliche, eine jüdische, eine islamische oder eine buddhistische Theologie der Religionen. Es liegt auf der Hand, dass eine Theologie der Religionen auf die direkte Begegnung und den Dialog mit anderen Religionen angewiesen ist, will sie nicht ihren Vorurteilen über die anderen religiösen Traditionen erliegen. Dialog und Theologie der Religionen sind jedoch nicht dasselbe. Eine Theologie der Religionen hat auch die jeweilige Differenz zwischen der Selbstdeutung einer fremden Religion und der Fremddeutung aufgrund der eigenen Glaubenstradition zu reflektieren. Als Bearbeitung von Differenzerfahrung ist jede Theologie der Religionen eine Form von „diversity management“, wobei die Lösungsansätze sehr unterschiedlich ausfallen.10
Ausgangspunkt jeder Theologie der Religionen ist die Wahrnehmung von Verschiedenheit. Das verbindet eine Theologie der Religionen mit der Aufgabenstellung ökumenischer Theologie, die das Problem der Vielfalt und Einheit der christlichen Konfessionen bearbeitet. Aber auch jede Form des Synkretismus hat Verschiedenheit, d. h. Differenzerfahrungen zur Voraussetzung. Denn jeder Synkretismus ist eine Synthetisierungsleistung, d. h. der Versuch, eine Synthese von ursprünglich Verschiedenem herzustellen. Wenn der Synkretismus Konvergenzen oder gar Identität zwischen unterschiedlichen religiösen Symbolsystemen zu erkennen glaubt, kann man doch nicht einfach behaupten, dass diese immer schon bestehen. Die behauptete Vergleichbarkeit, Konvergenz oder Identität ist immer eine Konstruktion, sei es eine Konstruktion durch das individuelle religiöse Bewusstsein oder sei es eine Synthese, die von den religiösen Autoritäten einer Gemeinschaft aufgestellt wird. Dementsprechend kann man fragen, wie die unterschiedlichen Konzeptionen einer Theologie der Religionen Differenzen wahrnehmen und wie sie diese aus der jeweiligen Perspektive einer konkreten Religion oder religiösen Tradition bearbeiten. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit wahrgenommene Unterschiede gleichbedeutend mit Trennungen oder auch Widersprüchen und konkurrierenden Geltungsansprüchen sind.
Freilich ist nicht nur jeder Versuch einer Synthese, sondern schon die Wahrnehmung von Differenz eine Konstruktion. Differenzen bestehen nicht einfach, sondern sie werden dadurch gesetzt, dass eine Unterscheidung vorgenommen wird. Das zeigt bereits ein Blick in die Religionsgeschichte. Neue Religionen entstehen ihrem Selbstverständnis nach aufgrund von Offenbarungen, die man mit I. T. Ramsey als Erschließungssituationen („disclosures“) bezeichnen kann,11 die zu einer neuen Gesamtdeutung menschlicher Existenz und der Wirklichkeit als Ganzer führen. Charakteristisch für solche Offenbarungsereignisse ist aber immer auch die Markierung einer Differenz. Dieser Vorgang lässt sich systemtheoretisch, semiotisch oder auch konstruktivistisch deuten.
Jan Assmann hat den angesprochenen Sachverhalt am Beispiel der „mosaischen Unterscheidung“ zwischen Jahweverehrung und ägyptischer Religion untersucht, die auf eine Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Religion hinausläuft. In der Sicht des henotheistischen ersten Dekaloggebotes und vergleichbarer monotheistischer Religionen „gibt es keinen natürlichen oder evolutionären Weg, der vom Irrtum der Idolatrie zur Wahrheit des Monotheismus führt. Diese Wahrheit kann nur von außen kommen, durch Offenbarung.“12 Ähnlich wie der altisraelitische Jahweglaube sind auch die übrigen monotheistischen Religionen Gegenreligionen. Das ließe sich für das Christentum ebenso wie für den Islam zeigen.
Auf der individuellen Ebene zeigt sich dies beispielhaft an der Bekehrung des Apostels Paulus. Sie führt nicht nur zu einem Bruch in seiner Biografie und einer religiösen Umwertung aller Werte – wenn man die schroffen Aussagen in Phil 3,1-11 einmal so nennen darf – sondern auch zu trennscharfen Abgrenzungen gegenüber einem Verständnis des christlichen Glaubens, das auf die judenchristliche Beschneidungsforderung gegenüber Nichtjuden hinausläuft. Wo die judenchristlichen Gegner des Paulus eine Kontinuität zum Judentum aufrechterhalten wollen, propagiert Paulus in Verkündigung und religiöser Praxis eine fundamentale Diskontinuität. Wo umgekehrt das Judenchristentum Unterscheidungen aufrechterhält – z. B. im Fall der jüdischen Reinheitsgebote – verkündigt Paulus stattdessen die Aufhebung vormaliger Trennungen. Die durch die Beschneidung symbolisierte Unterscheidung zwischen jüdischer und nichtjüdischer Religion ist nach Überzeugung des Paulus durch die Christusoffenbarung hinfällig geworden: „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern Glaube, der durch die Liebe fähig ist“ (Gal 5,6; vgl. auch Gal 3,28). An die vormalige Leitunterscheidung zwischen Beschnittenheit und Unbeschnittenheit tritt nun eine andere, nämlich die zwischen Christusglaube und Unglaube, die ihrerseits rituell symbolisiert wird, nämlich durch die Unterscheidung zwischen Getauften und Nichtgetauften. Paulus verdankt diese Einsicht nicht eigenem Nachdenken, sondern einer persönlichen Christusoffenbarung (vgl. Gal 2,11-24).
Theologisch sind weitere Unterscheidungen von grundlegender Bedeutung. Die elementarste, die Judentum und Christentum treffe, ist diejenige zwischen Gott und Welt bzw. Gott und Mensch. In abstrakterer Form handelt es sich um die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz. Unterschieden werden muss aber auch zwischen Offenbarung und Religion, weil andernfalls die Manifestation Gottes oder des Absoluten mit seiner partikularen Symbolisierung in der Form eines religiösen Zeichensystems zusammenfiele.
Und schließlich werden mit und an dem Religionsbegriff selbst Unterscheidungen vorgenommen. Zum einen lässt sich zwischen Religion und Religionen differenzieren, zum anderen zwischen religiös und nichtreligiös bzw. profan. Je nachdem, wie diese Unterscheidungen vollzogen werden, ändert sich auch das Verständnis von Gemeinsamkeiten oder Ähnlichkeiten, die zwischen unterschiedlichen Phänomenen wahrgenommen werden. Wie einerseits mithilfe des Religionsbegriffs Unterscheidungen vorgenommen werden, so wird mit seiner Hilfe andererseits auch eine Synthese vollzogen, welche die Einheit von Verschiedenem behauptet. Das gilt für jeden singularischen Religionsbegriff, in der Religionswissenschaft und in der Religionsphilosophie ebenso wie in der Theologie, ganz gleich, ob er phänomenologisch oder funktionalistisch formuliert wird. Jeder Begriff von Religion, selbst wenn er als rein deskriptiver Terminus bestimmt wird, hat normative Qualität und vollzieht Abgrenzungen unterschiedlicher Reichweite. Ob zum Beispiel der ursprüngliche Buddhismus eine Religion ist oder nicht oder ob Joggen, Fußballleidenschaft und Popkultur religiöse Phänomene sind, hängt bekanntlich immer vom jeweils vorausgesetzten Religionsbegriff und seinen Einzelbestimmungen ab.
Gegenüber einer Religionstheorie und Religionstheologie, welche von einem singularischen bzw. einem generalisierenden Religionsbegriff ausgeht, der mehr oder weniger vom Christentum übernommen bzw. an ihm gewonnen worden ist, bedeutet die Diskussion über Programme einer Theologie der Religionen insofern einen Erkenntnisfortschritt, als mit dem Plural „Religionen“ die Wahrnehmung von Differenzen den Ausgangspunkt des Nachdenkens bildet. Gemeinsamkeit und Verschiedenheit der als Religionen bezeichneten Zeichen- und Sozialsysteme lässt sich m. E. am besten mit Ludwig Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit unterschiedlicher Sprachspiele charakterisieren.13 Familienähnlichkeit bedeutet etwas anderes, als für alle Religionen einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu behaupten. Es braucht nicht jedes als Religion bezeichnete Zeichensystem mit allen anderen eine Gemeinsamkeit zu haben, sondern es genügt, dass sich einzelne Zeichen- oder Funktionssysteme überschneiden, die wiederum mit anderen Zeichensystemen gewisse Schnittmengen bilden. So entsteht, wenn man es mengentheoretisch betrachtet, eine polyzentrische Komplexität.
Wie schon gesagt wurde, ist eine Theologie der Religionen vom Dialog der Religionen zu unterscheiden. Sinnvollerweise lässt sich aber fragen, welche Funktion eine Theologie der Religionen für den Dialog der Religionen hat und umgekehrt. Die Unterscheidung zwischen Dialog und Theologie der Religionen ist unter anderem wichtig, um die Aufgabenstellung einer Theologie der Religionen klarer zu begrenzen. Ich verstehe unter Theologie der Religionen eine wissenschaftliche Bemühung, Diversität auf dem Feld des Religiösen durch Theoriebildung zu bearbeiten. Das setzt einerseits eine Vergewisserung der eigenen Identität voraus. Andererseits aber wird die eigene Identität durch die Bearbeitung von Diversitäts- und Differenzerfahrungen stets herausgefordert und im besten Fall neu bestimmt.
Als theologische Theorie ist eine Theologie der Religionen freilich kein Instrument, um interreligiöse Einheit zwischen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zu stiften, ebenso wenig wie eine ökumenische Hermeneutik ein politisches Instrument zur Überwindung kirchlicher Spaltungen ist. Ziel einer Theologie der Religionen ist eine differenztheoretische Hermeneutik, die aus der Perspektive einer konkreten Religion die hermeneutischen Bedingungen des interreligiösen Gespräches zu klären versucht. In der Formulierung solcher Bedingungen liegt immer schon eine gewisse Synthetisierungsleistung, die aber nicht mit einer synkretistischen Religionssynthese zu verwechseln ist.
Hier sehe ich die Aufgaben der EZW. Indem sie sich sachkundig in den Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen einlässt, trägt sie auch zur Stärkung einer christlichen Identität bei. In Anbetracht des gesellschaftlichen wie des innerkirchlichen Pluralismus ist es immer wieder neu erforderlich, sich in der Kirche über die Verbindlichkeit des Glaubens für das individuelle Leben und die Gestaltung der Gesellschaft zu verständigen. Gerade weil der moderne Pluralismus prinzipiell ist, ist die Profilierung grundlegender Positionen eine zentrale theologische und kirchliche Herausforderung. Gemeint ist nicht kirchliche Bevormundung, sondern Ermutigung, öffentlich zu sagen, wofür man steht. Dazu leistet die EZW einen wichtigen Dienst.
Ulrich H. J. Körtner, Wien
Anmerkungen
- Vortrag auf dem Neujahrsempfang der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) am 13.2.2014 in Berlin.
- Vgl. Max Weber, Politik als Beruf, Studienausgabe, Tübingen 1994, 77.
- Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (stw 914), Frankfurt a. M. 1991, 92-114, hier 112.
- Vgl. Rolf Schieder, Wieviel Religion verträgt Deutschland?, Frankfurt a. M. 2001.
- Vgl. Reinhard Hempelmann, 50 Jahre Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, in: Religionsdifferenzen und Religionsdialoge, EZW-Texte 210, Berlin 2010, 9-11, hier 11.
- Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie (Öffentliche Theologie 14), Gütersloh 2000, 23f. Vgl. schon ders., Zivilreligion in der Bundesrepublik Deutschland (Öffentliche Theologie 5), Gütersloh 1994, 418ff.
- Martin Schuck, Art. Politische Theologie, RGG4 VI, Tübingen 2003, 1471-1474, hier 1474.
- Vgl. Odo Marquard, Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1981.
- Vgl. Wolfgang Huber, Toleranz. Umstritten und aktuell, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 48 (2004), 162-165.
- Vgl. dazu Ulrich H. J. Körtner, Theologie der Religionen – eine Form des Diversity Managements, in: Karoline Iber/Birgit Virtbauer (Hg.), Diversity Management, Göttingen 2008, 95-112.
- Vgl. Ian T. Ramsey, Religious Language, London 1957.
- Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998, 24.
Vgl. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (stw 203), Frankfurt a. M. 1977, 57 (Nr. 67).