Being Viking. Heathenism in Contemporary America
Jefferson F. Calico: Being Viking. Heathenism in Contemporary America, Equinox Publishing, Sheffield 2018, 526 Seiten, 90,76 Euro (gebunden), 41,11 Euro (Paperback).
Asatru, das „Nordische“ oder „Germanische Heidentum“, ist einer der kleinsten unter den vielen Zweigen am gemächlich wachsenden Baum des (Neo-)Paganismus bzw. des (Neu-)Heidentums. Jefferson Calico, der abwechselnd von Asatru, Heathenry und Heathenism spricht, schätzt die Zahl der Anhänger in den USA auf 7000 bis 20 000, also auf 1 % bis 3 % der dortigen Heiden. Die religionswissenschaftliche Aufmerksamkeit für Asatru ist relativ gering, hat in der Paganismusforschung in den letzten Jahren allerdings stetig zugenommen; das vorliegende umfangreiche Werk bringt diese Forschung einen großen Schritt weiter.
„Being Viking“, aus einer Doktorarbeit am Southern Baptist Theological Seminary hervorgegangen, gründet sich mehr auf Feldforschung denn auf das Studium schriftlicher Quellen. Genau dies macht den Reiz des Werkes aus. Fünf Jahre hat Calico mit ethnologischer Brille unter amerikanischen Asatruar verbracht. Anders als viele religionswissenschaftliche Forschungen zu den verschiedenen Spielarten des Paganismus stammt die Arbeit nicht aus der Feder eines aktiven oder ehemaligen Anhängers dieser neuen Religion. Calico schreibt als (wohlgesonnener) Außenseiter. Freilich hätte man gerne etwas mehr zu einer zentralen methodischen Grundfrage gelesen, die sich bei paganistischen Feldstudien immer stellt: Welche Rolle hat der Forscher als teilnehmender Beobachter im Kontext einer Religion, deren Ritualpraxis im Grunde nur aktive Teilnehmer, keine Beobachter vorsieht? Denn die Rolle des Verfassers von „Being Viking“ changiert an einigen Stellen zwischen innen und außen, zwischen Anhänger und Beobachter, etwa dann, wenn er in einer persönlichen Krise ein „Runenorakel“ durchführt oder wenn er seinen Sohn zu Asatru-Wochenendversammlungen mitnimmt.
Das erste Kapitel zur Geschichte des amerikanischen Asatru gibt einen kurzen Forschungsüberblick und klärt, inwiefern Asatru tatsächlich ein Teil des Paganismus ist. Denn schon dies bestreiten manche Forscher und manche Heiden aus anderen Traditionen. Weitere Kapitel erkunden Asatrus Kosmologie, Anthropologie, sein Verständnis von Polytheismus, die Rolle der Familie und der Geschlechter, die Bedeutung der Magie sowie das Verständnis von Natur und Ökologie. Calico macht sich bei allen untersuchten Aspekten auf die Suche nach vier verschiedenen „Ein-flüssen“ (tributaries), deren Wirken seines Erachtens Asatru zu einer facettenreichen, manchmal widersprüchlichen Religion machen. Diese vier Einflüsse sind: nordische Mythologie, völkische (folkish) Theorien, Wicca und Populärkultur (Fantasy in Literatur und Film).
Die Crux des Asatru ist die Frage „Wie hältst du es mit der Rasse beziehungsweise Abstammung?“ (Anders als Rasse auf Deutsch ist race auf Englisch ein gebräuchlicher Begriff.) Sie stellt sich für amerikanische Asatruar in spezifischer Gebrochenheit, da sie ja nicht mehr im Land ihrer Ahnen leben, deren Religion sie zu rekonstruieren suchen und die sie im Ritual anrufen. Diese „Rassefrage“ belastet seit Jahrzehnten den Ruf des Asatru. Sie dominiert oft auch die wissenschaftliche Forschung mit der Frage, wie nah eine bestimmte Asatru-Gruppe, Asatru-Theorie oder Asatru-Schrift an völkischen Vorstellungen sei. Calico schließt sich zunächst der üblichen Dreiteilung in racialist, ethnicist / folkish und universalist Asatru an. Er zeigt aber überzeugend, dass dies eine idealisierte Ordnung ist, die in der Realität verschwimmt. Denn wenn sich Gruppen und Inhalte im wirklichen Leben treffen, öffnen sie sich füreinander, vermischen sich, und ihre Grenzen werden fließend. Die angestrebte Aufteilung in inakzeptable und akzeptable Vorstellungen und Gruppen anhand des Kriteriums der jeweiligen Einstellung zur Rassefrage scheitert. Schon wegen ihrer geringen Zahl können Asatruar kaum eine totale interne Abgrenzung anhand solcher idealisierter Bruchlinien üben. Außerdem spielt das Thema gar nicht immer eine so zentrale Rolle, dass Positionen und etwaige Unterschiede überhaupt zum Vorschein kämen. Für Asatruar ist das Rassethema weniger wichtig als für die Asatru-Beobachter. Und schließlich sind die Positionen selbst oft unklar in einem kontinuierlichen Graubereich zwischen romantischer Ahnenverehrung und Rassismus angesiedelt.
Calico untersucht in diesem Zusammenhang Stephen McNallens Ansatz der „Metagenetik“. Dies ist die Annahme, dass die Ansprechbarkeit von Menschen für eine bestimmte Religion von ihren über Jahrtausende geformten Genen bestimmt werde (McNallen: The Philosophy of Metagenetics, Folkism and Beyond, 2006). Solche Ideen – McNallen ist in der englischsprachigen Szene der wichtigste Autor zu diesem Thema – lassen natürlich sofort an Theoriebildungen des frühen 20. Jahrhunderts und ihre Indienstnahme durch die Nazis denken. Calico benutzt hier dementsprechend durchgängig den deutschen Begriff „völkisch“. Aber, gibt er zu bedenken, es sei denkbar, solche völkischen Quellen entschärft zu nutzen, etwa wenn man sie für die Praxis des „Runenyoga“ einsetze, wo Rassefragen irrelevant seien (111). Calico stellt McNallens Vorstellungen dar, verwirft dessen wissenschaftliche Behauptungen zur Genetik, zeigt aber auch, wie dieser seinen Ansatz im Laufe vieler Jahre auf Kritik reagierend grundlegend verändert hat. Der Verfasser lehnt den üblicherweise schnellen und oft nur oberflächlich begründeten „Rassismus“-Vorwurf vieler anderer Heiden und vieler Forscher als analytisch unbefriedigend ab. „[T]he constant refrain from folkish Heathens that they are not racists needs to be heard with more nuance“ (212). „Being Viking“ zieht die Darstellung, die Analyse und das Verstehen selbst da dem Urteil vor, wo der Autor den Theorien nicht zustimmt. Das erleichtert dem Leser das Verstehen auch solch abseitiger Theorien, wie sie McNallen vorträgt, die in der übrigen Literatur oft nur oberflächlich dargestellt werden.
Ein wiederkehrendes Thema des Buches ist die Frage sozialer Schichten. Für Calico ist Asatru das Heidentum der Arbeiterklasse und kleiner Angestellter (blue-collar workers) im Gegensatz zum großstädtisch-kleinbürgerlichen Akademikermilieu anderer Heidengruppen (white-collar). Viele andere Heiden zeigen eine misstrauisch-distanzierte, bisweilen vehement ablehnende Haltung gegenüber Asatru. Calicos Beschreibung deutet an, dass dies nicht nur an den ausdrücklich genannten Gründen wie Rassethemen oder Geschlechterrollen liegt, sondern dass es sich auch um eine Spielart jener Konflikte zwischen Stadt und Land, Eliten und Volk handelt, die man derzeit in vielen westlichen Gesellschaften beobachtet.
Das bedeutet: Der mehr oder weniger ausgeprägte soziale und politische Konservatismus von Asatru bringt die Bewegung in Konflikt mit dem gesellschaftlichen Mainstream der Mittelschicht einerseits und mit anderen Strömungen des Heidentums andererseits. Calico verweist hier auf Züge, die für Asatru typisch seien: die traditionellen Familienwerte, die Bejahung komplementärer Geschlechterrollen (gleichwertig, nicht gleichartig), die Betonung der Eigenverantwortung des Einzelnen und die Ablehnung eines „Hyperindividualismus“ sowie die positive Einstellung zu sozialen Hierarchien. In diesen Punkten stelle sich Asatru in der gegenwärtigen Welt kontrakultureller dar als andere heidnische Richtungen. Diese anderen Traditionen des Heidentums seien in ihren zentralen Werten kompatibel mit dem gesellschaftlichen Mainstream, während Asatru die eigentliche „alternative Religion“ darstelle.
Daher müssten nicht nur andere Heiden ihr Verhältnis zu Asatru, sondern auch Asatru sein Verhältnis zu anderen Formen des Heidentums klären. Diese anderen Traditionen werden im Asatru oft unter dem als Pars pro Toto gebräuchlichen Oberbegriff „Wicca“ (Neue Hexen) verhandelt. Wicca hatte Calico als dritten der vier wesentlichen Einflüsse im Asatru identifiziert. Zu dieser „Wicca“ genannten Vorstellungswelt „kuscheliger“ esoterischer Ideen habe Asatru ein ambivalentes Verhältnis, das zwischen Aufnahme und Zurückweisung changiere. Die Zurückweisung geschehe aus inhaltlichen und methodischen Gründen. Zum einen seien die Werte und Ideen des Wicca aus der Sicht des Asatru Symbole für das, was mit der Gesellschaft als ganzer nicht stimme. Zum anderen widerspreche der „wicca“-typische Eklektizismus den rekonstruktiven Zügen des Asatru, das sich um eine möglichst genaue Wiedererweckung der alten „nordischen Überlieferung“ bemühe, nach dem Motto: forschungsbasierte Eindeutigkeit der Tradition statt synkretistische Wohlfühlbeliebigkeit.
Der größte Schatz des Buches ist das breite Fundament der Feldstudien, die ihm zugrunde liegen. Calico schöpft hier aus dem Vollen. Gespräche, Rituale, das Alltagsleben in Asatru-Wochenendcamps werden lebendig und bisweilen detailreich geschildert. Der Leser gewinnt durch die einfühlsamen Beschreibungen einen guten Eindruck davon, wie sich religiöses Leben als Asatru-Anhänger anfühlen könnte.
Das Kapitel über Tieropfer (Blót) erschließt überzeugend die spirituelle Dimension dieser (seltenen) Praxis, die wie kaum eine anderes Element symbolisiert, dass wir es hier mit einer Religion zu haben, welche die Tatsachen von Leben, Sterben und Tod sehr ernst nimmt und wenig mit dem Wohlfühlansatz von „fluffy-bunny“ Wicca gemein hat. Blót-Tiere müssen von einem Mitglied der Gemeinschaft unter guten Lebensbedingungen von Hand aufgezogen werden und später respektvoll sowie schmerzfrei im Rahmen eines Rituals getötet und in einem Gemeinschaftsmahl gegessen werden. Das Tieropfer erscheint demnach als eine gegenkulturelle Praxis, die sich sowohl von der industriellen Fleischproduktion als auch vom gewaltfreien Vegetarismus vieler anderer Heidenrichtungen abhebt.
„Being Viking“ trägt viel zum wissenschaftlichen Verständnis von Asatru bei. Die Lebendigkeit und Einfühlsamkeit der Beschreibungen hätte durch die nüchterne Angabe einiger ergänzender Zahlen und anderer Fakten noch gewonnen: Das Zahlenverhältnis von Männern und Frauen (auch hier weicht Asatru von der frauendominierten heidnischen Norm ab), eine Liste der vom Autor besuchten Gruppen und Versammlungen zur Orientierung des Lesers wären willkommen gewesen. Von einigen unvermeidlichen Wiederholungen abgesehen ist der Schreibstil angenehm und auch Nicht-Muttersprachlern zugänglich.
Für die meisten Nicht-Heiden dürften Bücher wie dieses die einzige Möglichkeit sein, einen Nahblick auf genuine Asatru-Rituale zu werfen. Die Unvoreingenommenheit des Autors, die ungewöhnlich breiten und ausdauernden Feldstudien, die präzisen Beschreibungen und das ausgefallene Thema sorgen dafür, dass dieses Buch eine gute Chance hat, zum Standardwerk für jeden am germanischen Heidentum Interessierten zu werden.
Kai Funkschmidt