Beratungsangebote für Menschen in weltanschaulichen Krisen

Um die Versorgungssituation von Menschen in religiös-spirituellen Krisen ging es bei einer Fachtagung, die im März 2023 in Berlin stattfand. Eingeladen hatten Einrichtungen in der Trägerschaft von Staat und Zivilgesellschaft. Kirchliche Vertreter waren beratend beteiligt. Im Nachgang dieser Tagung entstand ein mit Handlungsempfehlungen versehenes Positionspapier, das hier dokumentiert wird.
 

I. Das Phänomen der religiös-spirituellen Krise

Religion kann helfen, Religion kann schaden.2 Nachdem die gesundheitsförderlichen Wirkungen positiver Glaubensüberzeugungen und -praktiken auch im deutschsprachigen Raum belegt sind,3 häufen sich Berichte über die Auswirkungen toxischer Gemeinschaften, religiöser Gewalt oder des spirituellen Missbrauchs.4

Während religiöser Glaube aus theologischer Sicht Freiheit und Selbstverantwortung fördern soll, kann er unter bestimmten Umständen zum Machtmissbrauch eingesetzt werden sowie Abhängigkeiten und Minderwertigkeitsgefühle erzeugen. Dazu liegen zahlreiche Erfahrungsberichte vor.5 In einem Sammelband haben Psychologen empirische Befunde über mögliche negative Seiten der Religiosität zusammengestellt.6 Dabei kommen negative Gottesbilder, das Konzept der „ekklesiogenen (‚kirchenbedingten‘) Neurose“ sowie die Herausforderungen des wachsenden religiösen Fundamentalismus zur Sprache. Bis heute sind streng moralisierende, religiös überhöhte Erziehungskonzepte anzutreffen, in denen Gott als unbarmherziger Richter instrumentalisiert wird. Dadurch entstehen Gottesbildprobleme bis hin zu religiös bedingten Zwangsstörungen, die behandlungsbedürftig sind. Während man früher derartige Störungen als ekklesiogene Neurosen bezeichnete, wird derzeit eher das Konzept „spirituelle Krise“ verwendet.7 Dysfunktionale Religiosität, also Fehlformen der Religiosität oder durch Spiritualität bedingte Erkrankungen, beispielsweise religiöse Zwänge, sind erstaunlicherweise auch heute noch weit verbreitet. Ein Experte für Zwangserkrankungen geht von über 120 000 behandlungsbedürftigen Zwangserkrankten in Deutschland aus, deren Problematik mit Religiosität im Zusammenhang steht.8

Religiöser oder spiritueller Machtmissbrauch kann unter bestimmten Umständen traumatisierend wirken. Die amerikanische Psychologin Marlene Winell hat den Begriff „religiöses Trauma-Syndrom“ geprägt.9 Die Symptome ähneln denen einer posttraumatischen Belastungsstörung, bei der vor allem Angstzustände, Selbstzweifel und Gefühle der sozialen Unzulänglichkeit ausgeprägt sind. Hier sind sie aber die Folge eines religiös begründeten übergriffigen Verhaltens. Winell, die seit vielen Jahren religiös Traumatisierte begleitet, unterscheidet bei Betroffenen folgende vier Störungsbereiche:

  • (a) kognitiv: Verwirrung, Unfähigkeit zu kritischem Denken, Schwarz-Weiß-Denken, Selbstabwertung, Perfektionismus, Entscheidungsschwäche;
  • (b) sozial: Isolation, soziale Unbeholfenheit, Zerrüttung der Familie, sexuelle Schwierigkeiten;
  • (c) kulturell: Fremdheitsgefühl in der säkularen Welt, Anschlussschwierigkeiten, Bildungslücken;
  • (d) emotional: Depression, Angst, Wut, Trauer, Scham, Einsamkeit, Sinnverlust.
     

II. Unterscheidungen: Primär und sekundär Betroffene

Spiritueller Missbrauch ruft eine Reihe von Folgen hervor, die es systemisch zu bedenken gilt. Ein professioneller Umgang damit erfordert ein religiös sensibles und informiertes Vorgehen. Für die Beratungsarbeit ist es wichtig, primär Betroffene, d. h. Ausstiegswillige, von nur sekundär Betroffenen, d. h. Menschen in ihrem sozialen Umfeld, zu unterscheiden.

Bei Menschen, die spirituellen Missbrauch erlebt haben, sind immer auch das soziale Umfeld, die Familie, Angehörige und Freunde, aber auch der weitere Kontext, d. h. Arbeitgeber, Ausbildungsstätten, Einrichtungen etc., betroffen. Dabei ist deren Rolle heterogen und von der Situation der primär Betroffenen abhängig: Das „umgebende System“ kann sich in einem Zustand der Unsicherheit befinden, sowohl beim Umgang mit entsprechenden Verhaltensänderungen des primär Betroffenen als auch bezüglich der Frage, wie sie inhaltlich etwa einen destruktiven Kult einschätzen. Häufig sucht zunächst das „umgebende System“ der betroffenen Person Beratungseinrichtungen auf, die Orientierungen für einen Umgang und Handlungsempfehlungen geben können. Dazu gehören beispielsweise psychologische Familienberatungsstellen oder therapeutische Angebote. Dabei erleben die Ratsuchenden jedoch oft, dass der spezifisch religiöse Hintergrund nicht verstanden oder sogar ausgeklammert wird.

Darüber hinaus kann die Familie selbst als problematisch empfunden werden, wenn ein primär Betroffener sich auf dem Weg der Loslösung von einem destruktiven Kult befindet. Zwar betrachtet eine primär betroffene Person nun die Gruppe kritischer. Wenn aber die eigene Familie nur mit Vorwürfen auf die Wiederannäherung reagiert und für einen gemeinsamen Neuanfang (noch) nicht bereit ist, kann der Ausstieg gefährdet sein. Erfolgt ein Ausstieg aus einer Gruppierung, zu der über die Zugehörigkeit hinaus auch ein Arbeitsverhältnis besteht, verdichten sich die Probleme. Die Rückkehr in ein soziales System nach langer Zeit der Absenz kann mit Irritationen und heftigen Emotionen einhergehen.
 

III. Menschen in destruktiven weltanschaulichen Gemeinschaften

Die Menschen, die professionelle Hilfe und Unterstützung suchen, wollen Gruppen und Gemeinschaften verlassen, die die Persönlichkeitsentwicklung ihrer Mitglieder behindern.10 Ein Gruppenangebot, das früher einmal in eine Lebenssituation passte, kann sich Jahre später als Hemmschuh erweisen. Viele suchen nach einem bereits vollzogenen Ausstieg auch Rat und Unterstützung bei der Bearbeitung des Aufenthalts in sektenhaften Milieus oder einer „Pseudogemeinschaft“. Mit dem letzteren Begriff beschreibt die Forschung Gemeinschaften, für die die persönliche Entwicklung ihrer Mitglieder das Gefühl von Zusammengehörigkeit (sense of togetherness, sense of relation) infrage stellt. Jeder Ausdruck von Individualität wird dort nicht nur als Störung empfunden, sondern als Bedrohung, die potenziell das gesamte Beziehungsgeflecht der Gemeinschaft zu zerstören (demolishing the entire relation)11 in der Lage ist. Abweichungen und Ausbrüche aus den sozialen Rollen, die die Gruppe den Mitgliedern zuweist, werden mit teils massiver psychischer und physischer Gewalt geahndet. Die Gruppe lebt isoliert von der Außenwelt, nur der Gruppe wird zugestanden, im Besitz der „Wahrheit“ zu sein, nur ihr wird die Lösung aller menschlichen Probleme zugetraut. Die notwendige Unterscheidung von Glauben und Wahrheit wird in diesen Gemeinschaften nicht mehr getroffen.

Die Folgen für die Menschen, die sich in Pseudogemeinschaften aufhalten, können verheerend sein. Nicht allein werden Überschreitungen, seien es Kontakte mit der Außenwelt, seien es Zweifel an den Gruppenwahrheiten, massiv geahndet. „Realistische Zumutungen“ stoßen in der Beschreibung von Hans Blumenberg auf den heiligen Zorn der Gemeinschaft.12 Die Menschen in der Gemeinschaft verschwinden hinter den ihnen zugewiesenen sozialen Rollen; es entstehen, wie die Therapeutin Gillie Jenkinson für Mitglieder von Kulten konstatiert, Pseudo-Persönlichkeiten.13 Wo es misslingt, die Individualität eines einzelnen Menschen von seiner sozialen Rolle zu unterscheiden, bleibt wenig Raum für die individuelle psychische Entwicklung. In pathogenen Konstellationen gelingt es, so die Forschergruppe um Lyman Wynne, den Mitgliedern nicht mehr, zwischen dem Mitglied und der sozialen Rolle in der Gemeinschaft zu unterscheiden.14 In dem Maß, in dem das Individuum an seinen eigenen Wahrnehmungen und Gefühlen (ver)zweifelt, erscheint ihm seine Situation ausweglos.
 

IV. Fehlende Hilfe und Unterstützung – Handlungsempfehlungen

Seit Jahren steigen die Anfragen unmittelbar Betroffener und Angehöriger an die wenigen fachlich qualifizierten Hilfs- und Unterstützungsangebote im gesamten deutschsprachigen Raum. Zuletzt verschärfte die Pandemie nicht allein die Anzahl an Hilfeersuchen, sondern darüber hinaus auch die Notlagen, aus denen heraus sich Menschen an die genannten Beratungsstellen wenden. Insgesamt stellen die Verfasser:innen dieses Positionspapiers fest, dass die andauernde Krisenwahrnehmung bei Betroffenen zur erheblichen Verschlechterung ihrer psychosozialen Lage beiträgt. Pandemie, Klimakrise, Ukrainekrieg und der Boom an Verschwörungsmythen sowie ihre mediale Vermittlung stoßen bei nicht wenigen auf emotionale Prägungen von Endzeit- und Erlösungsvorstellungen, die ihnen aus der Zeit ihrer Mitgliedschaft in destruktiven weltanschaulichen Gruppen vertraut sind.

Während die wenigen Beratungsstellen mit Anfragen überhäuft werden, gibt es weiterhin keinen objektivierbaren Überblick über den Gesamtbedarf an Betroffenen. Alle bestehenden Einrichtungen arbeiten am Rande ihrer Kapazitäten, übernehmen Beratungsanfragen aus unterversorgten Bundesländern und sind zum Teil von personellen Einsparungsmaßnahmen betroffen.

Für die Verfasser:innen ergeben sich aus dem Dargestellten folgende drei Handlungsempfehlungen:

  • Im Hinblick auf die Klient:innen: Wir bitten im Namen und im Interesse der Betroffenen aus destruktiven weltanschaulichen Gemeinschaften und sektenhaften Milieus, ihrer Angehörigen und ihres Umfelds darum, im gesamten deutschsprachigen Raum den Zugang zu professionellen Beratungs-, Hilfs- und Unterstützungsangeboten zu gewährleisten und bereits bestehende Angebote abzusichern.
  • Im Hinblick auf die Forschung: Um Bedingungen und Auswirkungen spirituellen Missbrauchs (Täter:innen) bzw. religiöser Traumatisierung (Opfer) besser zu verstehen, werden mehr religionspsychologische Erkenntnisse darüber benötigt. Diesbezügliche Forschungsprojekte im deutschsprachigen Raum sind zu initiieren.
  • Im Hinblick auf die Weiterbildung: Es werden mehr religionskundliche und religionspsychologische Weiterbildungen für Berater:innen benötigt, um deren Kompetenzen im Umgang mit religiös-spirituell Traumatisierten zu verbessern.
     

Anmerkungen

  1. Das Positionspapier entstand in Zusammenarbeit von Jan Buschbom, Christiane Dietrich, Gloriett Kargl, Oliver Koch, Andreas Komischke, Karol Küenzlen-Zielinski, Christian Österbauer, Sarah Pohl, Sabine Riede, Dieter Rohmann, Susanne Schaaf, Ulrike Schiesser und Michael Utsch.
  2. Vgl. James L. Griffith: Religion hilft, Religion schadet. Wie der Glaube unsere Gesundheit beeinflusst, Darmstadt 2013.
  3. Vgl. Christian Zwingmann/Bernd Hodapp: Religiosität/Spiritualität und psychische Gesundheit: Zentrale Ergebnisse einer Metaanalyse über Studien aus dem deutschsprachigen Raum, in: Spiritual Care 7/1 (2018), 69–80; Cornelia Richter (Hg.): An der Grenze des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen, Stuttgart 2021.
  4. Vgl. Stefanie Butenkemper: Toxische Gemeinschaften. Geistlichen und emotionalen Missbrauch erkennen, verhindern und heilen, Freiburg i. Br. 2023.
  5. Vgl. Barbara Haslbeck/Regina Heyder/Ute Leimgruber/Dorothee Sandherr-Klemp: Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche, Münster 2020; Doris Wagner: Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg i. Br. 2019.
  6. Christian Zwingmann/Constantin Klein/Florian Jeserich (Hg.): Religiosität: Die dunkle Seite. Beiträge zur empirischen Religionsforschung, Münster 2017.
  7. Vgl. Liane Hofmann/Patrizia Heise (Hg.): Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis, Stuttgart 2017.
  8. Vgl. Burkhard Ciupka-Schön/Hartmut Becks: Himmel und Hölle. Religiöse Zwänge erkennen und behandeln, Ostfildern 2018.
  9. Vgl. Marlene Winell: Recovery from Harmful Religion. Religious Trauma Syndrome, in: Cognitive Behaviour Therapy Today, 2011, https://www.journeyfree.org/religious-trauma-syndrome-articles (Abruf: 6.6.2023).
  10. Vgl. Gillie Jenkinson: An Investigation into Cult Pseudo-Personality: What Is It and How Does It Form?, in: Cultic Studies Review 7/3 (2008), 199–224.
  11. Vgl. Marc Galanter: Charismatic groups and cults: A psychological and social analysis, in: Kenneth I. Pargament/Julie J. Exline/James W. Jones (Hg.): APA Handbook of Psychology, Religion, and Spirituality, Bd. 1: Context, Theory, and Research, Washington 2013, 729–740.
  12. Vgl. Hans Blumenberg: Präfiguration. Arbeit am politischen Mythos, Berlin 2014, 14f.
  13. Vgl. Jenkinson: An Investigation into Cult Pseudo-Personality.
  14. Vgl. Lyman et al.: Pseudo-Mutuality.