Anskar-Kirche Hamburg
(Letzte Berichte: 6/2018, 223f; 9/2018, 339-343) Seit Monaten wird in Berlin über die Abschaffung bzw. Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes diskutiert. Es wurde 2005 eingeführt und fordert von den Beschäftigten des Landes Berlin, sich mit ihren religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnissen in den Bereichen, in denen Bürger in besonderer Weise dem staatlichen Einfluss unterworfen sind, zurückzuhalten. Es ist als Reaktion auf das erste sogenannte KopftuchUrteil des BVerfG aus dem Jahr 2003 entstanden.
Es wurde vom Abgeordnetenhaus Berlin als der erforderliche „Ausgleich zwischen der Neutralitätspflicht des Staates, der positiven Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit von Beschäftigten und der negativen Glaubens- und Weltanschauungsfreiheit Andersdenkender durch ein allgemeines Gesetz“ beschrieben. In der Vorlage zur Beschlussfassung wird das Berliner Neutralitätsgesetz zum Anlass genommen, um der staatlichen Neutralitätspflicht eine stärker distanzierende Bedeutung beizumessen und die Grenzen der positiven Religionsfreiheit unter anderem durch die negative Glaubensfreiheit zu bestimmen. Zwar gebe es kein Recht darauf, „generell von fremden Glaubensbekundungen verschont zu bleiben“, davon unabhängig sei aber eine „vom Staat geschaffene Lage, in der die oder der Einzelne dem Einfluss eines bestimmten Glaubens oder seiner Symbole ausgesetzt ist“ (Abgeordnetenhaus von Berlin, Drucksache 15/3249). In einem solchen Szenario wird die negative Religionsfreiheit gegenüber der positiven priorisiert. Diese Entscheidung wurde vom Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 2004 auch mit der besonderen religiösen und weltanschaulichen demografischen Situation in Berlin begründet, aus der ein erhöhtes Potenzial für Konflikte zwischen konkurrierenden Glaubenshaltungen resultiere. Gewerkschaften und Berufsverbände beurteilten den Gesetzentwurf skeptisch, da sie die beabsichtigte Regelung im Wesentlichen für unnötig hielten. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und das Erzbistum Berlin lehnten den Entwurf ab, weil sie darin eine Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht erkannten. Der Senat stimmte mit diesen Vorbehalten nicht überein und beschloss das Neutralitätsgesetz auf Grundlage der genannten Argumente.
Doch nachdem das BVerfG im Jahr 2015 seine Rechtsprechung von 2003 korrigierte und ein Kopftuchverbot nicht mehr von einer hinreichend bestimmten landesgesetzlichen Grundlage, sondern von einer konkreten Bedrohung des Schulfriedens abhängig machte, traten in den Bundesländern Unsicherheiten über den Umgang mit dieser Rechtsprechung auf. Diese entladen sich in Berlin in einer kontroversen Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern des Neutralitätsgesetzes.
Inmitten dieser Kontroversen wurde in NRW ein Arbeitskreis Neutralitätsgesetz des Internationalen Bundes der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) initiiert (www.ibka.org/index.php/de/presse18/nrw-neutralitätsgesetz). Der IBKA ist ein kirchen- und religionskritischer Verein, der die Interessen der Konfessionslosen und Atheisten in Politik und Gesellschaft vertreten möchte und für eine konsequentere Trennung von Staat und Kirche eintritt. Der im September 2018 gegründete Arbeitskreis Neutralitätsgesetz verfolgt dem designierten Sprecher Werner Hager zufolge das Ziel, die Neutralität des Staates zu überprüfen und ggf. wiederherzustellen. Neutralität zeige sich nicht nur in Gesetzen, sondern auch „im Auftreten des Staates, seiner Gebäude und des Personals, welches seine Aufgaben erfüllt“, so Hager. Richtungsweisend für die Agenda des Arbeitskreises ist das Berliner Neutralitätsgesetz. Der IBKA hatte sich bereits Anfang 2017 mit offenen Briefen an den Berliner Senator für Kultur und Europa Klaus Lederer sowie an die Sprecherin für Religionspolitik von Bündnis 90/Die Grünen Bettina Jarasch gewandt und sich für die Beibehaltung des Berliner Neutralitätsgesetzes ausgesprochen.
Der Arbeitskreis vertritt vor allem das Ziel, der staatlichen Neutralität eine stärker distanzierende Bedeutung zuzuweisen. Dies kommt etwa im Artikel von Naila Chikhi in der MIZ, dem „Politischen Magazin für Konfessionslose und AtheistInnen“ des IBKA, zum Ausdruck: „Positive und negative Religionsfreiheit wurden geschaffen, um Andersgläubige und Nichtgläubige vor dominierenden Religionen zu schützen. Das Berliner Neutralitätsgesetz verstärkt das Recht auf Religionsfreiheit, indem jede/r frei seine Religion ausüben kann, aber auch frei von Religion leben darf“ (MIZ 1/18, 30f). Chikhi übersieht in ihrer Analyse, dass die Religionsfreiheit auch die gelebte Religiosität in ihren unterschiedlichen Vollzügen und Dimensionen schützt. Aufgrund ihrer Interpretation der Religionsfreiheit erkennt sie im Berliner Neutralitätsgesetz keine Einschränkung von religiöser Identität.
Die in diesem Zitat zum Ausdruck kommende Bevorzugung der negativen vor der positiven Religionsfreiheit wird von Naila Chikhi, wie von vielen Befürwortern des Neutralitätsgesetzes, auch als Markierung einer Sicherheitszone angeführt, aus der religiös und weltanschauliche Konflikte ausgesperrt werden können. Kritiker dieser Position halten das für illusorisch und befürchten darüber hinaus, dass sich die einseitige, religionskritische Leseart der staatlichen Neutralität dauerhaft festigen und ausbreiten könnte. Diese Befürchtung erscheint angesichts der Initiative des kirchen- und religionskritischen IBKA für ein Neutralitätsgesetz in NRW nicht grundlos zu sein.
Hanna Fülling