Berliner SPD für Werte- und gegen Religionsunterricht
Alle in die Öffentlichkeit gebrachten Proteste der Kirchen, der Eltern, einzelner prominenter SPD-Politiker wie Wolfgang Thierse, Richard Schröder, Johannes Rau, Franz Müntefering, waren nicht erfolgreich. Die Berliner SPD entschied sich auf ihrem Bildungsparteitag am 9. April 2005 für die Einführung eines neuen Faches Wertekunde, das für alle verpflichtend werden soll. Bildungssenator Klaus Böger wurde von seinen Parteigenossinnen und -genossen überstimmt. Er hatte ein Wahlpflichtfach vorgeschlagen, bei dem Schülerinnen und Schüler zwischen Ethik/Philosophie und Religion wählen können und entsprach damit einem Vorschlag, der seit vielen Jahren auch von den Kirchen unterstützt wird, ebenso von der FDP und der CDU. Mit einer klaren Mehrheit sprach sich die Berliner SPD jetzt gegen ein ordentliches Wahlpflichtfach Religion aus und für ein neues Pflichtfach Wertekunde, das sich in vieler Hinsicht am Brandenburgischen LER (Lebensgestaltung, Ethik, Religionskunde) orientiert. Es soll ab der 7. Klasse eingeführt werden. Die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften können weiterhin zusätzliche Angebote machen.
Warum ist diese Entscheidung nicht wirklich zukunftsbezogen?
• Weil sie nicht berücksichtigt, dass die gegenwärtige Situation des Religionsunterrichts in Berlin unbefriedigend ist und dringend der Reform bedarf.
• Weil sie dem Religionsunterricht die Anerkennung im öffentlichen Raum der Schule verweigert. Dies wird zur Folge haben, dass der Religionsunterricht weiter aus den Angeboten schulischer Bildung herausgedrängt wird. Innerhalb der Bundesrepublik stellt Berlin ohnehin einen Sonderfall dar. Hinsichtlich der Bestimmungen des Grundgesetzes wird die „Bremer Klausel“ (GG, Art. 141) herangezogen. Religion ist nicht ordentliches Lehrfach im Fächerkanon der Schule, auch nicht Wahlpflichtfach, sondern freiwilliges Angebot.
• Weil sie mitbestimmt ist durch antikirchliche Affekte und die Meinung, am besten könne man „neutral“, ohne religiös-weltanschauliche Bindung, über Werte, Religion und Lebensgestaltung unterrichten. Dies ist eine Illusion. Wer religiös gebildet sein will, muss authentischen Vertretern einer Glaubensrichtung begegnen.
• Weil damit Schülerinnen und Schülern in Berlin ein offenes und plurales Angebot zur religiösen Bildung vorenthalten wird.
• Weil sie einen Weg einschlägt, der in der Praxis zur religiösen Nivellierung und zum staatlichen Dirigismus in Religionsfragen führt. Das erinnert in fataler Weise an die staatliche Bemächtigung der Religion durch die sozialistische Diktatur. Die weltanschauliche Neutralität gebietet dem Staat jedoch, seine Grenzen im Blick auf die Religionsthematik anzuerkennen. Er muss als Staat darauf verzichten, Sinn- und Wertlieferant zu sein. Das spricht gegen eine staatlich verantwortete Religionskunde. Sie ist verfassungsrechtlich bedenklich.
• Was der jetzige Berliner Senat vorhat, läuft auf die Förderung von religiös-weltanschaulichem Analphabetismus hinaus und das in einer Situation, in der die Prägekraft der Religionen und Weltanschauungen immer deutlicher zutage tritt und die Suche nach Werten und Orientierungen unter jungen Menschen immer offensichtlicher wird. Natürlich ist es richtig, dass Wertevermittlung nicht nur im Religionsunterricht, sondern in allen Fächern geschieht. Woher aber kommen die Werte? Religion ist eine Gestaltungskraft, die zwar nicht in Ethik aufgeht, aber ethische Überzeugungen hervorbringt.
Im Streit über den Religionsunterricht geht es um weit mehr als um spezifische Fragen der Bildungspolitik. Zur Diskussion steht, ob eine Tendenz sich durchsetzt, die Religion aus dem öffentlichen Diskurs zu verdrängen und ihr lediglich einen Platz in der privaten Lebenswelt zukommen zu lassen. Wenn Religion keine Privatsache ist, sondern aus ihr wichtige Impulse zur Gestaltung des Gemeinwesens und der Bewahrung von Humanität und Gerechtigkeit kommen, kann und sollte es im Interesse des Staates und der Zivilgesellschaft sein, dass die authentischen Vertreterinnen und Vertreter der Religionsgemeinschaften am Diskurs über die Lebensfragen der Gesellschaft beteiligt sind, wie diese umgekehrt bereit sein müssen, ihre Glaubens- und Lebensorientierungen öffentlich zu verantworten.
Reinhard Hempelmann