Beschneidung
Eine Information zur derzeitigen Debatte
Die Debatte um die Beschneidung nicht einwilligungsfähiger Jungen wurde und wird kontrovers geführt. Verantwortliche Vertreter aus den Bereichen christlich-islamischer und christlich-jüdischer Dialog der Evangelischen Kirche von Westfalen fassen den Diskussionsstand zusammen und geben eine Orientierungshilfe. Wir dokumentieren eine leicht gekürzte Fassung.
Im Oktober 2012 hat das Bundeskabinett einen Gesetzentwurf gebilligt, der die Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Jungen unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Anfang November 2012 stimmte der Bundesrat zu. Mitte Dezember hat der Bundestag diesen Entwurf bestätigt. Damit fand eine Debatte ein zumindest vorläufiges Ende, die in den letzten Monaten in Deutschland kontrovers und mit Vehemenz geführt wurde. War die Beschneidung, wie sie vor allem im Judentum und im Islam praktiziert wird, in den vergangenen Jahrzehnten unhinterfragt akzeptiert worden, so war seit dem Urteil des Kölner Landgerichts im Mai 2012 die rechtliche Situation unübersichtlich und die gesellschaftliche Akzeptanz nicht mehr gesichert. Der vorliegende Text beleuchtet die Hintergründe des Gerichtsurteils, erläutert die religiösen Praktiken und Sinnzusammenhänge, stellt die wichtigsten Argumente zusammen und referiert in Kürze einige der Vorschläge zur Lösung des aufgeworfenen Problems.
Das Urteil des Kölner Landgerichts
Am 4. November 2010 führte ein Kölner Allgemeinmediziner die Beschneidung eines vierjährigen muslimischen Jungen durch. Da es nach der Operation zu Nachblutungen kam, wandte sich die Familie zwei Tage später an die Notaufnahme eines Krankenhauses, wo das Kind unter Vollnarkose operiert wurde. Der dort behandelnde Arzt hatte den Eindruck, dass die das Kind begleitende Mutter der Beschneidung ihres Sohnes nicht aus freien Stücken zugestimmt hatte. Er informierte die Polizei, es kam zur Anzeige gegen den Arzt, der die Beschneidung vorgenommen hatte.
In der ersten Instanz sprach das Amtsgericht den Arzt vom Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung frei. Das Amtsgericht begründete das Urteil damit, dass die sorgeberechtigten Eltern in den ärztlichen Eingriff eingewilligt hätten und mit ihrer Entscheidung dem Wohl des Kindes dienen wollten. Die Beschneidung sollte die kulturelle und religiöse Zugehörigkeit verdeutlichen und einer möglichen Ausgrenzung des Kindes entgegenwirken. Zudem sei die Zirkumzision in vielen Ländern der Welt aus hygienischen und gesundheitlichen Gründen bei der Mehrheit der Gesellschaft anerkannt.
Aufgrund der von der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufung beschäftigte sich in nächster Instanz das Landgericht Köln mit dem Vorfall und kam zu einer gänzlich anderen Beurteilung. Zwar sprach es den angeklagten Arzt frei, weil dieser sich in einem unvermeidbaren Verbotsirrtum befunden habe, da er sein Tun als rechtmäßig angesehen habe und angesichts der ungeklärten Rechtslage nicht abschließend beurteilen konnte. Dennoch stufte die Kammer die Beschneidung als einfache Körperverletzung ein. Da der Eingriff nach Meinung des Landgerichts nicht dem Wohl des Kindes entspreche, sei die Einwilligung der Eltern irrelevant. Das Kind könne später selbst über die Beschneidung und damit über die religiöse Zugehörigkeit entscheiden.
Das Urteil des Landgerichts hatte keine bindende Gesetzeskraft. Ärzte (und Eltern), die eine Beschneidung durchführen, setzten sich aber der Gefahr aus, wegen einfacher oder gefährlicher Körperverletzung angezeigt und verurteilt zu werden. Ein unvermeidbarer Verbotsirrtum konnte ihnen nun nicht mehr bescheinigt werden.
Beschneidung in den Religionen
In der Diskussion der vergangenen Monate ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass mit der Beschneidung die kulturelle Identität von Juden und Muslimen berührt sei und dass die Beschneidung von Jungen in beiden Religionen eine zentrale religiöse Bedeutung habe. In mehrfacher Weise muss diese Einschätzung jedoch spezifiziert werden. Zum einen wird die Beschneidung von Jungen auch in manchen christlichen Kirchen praktiziert, z. B. in der äthiopisch-orthodoxen Kirche. Zum anderen – und für den deutschen Kontext entscheidender – muss angemerkt werden, dass die Beschneidung in Judentum und Islam bei aller Relevanz dennoch Unterschiede hinsichtlich ihrer Bedeutung und Praxis aufweist. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass abgesehen von einer Minderheit (s. u.) die Beschneidung von Jungen nicht mit der oft ebenfalls Beschneidung genannten Genitalverstümmelung bei Mädchen in Beziehung gesetzt wird. Daher geht diese Orientierungshilfe nur am Rande auf das Thema ein. Für weitere Informationen zum Thema Genitalverstümmelung sei die Publikation „Genitalverstümmelung von Mädchen und Frauen“, EKD-Texte 65, Hannover 1999, empfohlen.
Beschneidung im Judentum
Die Beschneidung von Jungen wird im Hebräischen Berit Mila genannt, was wörtlich „Bund der Beschneidung“ heißt. Sie ist das Zeichen des Bundes zwischen Gott und dem Volk Israel, wie es in Gen 17,10-12a für Abraham und seine Nachkommen beschrieben ist: „Das aber ist mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Geschlecht nach dir: Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden; eure Vorhaut sollt ihr beschneiden, Das soll das Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Jedes Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen.“
In diesem Text ist klar festgelegt, dass die Beschneidung am achten Tag nach der Geburt zu erfolgen hat. Die Relevanz der Beschneidung ist dabei so hoch, dass diese sogar am Sabbat durchgeführt wird. Aus medizinischen Gründen kann die Beschneidung verschoben werden, sollte aber bis zur Bar Mizwa, d. h. bis zur Erlangung der religiösen Mündigkeit, nachgeholt werden. Die Beschneidung wird auch von Konvertiten verlangt. Wenn diese bereits beschnitten sind, wird in der Regel eine symbolische Beschneidung vollzogen.
Der körperliche Eingriff, bei dem die Vorhaut des Penis entfernt wird, wird von einem Mohel („Beschneider“) vorgenommen, der sein Fachwissen in einer jahrelangen Ausbildung erworben hat. Von den ca. 400 Mohelim in Israel sind etwa 5 Prozent zugleich Ärzte. Umstritten ist, ob die Beschneidung ohne Betäubung erfolgen muss, schmerzlindernde Medikamente benutzt werden dürfen oder sogar eine lokale Anästhesie erfolgen darf. Eine Vollnarkose wird schon aus medizinischen Erwägungen abgelehnt.
Die Beschneidung wird mehrheitlich sowohl in religiösen wie säkularen jüdischen Kreisen praktiziert. Nur eine Minderheit lehnt sie dezidiert ab. Der religiöse Teil unter dieser Minderheit ersetzt die Berit Mila durch die Berit Schalom, ein Ritual der Namensgebung ohne körperlichen Eingriff.
Um die Bedeutung der Beschneidung für das Judentum heute und die harsche Zurückweisung des Urteils des Kölner Landgerichts zu verstehen, muss neben der Tradition auch berücksichtigt werden, dass es im Laufe der jüdischen Geschichte immer wieder zu Beschneidungsverboten gekommen ist. Angefangen bei der Hellenisierungsbestrebung des Kaisers Antiochus Epiphanes im zweiten vorchristlichen Jahrhundert (1 Makk 1,51-64; 2 Makk 6,10) zieht sich die Geschichte der Unterdrückung der Beschneidung durch bis zu den kommunistischen Regimen in Osteuropa. Ein mögliches Verbot der Beschneidung in Deutschland wird auf diesem Hintergrund als Bestreitung jüdischer Existenz in Deutschland bewertet.
Beschneidung im Islam
Die Beschneidung (arabisch khitan, türkisch sünnet) wird im gesamten Islam praktiziert, dennoch ist sowohl die Theorie als auch die Praxis der Beschneidung je nach Rechtsschule und regionaler Tradition unterschiedlich. In der Mehrheit des türkischen Islam ist die Beschneidung nicht obligatorisch vorgeschrieben, wird jedoch als „empfohlene Handlung“ angesehen. Von den vier wichtigen sunnitischen Rechtsschulen betrachten zwei, nämlich die schafiitische und die hanbalitische, die Beschneidung als verpflichtend. Auch hinsichtlich des Alters, in dem sie durchgeführt werden soll, gibt es innerhalb des Islam keine einheitliche Regelung. Das Alter der Jungen bei der Beschneidung differiert zwischen dem Säuglingsalter (ab 7 Tage nach der Geburt) und dem Eintritt in die Pubertät und in die religiöse Mündigkeit im Alter von etwa 13 Jahren. Bei erwachsenen Konvertiten wird in der Regel keine Beschneidung verlangt, da der Übertritt zum Islam durch das Aussprechen des Glaubensbekenntnisses, der Schahada, nicht aber durch die Zirkumzision erfolgt.
Im Koran wird die Beschneidung nicht erwähnt. Allein die Aufforderung, dem Weg Abrahams zu folgen (Sura 9,35), ließe sich als indirekter Verweis verstehen. Wahrscheinlich wurde die Beschneidung im vorislamischen Arabien schon praktiziert und als Initiationsritual übernommen. Hinweise auf die Beschneidung finden sich vor allem in der Sunna, dem normativen Vorbild des Propheten Muhammad, wie es sich in den Sammlungen der Überlieferungen der Taten und Aussprüche Muhammads zeigt. Dort bzw. in den (nicht historischen) Prophetenbiografien wird erwähnt, dass Muhammad ohne Vorhaut zur Welt kam und dass es entsprechend zur Natur des Menschen gehört, beschnitten zu sein. Dies widerspricht in gewisser Weise der islamischen Ablehnung von dauerhaften Veränderungen des Körpers z. B. durch Tätowierungen oder Schönheitsoperationen.
In Deutschland wird die Beschneidung von muslimischen Jungen überwiegend ambulant von Ärzten vorgenommen. Dem medizinischen Eingriff folgt in der Regel ein Familienfest, bei dem der Junge feierlich eingekleidet und mit Geschenken und Süßigkeiten für die Schmerzen entschädigt wird. In manchen muslimischen Regionen fallen Beschneidung und Namensgebung zusammen.
In manchen muslimischen Kreisen werden die Beschneidung von Jungen und die als Genitalverstümmelung einzustufende Beschneidung von Mädchen gleichgesetzt. Vor allem in der schafiitischen Rechtsschule gibt es Stimmen, die beide körperlichen Eingriffe als verpflichtend ansehen. Auch in den anderen Rechtsschulen wird bisweilen die Entfernung der Klitoris bzw. der Klitorisvorhaut als empfohlene Handlung verstanden und mit der Sunna begründet. Die im Koordinationsrat der Muslime in Deutschland vertretenen Organisationen lehnen die Beschneidung von Mädchen jedoch als nicht muslimisch ab.
Argumente für und wider die Beschneidung von Jungen
In der Kontroverse um die Beschneidung argumentieren sowohl Befürworter als auch Gegner mit Verweis auf anerkannte Grundrechte und Rechtsgüter. Es handelt sich also letztlich um einen Grundrechtskonflikt, bei dem mehrere Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen. Da es keinen absoluten Maßstab für die Wertigkeit von Grundrechten gibt, fließen Grundeinstellungen der Personen in die Abwägung mit ein. So werden religiöse Institutionen der Religionsfreiheit wesentlich mehr Gewicht einräumen, als es Säkularisten tun werden, Es ist umgekehrt anzunehmen, dass bei vielen Gegnern der Beschneidung der säkularistische Impetus, den Einfluss der Religionen zu beschneiden, stärker ist als das vermeintliche Eintreten für die körperliche Unversehrtheit der betroffenen Jungen. Neben den Hinweisen auf betroffene Grundrechte werden in der Debatte noch weitere relevante Überlegungen geäußert, die eine Entscheidung beeinflussen. Im Folgenden werden die wichtigsten Argumente vorgestellt und kommentiert.
- Körperliche Unversehrtheit: Die Hauptargumentationslinie der Befürworter eines Verbots der Beschneidung an nicht einwilligungsfähigen Jungen bezieht sich auf Art. 2 Abs 2 GG: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.“ Auch Eltern haben im Grundsatz kein uneingeschränktes Recht, in die körperliche Unversehrtheit ihrer Kinder einzugreifen. Eingriffe in die Unversehrtheit des Körpers werden – auch wenn Eltern einwilligen – dann abgelehnt, wenn diese zu irreparablen körperlichen Schäden führen bzw. überproportional die Gefahr mit sich bringen, dazu zu führen. Die Befürworter des Verbots weisen daher auf die vielfältigen möglichen Nebenwirkungen und Folgeschäden hin, die auch bei einer fachgerechten Trennung der Vorhaut drohen. Studien zu den körperlichen Folgen einer Beschneidung kommen zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen, die zwischen Werten unter einem Promille bis zu Werten im zweistelligen Prozentbereich liegen.
Befürworter der Beschneidung erkennen an, dass es zu Komplikationen kommen kann, sehen diese jedoch in einer tolerierbaren Größe bei etwa 0,2 Prozent. Im Gegenzug verweisen sie darauf, dass bis zu einem Drittel der männlichen Weltbevölkerung beschnitten ist, dass die WHO für die Beschneidung eintritt und dass in manchen Ländern aus hygienischen und medizinischen Gründen für die Beschneidung geworben wird. Was also die gesundheitlichen Risiken angeht, so lässt sich weder eindeutig für noch gegen die Beschneidung entscheiden.
Schwierig erscheint auch, zwischen erlaubten und nicht erlaubten körperlichen Eingriffen an nicht einwilligungsfähigen Kindern zu unterscheiden. Wenn die Beschneidung als unverhältnismäßiger Eingriff in den Körper beurteilt wird, müssen auch andere Eingriffe, die nicht notwendig sind und auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden können, abgelehnt werden bzw. muss umgekehrt ihre Verhältnismäßigkeit bewiesen werden. In der Folge des Kölner Landgerichtsurteils wurde deshalb auch im Falle eines dreijährigen Mädchens, dem Ohrlöcher gestochen worden sind, gerichtlich angefragt, ob es sich hier um einen Akt von strafbarer Körperverletzung handle. Ebenso müsste z. B. überlegt werden, das Anlegen von abstehenden Ohren strafrechtlich zu ahnden.
In der Kontroverse wird bisweilen eine Parallele zwischen der Beschneidung an Jungen und der Genitalverstümmelung an Mädchen gezogen. Eine solche Parallele ist jedoch klar zurückzuweisen. Während es bei der Genitalverstümmelung an Mädchen darum geht, einen körperlich irreparablen Schaden gezielt herbeizuführen, handelt es sich bei der Beschneidung an Jungen in keiner Weise um eine gezielte Schädigung. Die in der Debatte erwähnten körperlichen Beeinträchtigungen sind ungewollte Neben- und Folgewirkungen der Beschneidung, keine absichtliche Verstümmelung.
- Verbot gesundheitsschädlicher Bräuche: Im Zusammenhang mit den möglichen Komplikationen einer Beschneidung haben Gegner der Beschneidung von Jungen mehrfach auf die UN-Kinderrechtskonvention hingewiesen, die auch Deutschland ratifiziert hat. Dort heißt es in Art. 24: „Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen, um überlieferte Bräuche, die für die Gesundheit der Kinder schädlich sind, abzuschaffen.“ Gegen eine Bewertung der Beschneidung als für die Gesundheit von Kindern schädlichen Brauch spricht nicht nur die Uneindeutigkeit der medizinischen Studien (s. o.), sondern auch und vor allem die Tatsache, dass die Zirkumzision bisher vom UN-Kinderrechtsausschuss nicht als gesundheitsschädlich gewertet wurde.
- Körperliche Integrität: Im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit wird bisweilen auch von körperlicher Integrität gesprochen, die durch die Beschneidung verletzt werde. Dabei wird von einem Begriff von Integrität ausgegangen, der von jüdischer und muslimischer Seite nicht geteilt wird. Nach dem Verständnis des Judentums und des Islam wird körperliche Integrität gerade erst durch die Beschneidung verwirklicht. Es bietet sich daher an, von Beschneidung neutral als körperlichem Eingriff zu reden, statt mit dem Verweis auf Integrität das Ergebnis der Argumentation schon vorwegzunehmen.
- Kindeswohl: Wenn im Falle eines nicht einwilligungsfähigen Kindes die Eltern oder eine andere Institution (z. B. die Schule) eine Entscheidung treffen, gilt immer, dass diese Entscheidung zum Wohle des Kindes getroffen werden soll. Gegner der Beschneidung verweisen nicht nur auf die möglichen körperlichen Schäden (s. o.), sondern auch auf die möglichen psychischen Folgen einer Beschneidung. Nach Aussage von Psychologen kann die Beschneidung posttraumatische Belastungsstörungen auslösen, und zwar nicht nur bei heranreifenden Kindern, sondern auch schon bei Säuglingen. Befürworter der Beschneidung verweisen hingegen auf die soziale Funktion der Beschneidung, die eine religiöse Identität ermöglicht. Sie erwähnen auch mögliche psychische Störungen unbeschnittener Kinder, die sozial ausgegrenzt würden. Psychische Störungen sind jedoch in vielen Fällen nicht monokausal verursacht, sondern das Ergebnis einer Vielzahl in Beziehung stehender Faktoren. Dass die Beschneidung zusammen mit anderen Faktoren eine psychische Störung auslösen kann, ist unbestritten. Ob hingegen unbeschnittene Männer in ihrer Gesamtheit weniger unter psychischen Problemen leiden als Männer, die in ihrer Kindheit beschnitten worden sind, ist nicht belegt. Die Frage, welche Verhaltensweise eher dem Wohl des Kindes entspricht, muss demnach offen bleiben.
- Religionsfreiheit: Gerade die Vertreter des Judentums und des Islam sowie die großen christlichen Kirchen in Deutschland sehen in dem Verbot der Beschneidung von Jungen eine Verletzung der Religionsfreiheit. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewähren die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und die Gewährleistung der ungestörten Religionsausübung. Das Bekenntnis zum Judentum kann nach jüdischer Lehre nicht von der Beschneidung getrennt werden. Das mögliche Verbot der Beschneidung verhindert zudem die Beheimatung des Heranwachsenden in der Religion seiner Eltern. Ebenso ist leicht einsehbar, dass mit der Verhinderung der Beschneidung die Ausübung der jüdischen und der muslimischen Religion nicht mehr ungestört realisierbar ist, da in beiden Religionen die Beschneidung eine bei allen Unterschieden zentrale Rolle spielt (s. o.).
Im Falle der oft ebenfalls Beschneidung genannten Genitalverstümmelung bei Mädchen besteht ein gesellschaftlicher Konsens, dass die körperliche Unversehrtheit unverhältnismäßig stark beeinträchtigt ist: Ein solcher Eingriff kann daher durch kein Recht auf Religionsfreiheit erlaubt werden. Bei der Zirkumzision von Jungen hingegen ist die Abwägung von körperlicher Unversehrtheit und Religionsfreiheit umstritten, da die Einschätzung der möglichen Komplikationen unterschiedlich ausfällt (s. o.).
- Erziehungsrecht der Eltern: Nach Art. 6 Abs. 2 GG haben Eltern das Recht und die Pflicht zur Erziehung: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Die Pflicht und das Recht der damit verbundenen Personensorge (BGB § 1626 Abs. 1) schließt nach mehrheitlicher juristischer Meinung auch die religiöse Erziehung mit ein, da diese Teil der in Art. 4 GG erwähnten Religionsfreiheit ist. Ebenso bringt Art. 14 der UN-Kinderrechtscharta Religionsfreiheit und elterliches Erziehungsrecht zusammen: „Die Vertragsstaaten achten die Rechte und Pflichten der Eltern ..., das Kind bei der Ausübung dieses Rechts in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise zu leiten.“
Ein generelles Verbot der Beschneidung an nicht einwilligungsfähigen Jungen ist eine Einschränkung der elterlichen Personensorge, die nur bei gewichtigeren Verstößen anderer Grundrechte hinzunehmen ist. Eine grundsätzliche Bestreitung der religiösen Dimension des Personenrechts, wie sie von einigen religionskritischen Stimmen gefordert wird, würde auch die Taufe religionsunmündiger Kinder tangieren.
- Gesellschaftlicher Frieden: Auf die Möglichkeit der Gefährdung des öffentlichen Friedens durch ein Verbot der Beschneidung an nicht einwilligungsfähigen Jungen weist u. a. die Stellungnahme des Koordinationsrates der Muslime vom 4. Juli 2012 hin. Der Koordinationsrat betont, dass die Judikative sich in der Rechtsprechung „an dem breit angelegten Konsens zu orientieren“ habe, um so den „Schutz der Menschenwürde, die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Friedens und nicht zuletzt die Freiheit der Religionsausübung“ zu gewährleisten.
- Kriminalpolitische Überlegungen: Der Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD, Hans Michael Heinig, bezeichnete die Entscheidung des Kölner Landgerichts u. a. als „kriminalpolitisch verfehlt“. Es sei unsinnig, den Arzt zu kriminalisieren, der die Beschneidung durchführt (siehe epd-Bericht vom 28.6.2012). In der Tat ist damit zu rechnen, dass bei einem Verbot die Zahl der Beschneidungen nicht nachlässt, sondern diese entweder im Ausland oder illegal durchgeführt werden. Dies erhöht zugleich die Gefahr, dass fachlich nicht ausgebildete Personen die Beschneidung vornehmen.
- Historische Verantwortung Deutschlands: Heinig sieht neben der kriminalpolitischen Dimension auch religionspolitische Bedenken gegen ein Verbot der Beschneidung. Im Hinblick auf die jüdische Beschneidungspraxis fragt er an: „Welches Signal geht denn in Richtung Judentum aus, dass ausgerechnet in Deutschland nun ein strafrechtliches Beschneidungsverbot bestehen soll?“ Ebenso verweist selbst der Beschneidungskritiker Reinhard Merkel, Strafrechtler in Hamburg und Mitglied des Deutschen Ethikrats, darauf, dass in Deutschland gegenüber jüdischen Belangen eine besondere Sensibilität gelte (Süddeutsche Zeitung, 25./26.8.2012, 12). Auf jüdischer Seite wird in der Tat auf dem Hintergrund der Geschichte Deutschlands die Debatte um die Beschneidung kommentiert. So merkt der ehemalige Oberrabbiner von Israel, Israel Meir Lau, Überlebender des KZ Buchenwald, an: „Es ist erstaunlich zu sehen, dass Deutsche ihre Sensibilität gegenüber dem Weinen eines Babys entdeckt haben. Ich habe diese Erfahrung in meiner Kindheit nicht gemacht“ (Süddeutsche Zeitung 25./26.8.2012, 7).
- Interreligiöse Diskussionen: In der Debatte wird bisweilen darauf hingewiesen, dass es innerhalb des Judentums und des Islam Bewegungen gibt, die die bisherige Praxis aus säkularer oder religiöser Sicht hinterfragen und eine Beschneidung im nicht einwilligungsfähigen Alter ablehnen (s. o.). Von Gegnern der Beschneidung wird dies als Beleg dafür genommen, dass auch nach den Regeln der beiden Religionen eine Beschneidung nicht in einem frühen Alter erfolgen muss, sondern später mit Einwilligung der Betroffenen selbst erfolgen kann. Richtig an diesem Argument ist, dass eine Änderung der bisherigen Praxis nur als Folge einer innerreligiösen Debatte erfolgen kann. Eine Definition des Judentums und des Islam sowie ihrer Bestimmungen können nur von ihren jeweiligen Vertretern, nicht jedoch von außen erfolgen. Der Hinweis auf abweichende Meinungen innerhalb der Religionen ist jedoch nur bedingt aussagekräftig, da diese Meinungen nur von einer sehr geringen Anzahl von Gläubigen vertreten werden.
Vorschläge zur Lösung des Konflikts
Das Urteil des Kölner Landgerichts hat nicht nur eine auf unterschiedlichsten Ebenen ausgetragene Debatte um die Beschneidung entfacht, diese hat zudem mehrere Vorschläge zur Lösung des Konflikts hervorgebracht. Konsens besteht darin, dass die religiös begründete Beschneidung von nicht einwilligungsfähigen Jungen gesetzlich geregelt werden muss, wie es z. B. in Finnland und Schweden der Fall ist. Die in der bisherigen Debatte vorgetragenen Vorschläge lassen sich drei verschiedenen Modellen zuordnen:
1. Verbot der Beschneidung an nicht einwilligungsfähigen Jungen: Analog zum Urteil des Kölner Landgerichts wird vor allem von medizinischer und psychologischer Seite ein grundsätzliches Verbot der Beschneidung gefordert. Die Befürworter dieses Verbots begründen das vor allem mit den als hoch eingeschätzten physischen und psychischen Folgen einer Beschneidung.
2. Verbot der Beschneidung an nicht einwilligungsfähigen Jungen bei gleichzeitiger Straffreiheit für Arzt und Eltern unter bestimmten Voraussetzungen: Zu diesen Bedingungen gehört unter anderem, dass die Beschneidung religiös begründet wird, beide Eltern eingewilligt haben und die Beschneidung fachgerecht durchgeführt wird, also durch einen Arzt oder einen ausgebildeten und anerkannten Mohel. Zudem wird bisweilen der Einsatz schmerzlindernder Maßnahmen zur Bedingung gemacht. Der Deutsche Ethikrat fordert außerdem die Anerkennung eines entwicklungsabhängigen Vetorechts des betroffenen Jungen. Vorbild dieser Regelung sind die gesetzlichen Regelungen zur Abtreibung (§§ 218ff StGB), die den Schwangerschaftsabbruch verbieten, aber im Rahmen der Fristenregelung straffrei stellen. Im Hinblick auf die Beschneidung würde dieses Modell Juden und Muslimen zwar erlauben, eine Beschneidung straffrei vornehmen zu lassen. Ein entsprechendes Gesetz würde dennoch implizieren, dass die Beschneidung keine neutrale, sondern eine grundsätzlich abzulehnende, weil verbotene Handlung sei. Damit würde ein negatives religionspolitisches Signal ausgesendet, das den gesellschaftlichen Frieden infrage stellen würde.
3. Erlaubnis der Beschneidung unter bestimmten Voraussetzungen: Mit einer über Straffreiheit hinausgehenden Erlaubnis der Beschneidung würden die erwähnten negativen Implikationen wegfallen. In diese Richtung weist die Mehrzahl der kirchlichen Stellungnahmen, die in den letzten Monaten zum Thema veröffentlicht wurden. Die politischen Initiativen von Bundestag und Bundesregierung gehen in dieselbe Richtung. Die Bundestagsresolution zur rechtlichen Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen vom 19. Juli 2012 hatte die Bundesregierung dazu aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, „der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist“. Die Bundesregierung hat dazu am 25. September 2012 Eckpunkte für ein Gesetz vorgelegt, das einen Zusatz im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 1631d) vorsieht. Auf dieser Linie liegt auch der am 10. Oktober 2012 vom Bundeskabinett angenommene und am 12. Dezember vom Bundestag bestätigte Gesetzentwurf des Justizministeriums. Demnach soll die Personensorge auch das Recht einschließen, „in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll“. Ebenso wird auf die Notwendigkeit einer Schmerzbehandlung hingewiesen. Eine Beschränkung auf religiös begründete Beschneidungen sehen die Eckpunkte für das Gesetz bzw. der Gesetzentwurf dagegen nicht vor. Eingeschränkt wird das Recht nur durch die Gefährdung des Kindeswohls. Neben Ärzten können nach dem Gesetzentwurf auch von den Religionen ausgebildete Fachleute die Beschneidung bei bis zu sechs Monate alten Jungen vornehmen.
Gerhard Duncker, Bielefeld, in Zusammenarbeit mit Ralf Lange-Sonntag, Vicco von Bülow und Ralph van Doorn