Besessenheit

Als Besessenheit werden religiöse Extremzustände gedeutet, die in vielen Kulturen und Religionen vorkommen. Religionswissenschaftlich wird damit ein ungewöhnliches Verhalten in einem veränderten Bewusstseinszustand beschrieben, wobei sich die betroffene Person als durch einen Geist oder eine Gottheit besessen und gesteuert erlebt. Legt man einen weiten Besessenheits-Begriff zugrunde, schließt er positiv-erwünschte Formen ein – die Propheten des Alten Testaments etwa waren erfüllt vom Geist Jahwes. Davon werden negative Formen unterschieden, die auf die zerstörerische Einwirkung dämonischer Mächte zurückgeführt werden.

Besessenheits-Phänomene sind im Spiritismus der afrikanischen, asiatischen und lateinamerikanischen Kulturen (Passie 2011), in den weltweiten Pfingstgemeinden (Währisch-Oblau 2011) sowie in Europa im Milieu alternativer Lebenshilfe (Pöhlmann 2011) recht häufig zu beobachten. In Brasilien sind etwa spiritistische Praktiken und Ideen so weit verbreitet, dass ein Drittel aller privaten Krankenhäuser von Spiritisten geleitet wird. Aufgrund seiner bürgerlichen Werte und der Betonung eines theoretischen Studiums, so die Anthropologin Anna Theissen (2006), sei dort der Spiritismus als ein moderner Besessenheitskult intellektuell attraktiv für die städtische Ober- und Mittelschicht. Voraussetzung für eine solche Deutung des Erlebten ist ein duales Weltbild mit einer klaren Abgrenzung zwischen Gut und Böse, das auch den Schamanismus und die charismatische Frömmigkeit prägt. Vor diesem Hintergrund unterscheidet Moshe Sluhovsky (2011) in seinem Übersichtsartikel dementsprechend heilige von dämonischer Besessenheit.

In weiten Teilen der gegenwärtigen europäischen Esoterik-Szene wird (negative) Besessenheit als Folge unsachgemäß angewandter spiritistischer Techniken eingeordnet, während sachgemäßes Vorgehen wie etwa das Channeling hilfreiche Kommunikation mit jenseitigen Wesen ermögliche.

Besessenheit in der katholischen Kirche und in der Pfingstbewegung

Außer in stärker in Stammeskulturen verwurzelten Gesellschaften wie etwa in Brasilien gibt es zwei christliche Milieus, in denen Besessenheit eine wichtige Rolle spielt: in Teilen der katholischen Kirche und in der Pfingstbewegung.

In der weltweiten katholischen Kirche sind exorzistische Praktiken weit verbreitet – nicht nur in Lateinamerika, Afrika und Asien. In Frankreich werden allein im Großraum Paris jährlich etwa 1500 Exorzismen durchgeführt, und in Italien soll es über 300 offizielle Diözesan-Exorzisten geben. Der von der Diözese Rom dazu bestellte Pater Gabriele Amorth berichtet, er habe in seinem Leben bereits über 40 000 Teufelsaustreibungen durchgeführt (Singer 2006). In der katholischen Kirche wurde nach langjährigen Diskussionen im Jahr 1999 ein neuer Exorzismus-Ritus veröffentlicht, der seit 2009 auch in offizieller deutscher Übersetzung inklusive einer pastoralen Handreichung vorliegt. Gegenüber dem klassischen Ritual von 1614, das noch 1976 in Franken bei falscher Indikation insgesamt 67 Mal an der Studentin Anneliese Michel vollzogen wurde, die daraufhin an Unterernährung und Entkräftung starb, enthält die aktuelle Fassung mehrere bedeutsame Verbesserungen. Der Exorzist soll vor der Durchführung des Rituals Fachleute aus Psychiatrie und Psychotherapie hinzuziehen. Die personale Ansprache und Erfragung des Namens der Dämonen ist in dem erneuerten Ritual weggefallen. Damit gewinnt der überarbeitete Ritus eher den Charakter einer Liturgie zur Befreiung vom Bösen, in der dem leidenden Menschen geistliche Hilfe und Unterstützung zugesprochen wird.

Auch im Kontext pfingstkirchlicher und charismatischer Frömmigkeit ist Besessenheit ein wichtiges Thema (Kick & Hemminger 2003, Lemhöfer 2006). Mit der Gebetspraxis eines „Befreiungsdienstes“ von okkulter Belastung und dämonischer Besessenheit soll die Macht widergöttlicher Dämonen gebrochen und Belastete endgültig von Fehlverhalten befreit werden (Hemminger 2003). Allerdings liegt hier häufig eine Dämonisierung des Weltbildes vor, die dazu führt, die eigene Verantwortung in eine Geisterwelt zu verlagern, sich als hilfloses Opfer zu verstehen und Fehlverhalten zu externalisieren. Hier sind einfühlsame und religiös kundige Psychotherapeuten gefragt, diese Abwehrmechanismen zu erkennen und Hilfestellungen zur Entwicklung einer reifen Religiosität zu geben (von der Stein & Ruff 2010).

Besessenheit in der transkulturellen Psychiatrie

Infolge der Migrationsströme der letzten Jahrzehnte finden heute auch in Europa traditionelle Rituale statt, in denen Besessenheit vorkommt – häufig allerdings in abgeschwächt-verwestlichten und damit „domestizierten“ Formen (Versteeg & Droogers 2007). Gerade unter Migranten sind die Vorstellung von der Existenz und Wirksamkeit böser Geister und der Wunsch nach entsprechenden Heilritualen verbreitet (Wohlfart & Özbek 2006; Strasser 2006). Nach traditionell-islamischer Auffassung wirken gute und böse Geister („Dschinnen“) auf den Menschen ein; viele neurologische und psychiatrische Erkrankungen werden auf die Besessenheit mit einem bösen Geist zurückgeführt (Assion 2004). In der ethnopsychoanalytischen Tradition der transkulturellen Psychiatrie wird die Besessenheit manchmal mit einem Rollenspiel verglichen und der Psychoanalyse gegenübergestellt. Beide Techniken versuchen dabei nicht, den psychischen Konflikt als Grund für seelische Störungen unter Kontrolle zu bringen. Vielmehr bieten sie Deutungen und Handlungen an, ihn ins Symbolische zu verschieben und dadurch die negativen Symptome aufzuheben (Ndoyé 2006). Bei einer entsprechenden kulturellen Adaptation soll es der symbolische Umgang mit den Phänomenen ermöglichen, die Wirkmacht von Geistern zu relativieren und die Eigenverantwortung für das Einschätzen und Handeln zu stärken. Dieses Vorgehen entspricht einer systemischen Sichtweise, die alle relevanten Einflussgrößen in die Behandlung einzubeziehen versucht.

Die Bedeutung einer Differentialdiagnose

Aus fachlicher Sicht werden heute Fremdeinwirkungen einer transzendenten Macht („Geist“) als Grund für ein früher als „hysterisch“ klassifiziertes Verhalten zumeist bestritten. Vielmehr werden innerweltliche Gründe wie elektrische Fehlentladungen im Gehirn (Epilepsie) oder starke Imaginationen (Trance) angeführt. Eine „aufgeklärte Psychotherapie“ soll zur Entdämonisierung seelischer Konflikte führen (Picker 2009). Allerdings rechnen die postmaterialistischen Ansätze der Transpersonalen Psychotherapie mit einem informationshaltigen Kosmos, dessen Botschaften zu entschlüsseln seien.

Psychodiagnostisch können veränderte Bewusstseinszustände ohne Krankheitswert wie Glossolalie oder Channeling, die in bestimmten Gemeinschaften sozial erwünscht sind, von krankhaften Formen unterschieden werden. Es gibt eine weltweite, kulturell institutionalisierte Nutzung veränderter Bewusstseinszustände. Im christlichen Kontext spricht man dann allerdings anstelle von Besessenheit von Ergriffenheit. Krankheitswertig können solche Zustände werden, wenn die Betroffenen darunter leiden und sich selbst und anderen schaden.

Religionswissenschaftler kritisieren, dass die häufig erfolgte Pathologisierung von Besessenheit der Abwehr der in veränderten Bewusstseinszuständen zum Ausdruck gelangenden Inhalte diene. Dabei werde übersehen, dass solche Zustände und ihre kultische Verarbeitung für eine Gesellschaft wie für Einzelne auch therapeutische und ästhetische Aspekte enthalten. Mit ähnlicher Intention plädieren auch Psychotherapeuten für eine Entpathologisierung veränderter Bewusstseinszustände (Passie 2011, Vaitl 2012). Erst dann könne ihre psychologische Funktion verstanden werden.

Ob ein Besessenheits-Phänomen nun im Rahmen eines spiritistischen, eines christlich-fundamentalistischen oder eines transkulturell-systemischen Weltbildes gedeutet wird: Grundlegend wichtig ist eine klinisch-psychiatrische Differenzialdiagnose. Durch den Zuwachs an psychiatrischem Wissen können heute manche epileptischen Anfälle, die sowohl subjektiv als auch von außen betrachtet als Besessenheit wahrgenommen werden, sachgemäß als eine hirnphysiologische Störung angesehen werden. Dadurch sind sie erfolgreich behandelbar. Die Abgrenzung zu einer dissoziativen Störung, d. h. der Abspaltung von Bewusstseinsanteilen, ist jedoch schwieriger vorzunehmen, weil diese Störung häufig gemeinsam mit anderen Krankheiten oder simuliert als „False Memory Syndrome“ auftritt (Dammann & Overkamp 2011). Dennoch führt das aktuelle Störungsverzeichnis psychischer Krankheiten (ICD-10) unter der Kategorie F44.3 die Trance- und Besessenheitsstörung mit folgenden Merkmalen: zeitweiser Verlust der persönlichen Identität und der vollständigen Wahrnehmung der Umgebung, zumeist begleitet von (unfreiwilligen) wiederholten Folgen von eingeschränkten Bewegungen, Stellungen und Äußerungen.

Aktuellen Befunden zufolge sind 1 Prozent der Allgemeinbevölkerung und 5 Prozent der psychiatrischen Patienten von einer dissoziativen Identitätsstörung betroffen (Gast & Rodewald 2012).

Als „diagnostisches Dilemma“ beschreibt Vaitl (2012) das Fehlen einer einheitlichen Konzeptualisierung von dissoziativen Phänomenen und Störungen. Der Psychotherapeut klassifiziert Besessenheit und Trance als Sonderformen dissoziativer Bewussteinsstörungen. Anders als bei der dissoziativen Identitätsstörung sei die Persönlichkeit im Besessenheitszustand nicht in andere Persönlichkeitsteile aufgelöst. Derartige Zustände kommen je nach Kulturkreis unterschiedlich häufig vor, müssen aber in jedem Fall von organischen oder wahnhaften Störungen sorgfältig abgegrenzt werden.

Für eine genauere Einschätzung dieser Graubereiche sind empirische Studien unerlässlich. In einer Pilotstudie hat Krenzlin (2007) sechs in Deutschland exorzistisch Tätige zu ihren Krankheits- und Heilungskonzepten befragt. Alle standen in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit Ärzten und Therapeuten. Nur ein Interviewpartner benutzte den Terminus „Besessenheit“, während die anderen von „Besetzung“ oder „dämonischer Bindung“ sprachen. Bemerkenswert: Vier der sechs Befragten führten die Heilung auf religiöse Faktoren zurück. In einer Literaturstudie zu deutschsprachigen ärztlichen Beurteilungen von Besessenheit der letzten beiden Jahrhunderte wurden 35 wissenschaftliche Publikationen gefunden (Demling & Thierauf 2010). Während die Mehrzahl der Ärzte die geschilderten Phänomene rein psychopathologisch einordnete – zumeist als „Hysterie“ –, sahen immerhin ein Siebtel der Forscher eine Einflussnahme äußerer, „dämonischer“ Mächte auf den Menschen, die auch ärztliches Handeln erfordere, als real gegeben an. Die Psychiater Demling und Thierauf empfehlen, zukünftig religiöse Aspekte, die sich auch in subjektiven Krankheitsmodellen ausdrücken können, stärker zu beachten.

Ein ausgewiesener Experte auf diesem Gebiet, der Psychiater und Jesuit Ulrich Niemann, berichtete, dass er in seinen letzten 25 Jahren Berufstätigkeit (nur) 15 Menschen fachlich-seelsorglich begleitet habe, die sich als vom Bösen überwältigt erlebten. Dass sich in über 90 Prozent der Anfragen andere Ursachen ergeben hätten, zeige, wie wichtig eine gründliche Psychodiagnostik sei, die allerdings die religiösen Prägungen und Überzeugungen sorgfältig mit aufnehmen müsse. Grundsätzlich müsse seitens der Kirchen zurückhaltend und sehr vorsichtig mit der diagnostischen Kategorie „Besessenheit“ umgegangen werden.

In den Medien wird manchmal der Eindruck transportiert, Besessenheit sei ein viel häufigeres Phänomen. Nach Recherchen des Journalisten Marcus Wegner (2009) finden täglich etwa ein Dutzend Teufelsaustreibungen in Deutschland statt, zum größten Teil außerhalb der verfassten Kirchen. Auch wenn diese Schätzungen einer empirischen Grundlage entbehren und stark übertrieben sein dürften: Das Phänomen „Besessenheit“ erfordert stärkere interdisziplinäre Bemühungen, um Menschen in der Auseinandersetzung mit „bösen“ Kräften besser begleiten zu können.

Einschätzung

Vor dem Hintergrund interkultureller Seelsorge und einer systemisch-psychotherapeutischen Sichtweise wird das Phänomen Besessenheit in einigen Seelsorgekonzepten aufgegriffen und auf unterschiedliche Weisen integriert (Thurneysen, Scharfenberg, Josuttis, Zimmerling). Der Umgang mit dem Bösen bedarf jedoch einer stärkeren systematisch-theologischen Reflexion (Rust 2007).

Ein weiteres Problem: Verschiedene kulturelle Traditionen und Prägungen führen zu Konflikten zwischen den europäischen Kirchen und ihren Partnern in Afrika, Asien und Lateinamerika (Edwards-Raudonat 2011, Quaas 2011). Eine Expertenkommission der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM) hat 2012 ihren Gliedkirchen in Afrika und Asien empfohlen, den Befreiungsdienst in ihre Seelsorgepraxis zu integrieren, was aus europäischer Sicht unvorstellbar ist. Auch hier besteht theologischer Klärungsbedarf.

Aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht sind kulturverstehende Ansätze entwickelt worden, die das religiöse Überzeugungssystem in die Behandlung mit einbeziehen. Eine enge Kooperation von medizinischen, psychotherapeutischen und kirchlichen Fachleuten ist für eine angemessene Begleitung unerlässlich. Die Voraussetzungen dafür haben sich in den letzten Jahren verbessert. Es geht darum, jenseits einer reduktionistischen Psychologisierung und einer vorschnellen Dämonisierung in interdisziplinärer Zusammenarbeit konkrete Lebenshilfen zu erarbeiten. Erforderlich ist eine sowohl bodenständige wie auch religionssensible Psychologie, die den Einzelfall zu verstehen versucht. Betroffenen ist weder durch die Wegrationalisierung der dämonischen Dimension noch mit Verantwortungs-Projektion geholfen.

Generell gebührt dem Bösen keine übertriebene Aufmerksamkeit – nicht umsonst kommt es in keinem kirchlichen Glaubensbekenntnis vor. Ein erster Schritt kann darin bestehen, die Wirklichkeit der Engel, also der guten Mächte Gottes, wiederzuentdecken (Zimmerling 2001). Martin Luther hat noch täglich in seinem Morgen- und Abendsegen gebetet: „Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.“ Das Gebet kann helfen, der Faszination der dämonischen Welt zu entgehen.


Michael Utsch


Literatur

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