Bewusstseinskontrolle

Immer wieder wird gegenüber neuen religiösen Bewegungen der Vorwurf erhoben, sie würden unter Anwendung bestimmter „Psychotechniken“ ihre Mitglieder seelisch manipulieren, ja sogar programmieren und damit gegen ihren Willen beeinflussen und steuern können. Häufig stehen psychologische Techniken wie Hypnose und Trance unter dem Verdacht, als hilfreiche Werkzeuge für eine „Gehirnwäsche“ zu dienen. Manche neueren psychologischen Lern- und Kommunikationsmethoden wie das „Neurolinguistische Programmieren“ (NLP) erwecken den (falschen) Eindruck, durch bestimmte Tricks und Techniken Macht über ein Gegenüber zu erhalten. Können die Aufmerksamkeit, das Denken und Handeln eines Menschen fremdgesteuert werden – ist Bewusstseinskontrolle möglich?

Veränderte Bewusstseinszustände

Obwohl das Bewusstseinskonzept vieldeutig und umstritten ist, können Medizin und Psychologie verschiedene Zustände von Bewusstheit definieren. Dabei wird von einer Skala der Aufmerksamkeitsgrade ausgegangen, die von überklarer Bewusstheit über normale Wachheit und verschiedene Dämmerzustände zur völligen Bewusstlosigkeit reicht. Erwiesenermaßen bestehen Zusammenhänge zwischen dem Bewusstsein und einem funktionierenden Gehirn: Mangelhafte Versorgung der Hirnrinde durch Sauerstoff führt z. B. zu Bewusstlosigkeit, Verletzung oder Vergiftung des Gehirns zu verschiedenartigsten Sonderphänomenen im Erleben. Trotz der rasanten Fortschritte in den Neurowissenschaften ist bis heute das Bewusstsein jedoch nur begrenzt zu verstehen. Die Zusammenschau neurobiologischer Fakten und philosophischer Analysen macht deutlich, dass die einzigartige neuronale Netzwerkstruktur einer Person deren Sinngebung und Bedeutungsfindung trägt (Fuchs 2008). Dennoch entzieht sich subjektives Erleben nach wie vor einer rein naturwissenschaftlichen Erklärung.

Veränderte Bewusstseinszustände können willkürlich herbeigeführt werden, etwa in der Askese oder durch die Einnahme psychoaktiver Substanzen (Vaitl 2012, 205ff). Seit alters hat sich die rhythmische Stimulation zum Erreichen veränderter Bewusstseinszustände bewährt. Seien es die Trommelschläge bei einem schamanischen Ritual oder die Kreisbewegungen beim Tanz der Derwische – stets berichten die Teilnehmer solcher Veranstaltungen von Veränderungen im Selbsterleben. Ein Trance-Zustand wird psychologisch durch die Einengung der Wahrnehmung sowie stereotype Verhaltensweisen oder Bewegungen definiert, die als außerhalb der eigenen Kontrolle erlebt werden.

Die im westlichen Kulturkreis bekannteste Methode, in einen veränderten Bewusstseinszustand zu geraten, ist die Hypnose. Neuere Forschungen haben ergeben, dass die meisten Menschen suggestiv beeinflussbar sind, die Hypnotisierbarkeit aber mit zunehmendem Lebensalter abnimmt. Besonders hoch ist sie bei Kindern und Jugendlichen im Alter zwischen 5 und 16 Jahren. Früher ging man von der falschen Vorstellung aus, dass die suggestive Kraft des Hypnotiseurs Phänomene wie fremdgesteuertes Verhalten herbeiführen könne. Unter Hypnose wird heute eine erlernbare, mehr oder weniger ritualisierte Kommunikationsform zwischen Klient und Hypnotiseur verstanden, die ein instruiertes Verhalten hervorruft. Voraussetzung dafür ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen diesen beiden Personen – gegen seinen Willen kann man nicht hypnotisiert werden.

Von induzierten Bewusstseinsveränderungen sind krankheitsbedingte Ursachen, z. B. ein epileptischer Anfall, zu unterscheiden. Seelische Beeinflussung bis hin zur Abhängigkeit ist leichter möglich bei geschwächter körperlicher und seelischer Widerstandskraft, die zu einer verminderten Kritikfähigkeit führt. Eine Herabsetzung natürlicher Grenzen kann durch Schlafentzug, Fasten, bestimmte Körperhaltungen und dergleichen erreicht werden, durch eine Beeinflussung durch Umweltbedingungen (Vaitl 2012). Noch häufiger wird eine Milieu- und Sozialkontrolle eingesetzt, die Beeinflussung durch gezielte Beziehungsgestaltung, die oft subtil durch Gruppenprozesse gesteuert wird. Die Bedeutung der Gruppe („peer group“) ist besonders im Jugendalter hoch. Deshalb soll ein kurzer Blick auf die Entwicklungspsychologie der Religiosität die Wechselwirkungen zwischen Gruppeneinbindung und Identitätsentwicklung verdeutlichen (Utsch 2009).

Entwicklungspsychologie der Religiosität

Entwicklungspsychologische Studien haben sowohl lebensdienliche als auch belastende Wirkungen von Religiosität identifiziert. Hochreligiöse Jugendliche, die also Religion und Spiritualität als persönlich bedeutsam einschätzten, griffen seltener zu Drogen und Alkohol, wurden seltener delinquent und nahmen die Entwicklungsaufgabe der sexuellen Intimität später in Angriff. Sie waren stärker an Tugenden der Selbstkontrolle und Leistungsorientiertheit gebunden, weniger aggressiv und stärker prosozial eingestellt. Allerdings belegen viele Erfahrungsberichte ehemaliger Mitglieder religiöser Intensivgruppen, dass sich das Verhältnis von Bewältigungsnutzen und Unterdrückungserleben im Laufe der Gruppenzugehörigkeit massiv zum Negativen hin verändert hat (Hemminger 2003). Diente die Gruppenidentität zunächst der Bewältigung einer Lebenskrise, wuchs im Laufe der Zeit das erlebte Ausmaß von Unterdrückung so extrem, dass der Ausstieg unvermeidlich wurde.

Bis heute werden bei Studien die gravierenden Unterschiede zwischen einem in einer religiösen Gruppe aufgewachsenen Mitglied und einem Konvertiten zu wenig berücksichtigt. Der Veränderungsprozess bei einem zeitlebens von einer neureligiösen Gemeinschaft geprägten Mitglied scheint um ein Vielfaches schwieriger zu sein als der Ausstieg eines Konvertiten.

Der Übersichtsartikel von Bucher und Oser (2008) weist ausdrücklich auf problematische religiöse Entwicklungsverläufe hin. Häufig ziehe der Beitritt zu religiösen Intensivgruppen ambivalente Wirkungen nach sich. Durch ein religiös-spirituell verändertes Selbstbild konnten manche neuen Mitglieder positive psychische Effekte durch die Gruppenzugehörigkeit erzielen. Das intensive Zugehörigkeitsgefühl, klare Wert- und Handlungsorientierungen sowie das in der Gruppe vermittelte Sinndeutungsmodell dienten manchen labilen Menschen als Bewältigungshilfe. Allerdings können Entwicklungsverläufe auch gestört und blockiert werden, wenn Personen „mit einer Gruppe symbiotisch verschmelzen, sich blind einem Meister unterordnen, ihre Individualität aufgeben und ein dualistisches Weltbild entwickeln, gemäß dem alle Außenstehenden moralisch verwerflich sind und in der baldigen Apokalypse zugrunde gehen“ (Bucher/Oser 2008, 155). Weil im Kontext neuer religiöser Bewegungen besonders derartige sozialpsychologische Beeinflussungstechniken bedeutsam sind, werden sie im Folgenden näher dargestellt.

Sozialpsychologische Beeinflussungstechniken

Wirkungen und Funktionen einer „fanatischen Gemeinschaft“ hat Hansjörg Hemminger (2003, 228ff) ausführlich beschrieben. In einer religiösen Intensivgruppe wehre das Mitglied seine Ängste ab, indem es individuelle Freiheit gegen kollektive Sicherheit eintausche. Eine fanatische Gruppe lege größten Wert auf die soziale Einheit. Die Gruppenkohäsion sei stark und die gegenseitige Verantwortung hoch, und wer dazugehöre, habe keine Vereinsamung zu fürchten. Der persönliche Nutzwert an Bindungssicherheit und Sinnorientierung kann so hoch sein, dass bereitwillig Freiheitseinschränkungen in Kauf genommen werden.

Bernhard Grom (2007) wägt ab, ob die Mitgliedschaft in einer spirituellen Gruppe eher eine Ressource oder eher einen Risikofaktor bedeute. Als individuelle Dispositionen für den Eintritt in eine spirituelle Gruppe führt er Sinnsuche, Unzufriedenheit mit dem Materialismus, Orientierungslosigkeit und persönliche Krisen an. Diese Motive gewichtet der bekannte Religionspsychologe höher als gruppenspezifische Beeinflussungs- und Manipulationstechniken.

Prominenteste Vertreter und Protagonisten entsprechender Theorien von „Gehirnwäsche“ sind die amerikanischen Forscher Margaret Singer und Robert Lifton (1997). Dass mithilfe seelischer Beeinflussungsmethoden Fühlen, Wollen und Denken eines anderen Menschen nachhaltig verändert werden könnten, ist ein weitverbreitetes Vorurteil. Der Begriff „Gehirnwäsche“ (brainwashing) erlangte vor 50 Jahren durch einen amerikanischen Journalisten Bekanntheit, der über die Folterungen von Kriegsgefangenen des Koreakrieges in den Umerziehungslagern chinesischer Kommunisten berichtete. Auch in anderen geschlossenen Gruppen wie Gefängnissen, früheren psychiatrischen Krankenhäusern oder Klöstern würden „Bewusstseinskontrolle“ (mind control) oder „erzwungene Überzeugung“ (coercive persuasion) angewendet, die als Mixtur aus sozialem, psychologischem und physischem Druck wirksam sei. Der Psychologe und Ex-Moon-Anhänger Steven Hassan (1993) sprach von Bewusstseinskontrolle, die durch Informations-, Verhaltens-, Gedanken- und Gefühlskontrolle die ursprüngliche Identität einer Person verdränge und durch eine neue Identität überdecke. Eine derartige Kontrolle könne gezielt zur Veränderung von Selbstwahrnehmung, Überzeugungen und Verhaltensweisen eines Individuums eingesetzt werden.

Diese Auffassung ist jedoch aus heutiger Sicht nicht haltbar. Die Forschung weist auf die notwendige Voraussetzung eines physischen Elements wie Gefangenschaft hin, das ja bei neuen religiösen Bewegungen nicht vorhanden ist. Die Vorstellung einer übermächtigen Gruppenmanipulation entlastet zwar die Mitglieder, weil sie dann zu Opfern einer Verführung werden. Es wird dabei aber übersehen, dass sie der Gruppe freiwillig beigetreten sind und von ihr auch nicht völlig kontrolliert werden, denn viele verlassen die Gruppe ja wieder.

Warum lassen sich Menschen durch Intensivgruppen vereinnahmen?

Warum lassen sich trotzdem immer wieder Menschen von religiösen Intensivgruppen vereinnahmen? Durch die Arbeiten der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des Deutschen Bundestages hat sich das Erklärungsmodell der Kult-Bedürfnis-Passung durchgesetzt. Demnach können die Angebote religiöser Gemeinschaften Antworten auf individuelle und soziale Lebensprobleme und Sinnfragen bieten. Ob sich diese positiven Wirkungen allerdings wirklich einstellen, hängt vom Ausmaß der Passung zwischen dem jeweiligen Gruppenangebot mit seinen spezifischen Lehrinhalten, Strukturen und den vermittelten Erfahrungen auf der einen Seite und der individuellen Persönlichkeitsstruktur, bestimmt durch charakterliche Prägungen, biografische Erfahrungen und die aktuelle Lebenssituation, auf der anderen Seite zusammen.

Im Extremfall können eine radikale Ideologisierung in einer fanatischen Gemeinschaft, das ausschließliche Schwarz-Weiß-Denken und andere gruppendynamische Mechanismen bis zu religiös motivierter Gewalt führen. Aus psychiatrischer Sicht hat Kapfhammer (2008) die wahnhafte Religiosität in religiösen Gruppierungen am Beispiel von apokalyptischer Suizidalität und Gewalt beschrieben. Dabei führt er die Merkmale des charismatischen Führers mit seinen Methoden der Suggestion, Indoktrination und Kontrolle an, der mithilfe einer apokalyptischen Weltdeutung die Gruppenmitglieder bis zum Äußersten motivieren könne.

Neue religiöse Gruppierungen konstituieren sich in der Regel über eine charismatische Führerpersönlichkeit. Durch ihn oder sie erfährt die Gruppe ihre entscheidende ideologische Ausrichtung. Die damit verbundenen Phänomene einer autoritären Persönlichkeitsstruktur, faschistoider Dynamiken und fundamentalistischer Weltdeutungen sind in letzter Zeit präzise beschrieben worden (Grom 2007, 272-289). Bevorzugtes Steuerungsmittel ist der soziale Druck innerhalb einer Gruppe, der durch Verunsicherung der Mitglieder, Isolation und Kontrolle geschürt wird. Für das Ausmaß des sozialen Drucks gibt es ein ziemlich klares Erkennungsmerkmal: Die Autoritätshörigkeit einer Gruppe kann leicht daran abgelesen werden, wie mit sachlich vorgetragener Kritik umgegangen wird.

Die Gruppendynamik einer Gemeinschaft ist durch das Herbeiführen intensiver Gemeinschaftserlebnisse leicht steuerbar. Durch laute Musik und ein bestimmtes Setting kann das Erleben in der Gruppe so überwältigend wirken, dass Teilnehmer mit ihr symbiotisch verschmelzen und ihre Individualität zumindest zeitweise aufgeben. Pathologisierend wirkt Gruppenspiritualität auch dann, wenn strikt zwischen Insidern und Outsidern, zwischen Erleuchteten und Verlorenen, unterschieden wird. Aus der Gruppe verstoßen zu werden, wird manchmal sogar mit dem Sterben gleichgesetzt.

Besonders gefährlich ist eine apokalyptisch-endzeitliche Ausrichtung der Gruppe. Immer noch erschütternd ist der Massensuizid, bei dem Jim Jones, der Gründer des „Peoples Temple“, im Jahr 1978 über 900 seiner Anhänger im Urwald von Guyana in den Tod führte. Die Angehörigen des Sonnentempel-Ordens rechneten mit dem baldigen Weltuntergang, bevor es 1994/1995 zu 53 simultanen Suiziden in Kanada und der Schweiz kam. 1997 begingen 39 Mitglieder des UFO-Kults Heaven’s Gate durch Autoabgase Suizid. In der Regel findet bei solchen Gruppen ein totaler Rückzug aus der sozialen Umwelt statt. Man sieht sich einem universellen Bösen gegenüber, das in die soziale Außenwelt platziert wird. In fanatischen Gemeinschaften herrschen extreme Deutungen vor, sodass Mitglieder vor der Anwendung von Gewalt nach innen wie auch vor Terroranschlägen nach außen nicht zurückschrecken (Conzen 2005).


Michael Utsch


Literatur

Anton Bucher/Fritz Oser, Entwicklung von Religiosität und Spiritualität, in: Rolf Oerter/Leo Montada (Hg.), Entwicklungspsychologie, Weinheim 2008, 607-624
Peter Conzen, Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens, Stuttgart 2005
Thomas Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan, Stuttgart 2008
Bernhard Grom, Religionspsychologie, München 32007
Steven Hassan, Ausbruch aus dem Bann der Sekten. Psychologische Beratung für Betroffene und Angehörige, Reinbek 1993
Hansjörg Hemminger, Grundwissen Religionspsychologie, Freiburg i. Br. 2003
Hans-Peter Kapfhammer, Religiöser Wahn und wahnhafte Religiosität in religiösen Gruppierungen. Das Beispiel von apokalyptischer Suizidalität und Gewalt, in: Persönlichkeitsstörungen – Theorie und Therapie 12/2008, 123-136
Margret T. Singer/Jana Lalich, Sekten: Wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiederfinden können, Heidelberg 1997
Michael Utsch, Religiöse Identitätsbildung. Entwicklungspsychologische Überlegungen unter besonderer Berücksichtigung christlicher Sondergemeinschaften, in: Reinhard Hempelmann u. a., Religionstheologie und Apologetik, EZW-Texte 201, Berlin 2009, 47-62
Michael Utsch, Wenn Religiosität krank macht: Fakten und Folgerungen, in: ders. (Hg.), Pathologische Religiosität, Stuttgart 2012, 11-36
Dieter Vaitl, Veränderte Bewusstseinszustände. Grundlagen – Techniken – Phänomenologie, Stuttgart 2012