„Bist du heute bereit für die Ewigkeit?“ Religiöse und andere Gruppen werben im Umfeld des Kirchentags
Der evangelische Kirchentag ist seit jeher nicht nur ein Fest des Protestantismus. Auch Apokalyptiker und christliche Fundamentalisten, religiöse Klein(st)gruppen und überzeugte religiöse Individualisten werden wie von einem Magneten angezogen. Manchmal freundlich einladend, oft aber mit mahnendem Zeigefinger, mit bedrohlichen Bildern und Texten und zuweilen exklusiver und sehr spezieller Heilsgewissheit, wurden auf Hamburgs Straßen und vor den Veranstaltungsorten Massen an Flugblättern und Zeitschriften, Büchern und DVDs verteilt.
Vertraute Gäste sind die kleinen adventistischen Splittergruppen, denen man auch dieses Mal während des gesamten Kirchentags in der Innenstadt und auf dem Messegelände begegnen konnte. Die „Missionsgesellschaft zur Erhaltung und Förderung adventistischen Gedankengutes e.V.“ (www.mefag.de) verteilte in unüberschaubarer Menge das schon seit Jahrzehnten bekannte, klein gedruckte und kaum lesbare schwarz-rote Faltblatt „Fakten zur Zukunft“. Wesentlich bunter und materialreicher konnte man sich bei der „Internationalen Missionsgesellschaft der Siebenten-Tags-Adventisten Ref.“ (www.jesuskommtbald.de) sowie dem „Missionshaus Hahnenhof“ (www.missionshaus-hahnenhof.de) mit Büchern und DVDs eindecken; auf Faltblättern wurde zudem die nahende Endzeit aufgrund des im Papsttum entdeckten Antichrists berechnet.
Hatte man die adventistischen Weltuntergangspropheten am Rathausmarkt hinter sich gelassen, begegnete man auf dem Weg zum Hauptbahnhof an einem Schriftentisch der „Biblischen Christengemeinde“ aus Lübeck, die im August 2011 im Osten Hamburgs mit einer Zeltmission Aufsehen erregte, ansonsten aber in großer Distanz zur Ökumene und anderen christlichen Gemeinschaften ihr Eigenleben führt. Nur ein paar Schritte weiter drückten einem neopentekostale und charismatische Gemeinden und Organisationen Zettel in die Hand. So luden die „Pfingstgemeinde in Hamburg e.V.“, Mitglied im BFP, und die spanischsprachige „Movimiento Misionero Mundial“ (Hamburg) zu ihren Gottesdiensten ein. Und die konfessionell nicht gebundene, 2004 von der Evangelischen Allianz Hamburg ausgehende Initiative „Gemeinsam für Hamburg“ (www.gemeinsam-fuer-hamburg.de) bot mit dem Handzettel „Gott antwortet auf Gebet“ persönliche Segensgebete direkt auf der Straße an.
Ein besonderes Eigenleben führen wohl auch viele der christlichen Soloprediger, von denen mir einige von vergangenen Kirchentagen bekannt vorkamen. Quer durch die Innenstadt und in allen Fußgängerzonen traf man auf sie. Die einen hielten lange, lautstarke Bußpredigten und ließen sich von ihren Monologen auch durch – zuweilen durchaus wohlmeinende Zwischenrufe – nicht abbringen. Andere versuchten im persönlichen Kontakt zu missionieren, verteilten Faltblättchen von Schriftenmissionen (u. a. Missionswerk Werner Heukelbach; Nightlight – Jesus im Fokus; Verbreitung der Heiligen Schrift). Wieder andere verteilten im Selbstverlag Erstelltes. So brachten Andrej und Wiktor Schmidtgall „Gottes prophetische Sicht unserer Zeit“ und „Die Gebote Gottes“ unters Kirchentagsvolk, während Johannes Kirchhoff fragte: „Bist du heute bereit für die Ewigkeit?“ Kaum dass ich feststellte, diese Frage wohl nicht richtig beantworten zu können, lud mich eine nicht näher benannte Gruppe ein, „nach dem Beispiel der ersten Christen in verbindlicher Gemeinschaft zu leben“; doch als ich die in deren kleinem Heftchen „Über das Leben der ersten Christen“ angegebene Mail-Adresse anschrieb, wurde mir keine Antwort zuteil. Mancher hielt es nicht für nötig, dem Neugierigen mitzuteilen, wer hinter einem religiösen Reklamezettelchen stand. So erfuhr ich zwar: „Jesus macht alles neu“. Doch wer diese nicht unbedingt grundstürzende Einsicht hatte, kann man (vielleicht?) erfahren, wenn man sich an ein Postfach in Melsungen wendet.
Auch christliche Abtreibungsgegner verteilten, wie schon auf vielen Kirchentagen, ihre Flugblätter. Die in Weinheim angesiedelten „Christen gegen Abtreibung“ (www.abtreiber.com) veröffentlichten in ihrem Handzettel („Soviel du brauchst“) Namen und Adressen von etwa 45 Ärztinnen und Ärzten im Großraum Hamburg, bei denen man Abtreibungen durchführen lassen könnte. Darin die Aufforderung: „Bitte beten Sie vor der nächstgelegenen Praxis für eine abtreibungsfreie Hansestadt Hamburg.“ Unter gleicher Weinheimer Adresse war auch die „Initiative nie wieder e.V.“ (www.Babycaust.de) vertreten. Und die „Vereinigung zum Schutz schwacher und hilfloser Menschen“ behauptet auf ihrem Flugblatt, in Deutschland würde jede Minute ein ungeborenes Kind sterben müssen – also rund 525000. Nach amtlichen Statistiken ist diese Zahl allerdings um rund 500 Prozent zu hoch.
Aber auch nichtchristliche Aktivisten und Organisationen nutzten den Kirchentag. Zum Beispiel war in der Nähe des Hauptbahnhofs ein Stand der Falun-Gong/Falun-Dafa-Bewegung aufgebaut, an dem der religiöse Weg dieser Bewegung und ihre Situation in China dargestellt wurden.
Seit einiger Zeit fällt in Hamburg im Umfeld buddhistischer Veranstaltungen als einzelner Flugblattverteiler der Ingenieur (FH) Finn Anklam auf, der auf Englisch und auf Deutsch darüber zu informieren sucht, dass der Buddhismus, anders als in der öffentlichen Wahrnehmung, sich nicht durch „Wahrheit“ und „Frieden“ auszeichne, sondern dass eigentlich das Gegenteil der Fall sei.
Als geradezu überwältigend muss die Scientology-Organisation die Resonanz erlebt haben. So viele Besucherinnen und Besucher wie während des Kirchentags hat die Hamburger Niederlassung ansonsten vermutlich in einem gesamten Jahr nicht. Schon am Abend der Begegnung waren viele blaue Kirchentagsschals im Scientologen-Gebäude zu sehen, und auch „Der Weg zum Glücklichsein“ – auf einem kleinen Tisch bereitliegend – ging weg wie geschnitten Brot. Berichtet wurde mir allerdings auch von Anwerbungsversuchen bei ausländischen Kirchentagsbesuchern, die als sehr bedrängend und unverschämt empfunden wurden.
Auch Vertreter atheistischer bzw. laizistischer Positionen fanden auf dem Kirchentag ein Plätzchen zum Schriftenverteilen: So forderte „Die Linke“ auf Handzetteln eine „konsequente institutionelle Trennung von Staat und Kirche“. Und vor dem Abschlussgottesdienst wurde in Anlehnung an Bertolt Brechts Geschichten von Herrn K. unter der Überschrift „Kaum zu glauben. ‚Soviel du brauchst‘ – Fehlanzeige!“ eine großformatige, vierseitige „Zeitung von Herrn Keiner und anderen“ verteilt. Darin wird, anknüpfend an Karl Marx’ altbekanntes Verdikt der Religion als „Opium des Volkes“, christlichem Glauben und aller Religion per se unterstellt, den Menschen nicht zu helfen, sondern bestehende Herrschaftsverhältnisse zu zementieren und Ausbeutung zu legitimieren (www.herrkeiner.com).
Schließlich suchte auch der Berliner Hannes Müller als Gegner der Beschneidung Abnehmer für sein Faltblatt, in dem er Stellung gegen das 2012 verabschiedete Beschneidungsgesetz bezog und zu einer Demonstration nach Köln einlud. Als ich nach dem Abschlussgottesdienst im Hamburger Stadtpark – fast saß ich schon in der U-Bahn – auch noch mehrere Broschüren der „Zwölf Stämme“ in meinem Rucksack verstaute, da wusste ich: Ganz bestimmt ist mehr verteilt worden als nötig. Und dennoch fasziniert mich jedes Mal aufs Neue der große Einsatz vieler Einzelner und Gruppen, die oft in der ihnen entgegengebrachten Ablehnung eine Bestätigung sehen dürften, auf dem richtigen Weg zu sein und einer bösen, falschen, unerlösten Welt gegenüberzustehen. Ob es aber Kirchentagsbesucher gab, bei denen Drohbotschaften und antiökumenische Polemik wirklich gut angekommen sind? Ob jemand ganz anders und neu für die Ewigkeit bereit war? All dies wird wohl ein ewiges Geheimnis bleiben. Wenig geheimnisvoll aber ist, wo das meiste Verteilmaterial blieb: Prall gefüllt waren am Ende jedes Tages die großen Bäuche der Papiermülltonnen in Hamburg.
Jörg Pegelow, Pinneberg