Eben Alexander

Blick in die Ewigkeit. Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen

Eben Alexander, Blick in die Ewigkeit. Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen, Ansata-Verlag, München 2013, 253 Seiten, 19,99 Euro.

Seit Jahrzehnten erscheint Literatur über sogenannte Nahtodeserfahrungen (das unschöne Wort ist eine holprige Übersetzung des englischen Begriffs near death experiences). Wie kann es da sein, dass es im Jahr 2013 erneut ein Titel aus diesem Genre auf die internationalen Bestsellerlisten schafft, ja überhaupt das erfolgreichste Buch seiner Art zu werden scheint?

Mehrere Faktoren spielen hierfür zusammen: Der Autor ist Mediziner, noch dazu ein Gehirnspezialist, der nicht etwa – wie einst Dr. med. Raymond Moody für seine Bestseller und einige weitere Ärzte – die Grenzerfahrungen anderer gesammelt und verglichen hat, sondern der mit einem eigenen Erlebnis an der Schwelle des Todes aufwartet. Außerdem addiert sich sein Bericht nicht nur mehr oder weniger gleichförmig zu sonstigen Schilderungen, sondern hebt sich ein Stück weit davon ab: Eine Reihe typischer Elemente fehlt – nämlich alles, was ein intaktes Ich-Bewusstsein voraussetzen würde, sei es die rasche und doch intensive Lebensrückschau, sei es die Wiederbegegnung mit verstorbenen Verwandten und Freunden. Hinzu kommt, dass offenbar gerade deshalb seine Erfahrung besondere Tiefe gewinnen konnte – in Richtung einer transpersonalen Mystik. Und schließlich ist für das Buch das weltanschauliche Eintreten zugunsten einer spiritualistischen Perspektive charakteristisch, die sich nach Kräften von einem reduktionistischen Materialismus absetzt.

Letztgültige „Beweise“ für ein Leben nach dem Tod kann freilich auch Eben Alexander nicht liefern, obwohl er so tut, als seien seine Darlegungen und Deutungen nach allem Abwägen und Prüfen alternativlos. So betont er zwar intensiv, dass bei ihm tagelang der Neokortex ausgefallen sei, sprich: ein fürs Menschsein und Reflektieren wesentlicher Gehirnteil. Aber er unterschätzt die für Todesnähe-Erfahrungen typische Einwirkung von Endorphinen, also von morphiumähnlichen Stoffen im Blut, die für mystisch anmutende, intensive Erlebnisse mitverantwortlich sein können. Damit soll nun nicht etwa gesagt sein, dass sich der Realitäts- und Weisheitsgehalt seiner Erfahrung einfach wegrationalisieren ließe. Aber das absolut Zwingende, das den Schilderungen und Schlussfolgerungen dem ersten Anschein und ebenso dem Anspruch nach eigen zu sein scheint, begegnet auch hier nicht wirklich.

Beeindruckend ist am Ende, dass dem Autor, der ein Adoptivkind war, erst Monate später anhand eines ihm übergebenen Fotos aufgegangen ist, dass sich hinter der Identität seiner lichtvollen anonymen Begleiterin auf dem Weg in jenseitige Dimensionen seine ihm irdisch unbekannte verstorbene leibliche Schwester verborgen haben dürfte. Ähnliche Berichte finden sich tatsächlich auch in Schilderungen einiger anderer Nahtoderfahrungen in der reichhaltigen Literatur: Da kommt es zur Begegnung mit einer verstorbenen Person, um deren Existenz der in Todesnähe Befindliche gar nicht gewusst hatte und die er erst nach seiner „Rückkehr“ verifizieren konnte. Durchaus typisch ist insgesamt bei den unzähligen Schwellen-Erlebnissen, dass dort nur solche Verwandte und Freunde zur „Begrüßung“ aufzutauchen pflegen, die wirklich schon gestorben sind, ja von deren Tod der Betreffende mitunter überhaupt erst auf diese Weise erfährt. Zweifellos spricht dieser durchgängige Gesamtbefund beeindruckend gegen die Halluzinationsthese.

Im Übrigen ist die Erfahrung Alexanders eine typisch mystische – nicht zuletzt dahingehend, dass sie sich überkonfessionell gibt und an keine bestimmte Religion anzudocken scheint. Gleichwohl zeugt ihre Spiritualität von „amerikanischem“ Einfluss: Gott sei bedingungslose Liebe, so wird betont, und es sei einer der verbreitetsten Irrtümer, dass Gott unpersönlich zu denken sei. Merkwürdigerweise wird dann jedoch Gott immer wieder mit dem ostasiatischer Meditation entstammenden Laut om benannt. Von christlichem Glauben ist ausdrücklich nicht die Rede.

Dabei ließe sich vieles von Alexander Geschildertes und Reflektiertes durchaus mit christlicher Spiritualität verbinden. Aber es fehlt dem Ganzen jede christologische Dimension – und damit die alle Realität glaubwürdig einholende Tiefenschärfe. Was dieses Buch als Botschaft transportiert, ist ein spiritualistischer Monismus westlichen Zuschnitts. Der weltanschauliche Charme solchen Denkens verbindet sich mit bezeichnenden Schwächen auf dem Gebiet der Theodizee. Wer um Luthers tiefe Erfahrung und Erkenntnis weiß, dass Gott gerade im Gekreuzigten offenbar wird, wird an Alexanders beeindruckendem „Blick in die Ewigkeit“ doch noch Entscheidendes vermissen.


Werner Thiede, Regensburg