Tom Bioly

Bruderschaft und Glaube

Eindrücke von einer salafitisch geprägten Freitagspredigt

Es ist Freitagmittag, die offizielle Uhrzeit für das Mittagsgebet in Berlin lautet an diesem Tag 13:04 Uhr. Ein Schild verweist auf den Eingang der „Al-Iman-Moschee“ in Wedding. Man muss ein wenig um die Ecke, um nicht versehentlich im Dönerladen zu landen – klischeehafter könnte der Ausflug nicht beginnen. Eine Kontaktaufnahme im Vorhinein war weder per Telefon noch per Mail zustande gekommen, weshalb nichts anderes übrig blieb, als es auf gut Glück zu versuchen. Die Haustür steht offen, die zum Gebetsraum – man könnte beinahe „Saal“ sagen – auch. Darin befinden sich bereits etwa ein Dutzend Männer, einige ins Gebet, andere ins Gespräch vertieft. Frauen sind entsprechend der Ankündigung im Internet nicht zu erwarten. Nachdem die Schuhe ausgezogen sind, bemerkt man das erste Mal, dass man allein auf verlorenem Posten steht: Keiner der Anwesenden nimmt den Besucher wahr, nicht einmal in seiner Orientierungslosigkeit. Nach etwas Eigeninitiative gibt es dann aber von einem Pakistani mit langem Bart und langem Gewand zumindest grünes Licht fürs Zuschauen sowie die Information, die Predigt werde auch „ein bisschen Deutsch“ beinhalten. Bis diese beginnt, bleibt noch etwas Zeit, sich umzusehen.

Eine eigene Welt

Die Räume des „islamischen Kulturzentrums“ – eine von mehreren Eigenbezeichnungen – erstrecken sich auf sicher mehr als 100 m² über eine gesamte Etage, Stützpfeiler bilden fast ihre einzige Füllung. Anscheinend wurden einige Innenwände entfernt, was das Areal noch ausgedehnter erscheinen lässt. Im größten Abschnitt befinden sich Gebetsnische (Mihrab) und Kanzel (Minbar), über Letzterer hängt die saudische Flagge. Eine kleine Tafel steht in einem Bereich um die Ecke, wahrscheinlich für den Kinder-Unterricht genutzt. Wasserplätschern verrät den Standort der Waschräume entlang eines Ganges am anderen Ende und erübrigt damit dankenswerterweise unbehagliches Herumschleichen. Ein Frauenbereich soll sich angeblich im Bau befinden. Davon ist allerdings nichts zu erkennen. Überhaupt fragt sich, wie genau das auf einer einzigen Etage funktionieren soll – es sei denn, man griffe darauf zurück, die Predigt über einen Fernseher in einen Nebenraum zu übertragen, wie es mancherorts gehandhabt wird. Schließlich runden einige Bücherregale, in denen sich hauptsächlich Koranexemplare stapeln, Spruchbänder mit Koranversen und Gemälde der Kaaba das Erscheinungsbild einer Moschee ab, wie man sie vielerorts in Deutschland findet: schlicht, nur mit dem Nötigsten ausgestattet – ein einfacher „Ort der Niederwerfung“ eben, denn nichts anderes heißt das arabische Masdschid (Moschee).

Da nun die räumlichen Gegebenheiten schnell erfasst sind, kann man sogleich die Menschen eingehender studieren. Noch bis kurz nach Beginn der Predigt werden sich letztlich um die 50 Muslime eingefunden haben. Sie vertreten in fast jeder Hinsicht die komplette Bandbreite, soll heißen: von jung bis alt, von Südostasien bis Marokko, vom Bauarbeiter bis zum Geschäftsmann, von T-Shirt und Basecap bis zu Gewand und Gebetsmütze. Nur deutschstämmige Konvertiten sieht man heute keine, das läge aber an der Uhrzeit, heißt es hinterher. Fast alle sind mit einem Smartphone ausgerüstet, einige nutzen es noch während der Predigt, ob nun zum Prüfen der Koranverse oder des E-Mail-Postfachs. Nach und nach verteilen sich immer mehr Gläubige im Raum. Nur die wenigsten grüßen allgemein in die Runde. Die meisten gesellen sich stattdessen gleich zu Bekannten oder Familienmitgliedern. Wer sich unterhält, tut das auf Arabisch, es geht dann im wahrsten Sinne um Gott und die Welt.

Die Khutba

Da erhebt sich plötzlich der langbärtige Mann von vorhin und entpuppt sich als Muezzin. Sein Gebetsruf, den nur die ohnehin bereits anwesenden Männer hören können, erschallt in jener eigentümlichen Melodie, die für westliche Ohren mal faszinierend, mal disharmonisch klingt. Daraufhin betritt Abu Ahmad aus Palästina die Kanzel. Er komme ganz frisch von der Ausbildung, verrät er später, was allerdings nicht über sein mittleres Alter hinwegtäuschen soll. Das feierliche, helle Gewand, das er zuvor angelegt hatte, wird er danach genauso schnell wieder abstreifen. Wer so ein Ereignis schon einmal erlebt hat, dem kommt der Ablauf bekannt vor: das Bekenntnis zu Allah und seinem Gesandten, der Dank für die Gabe des Islam usw. Gelegentlich kommt Gemurmel aus der Gemeinde dazu, z. B. in Form eines Segenswunsches über den Propheten Mohammed.

Der Beginn des tagesspezifischen Teils ist am auch danach noch mehrfach eingestreuten „Liebe Brüder im Islam“ auszumachen. Wie angekündigt verläuft die Predigt (Khutba) hauptsächlich auf Arabisch. Dass ausgerechnet m. E. besonders wichtige Passagen anschließend nicht übersetzt werden, dürfte für die Mehrzahl, wenn nicht alle Anwesenden aber nicht von Belang sein. Wer nun in diesem salafitischen Umfeld Worte zu Scharia oder Dschihad erwartet hat, wird überrascht, denn stattdessen geht es um Aqida, die Verinnerlicherung der Glaubensgrundsätze, und Istiqama, das konsequente praktische Festhalten daran, veranschaulicht anhand der Lebensgeschichte Abrahams. Ein Schlüsselsatz dazu – wiederum nur auf Arabisch: „Die Rechtsauslegung (Fiqh) hat sich stetig gewandelt, doch der Glaube (Aqida) bleibt immer derselbe.“ Die Berufung auf den reinen Glauben Abrahams, die herausgehobene Bedeutung der Aqida – das ist freilich nicht exklusiv, aber in dieser Betonung typisch salafitisch.

Gebet in Formation

Gleichsam handelt es sich dabei um absolute Grundüberzeugungen, weshalb die Ausführungen für die meisten Muslime an diesem Tag regelrecht banal angemutet haben müssen. Wenn es also mit ziemlicher Sicherheit kein intellektuelles Bedürfnis ist – treibt dann etwa nur die Pflicht all die Männer hierher?

Man wird eines Besseren belehrt, als die Gemeinde plötzlich zum Leben erwacht. Schon die Abschlussworte der Predigt werden von einem tiefen, sich in seiner Häufigkeit steigernden „Amin!“ begleitet. Dann erheben sich alle – auch diejenigen, die gerade noch mit ihren elektronischen Geräten beschäftigt waren –, strömen in die Mitte, bilden Reihen, dicht an dicht, verschmelzen zu einer Formation, wie sie schon u. a. in Sure 61 („die Aufstellung“) des Korans einen berühmt-berüchtigten Vergleich erfahren hat. Alle verrichten sie das Gebet gemeinsam, nach exakt gleichem Muster. Hierin wird die Rede von der Bruderschaft erlebbare Wirklichkeit.

Nach einem kurzen „Der Friede und die Gnade Allahs seien mit euch!“ löst sich die Mannschaft dann allerdings genauso schnell wieder auf, wie sie sich zusammengefunden hatte. Ein paar werfen Münzen in die Sadaqa-Box am Ausgang. Allein der Prediger, der Muezzin und zwei weitere Männer ziehen sich noch zu einem gemeinsamen Tee zurück. Für sie alle hat sich der Zweck dieses Ereignisses erfüllt: Sie wurden einmal mehr darin bekräftigt, wer sie sind und wo sie hingehören. Als Außenstehender ist man sich demgegenüber noch stärker bewusst, wie weit man noch voneinander entfernt ist.


Tom Bioly