Buddhismus im Westen: Selbstbestimmte, praxisorientierte Schichtenreligion?
(Letzter Bericht: 10/2005, 389f) Die nebenamtlichen Weltanschauungsbeauftragten der Evangelischen Landeskirche in Württemberg beschäftigten sich auf ihrer Jahrestagung im November 2006 in Herrenberg (bei Stuttgart) mit der Frage, welchen Einfluss der Buddhismus derzeit in unserer Gesellschaft ausübt. Christian Ruch (Zürich) referierte zur Präsenz des tibetischen Lamaismus im Westen und Karlfriedrich Schaller (Tübingen) zur Faszination des Theravada-Buddhismus in Südasien für westliche Sinnsucher. Der Pfarrer K. Schaller war als junger Mann selbst einige Zeit Mönch in einem buddhistischen Thai-Kloster. In einer längeren, lebhaften Diskussion trugen die Anwesenden ihre Erfahrungen aus der Gemeindearbeit zusammen. Das Ergebnis waren Thesen, die als Anstoß für weitere Überlegungen gedacht sind:
- Der Buddhismus dient gebildeten Menschen unserer Gesellschaft als Projektionsfläche, die nicht mit Erfahrungen (oder angeblichen Erfahrungen) verstellt ist. Er gilt als pazifistisch, human, tolerant und verträglich mit einer modernen Lebensorientierung. Die Wahrnehmung des historischen und traditionellen Buddhismus wird dadurch jedoch selektiv und teilweise unrealistisch.
- Menschen, die christliche Praxis in belastender Weise kennen gelernt haben, stellt sich der Buddhismus als die ganz andere Religion dar, zu deren Gunsten das Christentum insgesamt hinter sich gelassen werden kann. Ein solcher Schritt erscheint unter Umständen einfacher, als Vergangenheitsbewältigung zu betreiben und schlechte Erfahrungen vom „eigentlichen“ Christlichen zu trennen.
- Der Buddhismus fasziniert durch seine Redlichkeit und Voraussetzungslosigkeit. Es geht um das eigene Lernen und die eigene Erkenntnis, die einer Lehre von außen prinzipiell vorgeht.
- Die Hinwendung zum Buddhismus beginnt in der Regel nicht mit einer religiösen Entscheidung oder einem Bekenntnis, sondern mit Praxis. Im Westen handelt es sich nahezu immer um meditative Praxis. Diese Praxis lebt von unmittelbarer Erfahrung und kommt dem Machbarkeitsdenken des westlichen Anhängers entgegen.
- Der Buddhismus erlaubt die Bearbeitung der Frage nach der eigenen Identität selbstbestimmt und ohne Bindung an eine Autorität. Er erfordert keine irgendwie geartete Anerkennung der Autorität Gottes und keine Hinwendung zu einem übergeordneten Gegenüber. Unter den Bedingungen moderner Individualisierung und Ich-Schwäche handelt es sich um ein attraktives religiöses Angebot.
- Dass die Selbsterfahrung und Selbstreflexion der buddhistischen Praxis auf die Überwindung der Illusion des Selbst abzielt (anatta), wird im Westen dabei allerdings häufig nicht wahrgenommen oder nicht verstanden.
- Die Frage, warum der Buddhismus im Westen attraktiv ist, ist aufzulösen in die differenziertere Fragestellung, wann und unter welchen Umständen sowie für wen er attraktiv sein könnte? Im Westen ist der Buddhismus eine Schichten-Religion, die sich (mit Ausnahme von Immigranten) auf hoch gebildete und materiell gesicherte Personen beschränkt. Er ist also keineswegs in allen Milieus und unter allen Lebensverhältnissen attraktiv.
Hansjörg Hemminger, Stuttgart