Mechthild Klein

Buddhisten und das Thema „Machtmissbrauch“

Eine Podiumsdiskussion in Hamburg

Erstmals haben deutsche Buddhisten über Machtmissbrauch in ihren Gruppen diskutiert. Es war ein erster, mutiger Versuch, sich dem Thema vor Publikum in einer öffentlichen Veranstaltung zu stellen. Auf dem Podium in Hamburg saßen acht Teilnehmerinnen und Teilnehmer: eine Wissenschaftlerin und ein Wissenschaftler sowie Vertreter und Vertreterinnen aller buddhistischen Schulen vom Theravada, der ältesten Richtung, bis zum Tibetischen Buddhismus und dem Zen.

Vorfälle von Machtmissbrauch sind zuletzt häufiger publik geworden. Im August 2017 trat Sogyal Rinpoche als spiritueller Leiter von Rigpa zurück, einer weltweit agierenden tibetisch-buddhistischen Organisation. Sogyal Lakar, wie der Meister weltlich heißt, werfen Ex-Schüler jahrzehntelangen sexuellen und psychischen Machtmissbrauch vor.1 Und im Juli 2017 verurteilte ein Augsburger Gericht den Zen-Priester Genpo Döring zu einer fast achtjährigen Haftstrafe wegen vielfachen sexuellen Kindesmissbrauchs. Pikanterweise war Döring bis zur U-Haft langjähriger Ehrenrat des Dachverbands der Deutschen Buddhistischen Union (DBU) und davor einige Jahre im Vorstand. Die DBU hat sich in einer Stellungnahme nach dem Gerichtsprozess geäußert.2 Auf dem Hamburger Podium berichteten im Laufe des Abends einige Teilnehmer von Fällen sexuellen Machtmissbrauchs aus der eigenen Tradition (s. u.).

Der ehemalige Theravada-Mönch Jinavaro Raimund Hopf (Waldklostertradition, jetzt Suttana Gemeinschaft Hamburg) stellte manch provozierende Frage. Doch für eine Diskussion blieb wenig Platz. Und wer von der Direktorin von Rigpa Deutschland, Gabriele Maass, klärende Worte erwartet hatte, wurde enttäuscht.

Machtfülle des Meisters

Zum Auftakt erläuterte der Japanologe Steffen Döll in einem Vortrag, wie sich im Chan und Zen das Verhältnis von Text-Autorität zur Lehr-Autorität verhält. Hier nur angerissen: Aufgrund der herausragenden Stellung der Zen-Meister in der Tradition – sie führen sich in direkter Übertragungslinie zurück bis auf den Buddha – stand die Lehr-Autorität immer über der Autorität der Texte. Jeder Zen-Schüler kennt wohl die Legende von Buddha und seinem Schüler Kashyapa. Der Buddha hob eine Blume hoch, und Kashyapa lächelte als Einziger in der Gruppe. Die Erzählung wird so gedeutet, dass die Lehre Buddhas ohne Worte übertragen wird (mind to mind). Nur der Erwachte hat dabei die Erkenntnis, ob die Buddhaschaft als solche weitergegeben wurde. Auf dieser Grundlage ist im Chan/Zen die Auffassung entstanden, dass Zen „nicht auf Schriftzeichen“ beruhe und „jenseits der Dogmatik“ weitergegeben werde. Döll umriss, wie im Chan/Zen eine Lehrer-Schüler-Beziehung wachsen konnte, die dem Lehrer eine große Machtfülle übereignete. Der Lehrer überwachte den geistlichen Fortschritt seines Schülers auf dem Weg zum Erwachen, bestrafte ihn und gab ihm Aufgaben, die er zu lösen hatte. Weil im Zen alle Erfahrung, Dogmatik und Beziehungsmuster infrage gestellt wurden, gab es zu allen Zeiten auch starke Ansätze im Zen, die die Nutzlosigkeit moralischer Gesetze betonten (antinomistischer Ansatz). Insofern sieht sich die Zen-Gemeinschaft immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob ein erleuchteter Meister über der Moral stehe und wer ihm Einhalt gebieten könne.

Kriterien für Machtmissbrauch

Machtmissbrauch gab und gibt es zu allen Zeiten auch im Buddhismus – da waren sich wohl alle Beteiligten einig. Carola Roloff, buddhistische Nonne und Wissenschaftlerin, brachte es auf den Punkt: „Wenn es Macht gibt, gibt es auch ganz zwangsläufig Machtmissbrauch.“ Doch wo fängt Machtmissbrauch an und wo sollten Gemeinschaften eingreifen? Roloff sagte, dass Machtmissbrauch da ansetze, wo „sich jemand geschädigt fühlt“. Die Frage ist: Gibt es eine objektive Diskriminierung oder nur subjektive Wahrnehmung? Oder ist es eine Frage der Perspektive? Roloff plädierte für ein objektives Kriterium, das aber müsse man vom Kontext abhängig machen. Es sei wichtig zu sehen, aus welcher Kultur der Buddhismus in den Westen komme, was ihn präge, was die eigentlichen Aussagen seien. „Was davon ist eigentlich wirklich Buddhismus … und was muss man auf die kulturelle Seite nehmen?“ Dafür sei ein grundständiges Buddhismus-Studium hilfreich. Damit man „nicht alles so übernimmt, was von den Lehrern überliefert wird“, sei es erforderlich, die ganze Zeit kritisch Inhalte zu hinterfragen. Richtschnur sei die freiheitlich-demokratische Grundordnung. So sollten keine „rückschrittlichen Konzepte“, etwa dass Frauen minderwertig seien, aus buddhistischen Traditionen in den Westen fließen und gar „als Dogma“ im Westen übernommen werden.

Beim Machtmissbrauch handelt es sich jedoch nicht nur um strafrechtlich eindeutige Fälle wie Vergewaltigung. Es geht auch um einen Graubereich, der sich unterhalb des Strafgesetzbuches abspielt. Roloff plädierte für eine Verbotsregelung, die für buddhistische Meditationslehrer gelten solle, ähnlich wie für Therapeuten. Es werde da problematisch, „wo ein Abhängigkeitsverhältnis ausgenutzt wird“. In der Universität würden ebenfalls sexuelle Beziehungen zwischen Universitätslehrern und Studentinnen geduldet. Doch auch da werde es kritisch, wenn der Lehrer eine Leistung daran binde, z. B. die Aussicht auf bessere Noten oder eine bestandene Prüfung – das gehe dann in Richtung „sexuelle Nötigung“.

Doch es existiere noch ein anderes Problem, das im System der Religion selbst angelegt sei. Etwa im Vajrayana (z. B. im Guru Yoga) könnten karmische Folgen angedroht werden. Wenn man nicht das mache, was der Meister sage, könnten künftige Höllenqualen drohen. Das seien archaische Elemente, die ganz klar als „psychische Gewalt“ einzuordnen seien. Erst recht, wenn es heiße: „Du musst das machen, damit du zur Erleuchtung findest.“ Wenn ein Lehrer so seine Stellung ausnutze, dann könne man von Missbrauch sprechen. Eine Kontrolle aufseiten der Lehrer wäre „eine sehr gute ethische Disziplin“. Die entscheidende Frage sei, was die Konsequenz wäre, wenn ein Lehrer sich nicht daran halte oder die Schüler es nicht merken, weil der Lehrer eine so exponierte Stellung habe.

Den Opfern eine Stimme geben

Ursula Richard, Chefredakteurin von „Buddhismus Aktuell“ (offizielles Organ der DBU) macht seit einiger Zeit den Online-Auftritt des Magazins verstärkt zu einem kritischen Forum über Machtmissbrauchsfälle innerhalb des Buddhismus. Sie betonte, dass sie sich in der Redaktion für Transparenz entschieden hätten und dafür, die Fälle und Skandale, die bekannt werden, zu dokumentieren – über Artikel, Verlinkungen und die Kommentarfunktion.

Das begrüßen nicht alle buddhistischen Gruppen. Richard sagte, dass eine Gruppe immer wieder Druck ausübe. Sie bekomme Anschreiben, die kritisieren, „was wir machen, wie wir es formulieren“. Es sei „ein interessanter Prozess“, wann die Redaktion schließlich zur Selbstzensur greife oder Angst bekomme. Doch sie sehe das Geschehen insgesamt als „positiven Prozess“. Denn sie wollten sich nicht von Angst dominieren lassen. Diese besagte Gruppe war nicht auf dem Podium, obwohl sie eingeladen worden sei, hieß es nach der Veranstaltung.

Die Chefredakteurin bedauerte, dass für die Diskussion kein Betroffener von der Opferseite eingeladen sei. Sie erinnerte daran, dass die Opfer sexuellen Missbrauchs schnell vergessen werden. Die Gruppen „stilisieren sich selbst oft als Opfer“. Sie nahm damit vorweg, was sich im Laufe des Abends tatsächlich ereignen sollte. Und weil die Opfer sexueller Übergriffe in Therapiesitzungen verschwänden und keine Stimme hätten, wolle „Buddhismus Aktuell“ neue Wege finden, damit diese Menschen eine Stimme bekommen.

Richard machte deutlich: Wer sexualisierte Gewalt erfahren habe, sei traumatisiert und eingeschüchtert. Sie verwies auf die Autorin June Campbell. Diese publizierte vor 20 Jahren, wie sie zur sexuellen Gefährtin eines hohen tibetischen Mönches wurde. In ihrem Buch untersuchte Campbell die Hintergründe von Tantra und dokumentierte darin auch eine Missbrauchsgeschichte. Richard war damals Programmchefin eines Verlags und begleitete Campbell auf der Lesereise. Als sie mit dem Auto durch St. Pauli fuhren, erinnerte sich Campbell, wie sie von den tibetischen Mönchen damals in die Sexshops geschickt wurde. Die Lamas hätten sie beauftragt, „DVDs und Sextoys“ zu holen. Campbell fuhr nach zehn Jahren erstmals wieder durch das Viertel und hatte ein Déjà-vu-Erlebnis. Richard wertete ihr Misstrauen so lange danach als eine Folge der Missbrauchserfahrungen.

Karmische Justiz

Dass sich der historische Buddha wohl gegen jede Form des Machtmissbrauchs gewendet hätte, steht wohl außer Diskussion. Trotzdem wurde eine entsprechende Frage an Wolfgang Krohn (Theravada), langjähriges Mitglied der Buddhistischen Gesellschaft Hamburg, gerichtet. Sein langer Wortbeitrag thematisierte, dass die Lehre des Buddha vom Mitempfinden und Mitleiden geprägt sei. Krohn kritisierte zwar das Machtgefälle zwischen Lehrern und Schülern heute, das viel Leid für Lehrer und Schüler nach sich ziehe. Er äußerte jedoch Mitempfinden mit solchen Lehrern, die Missbrauch betrieben. Der Grund: „Das hätte mir ja auch passieren können, wenn ich nicht achtsam und wissensklar mein Umfeld betrachtet hätte.“ Daher müsse man beiden Mitgefühl zeigen: dem Geschädigten und dem Lehrer.

Krohns Exkurs über die karmische Justiz, die schon dafür sorge, dass Fehlverhalten geahndet werde, offenbarte, dass buddhistisches Denken auch verhindern kann, über konkrete Regeln nachzudenken. So empfahl Krohn, sich selbst zu prüfen und am Ideal zu orientieren – gemäß dem chinesischen Sprichwort: „Wenn du einen Unwürdigen siehst, prüfe dich selbst. Begegnest du einem Weisen, so folge ihm.“ Genau dieses Verhalten kann aber zu einem massenhaften Schweigen und Wegsehen führen.

Wie geht es mit Rigpa weiter?

Rigpa-Direktorin Gabriele Maass beteuerte, sie habe von Machtmissbrauch in ihrer Gemeinschaft nie etwas mitbekommen. Als der Brief der Ex-Schüler (im Juli 2017) kam, habe sie natürlich „nicht weggeschaut“ und ihn gelesen. Sie habe sich gefragt, ob das „mit meinen Erfahrungen übereinstimmt oder nicht. Und da habe ich gesagt: Das stimmt nicht überein und deswegen bin ich weiterhin Sogyal Rinpoche gefolgt und folge ihm auch heute noch.“ Dabei kannte Maass die Autoren persönlich, die Sogyal langjähriges missbräuchliches Verhalten vorgeworfen haben. Sie kannte auch frühere Briefe aus dem Internet und die betroffenen Frauen. Sie sei „super entsetzt und traurig“ gewesen. Sollte sich das als wahr herausstellen, dass „jemand absichtlich jemand anderen schädigt und Sogyal Rinpoche kein authentischer Lehrer ist, dann ist das total dramatisch und dem sollte man auf jeden Fall nachgehen“. Man wolle demnächst eine internationale Kommission einsetzen, die das untersuche. Wer dieser Kommission angehören wird und was das genaue Ziel ist, blieb unklar. Es gab keine Nachfragen. Eines wurde aber deutlich: Drei Monate nach dem Rücktritt des Meisters ist erst wenig geschehen. Das räumte Maass ein. Auch sie wünsche sich Klarheit. Aber kann eine Institution das schaffen, die noch dem verlorenen Nimbus des Meisters nachtrauert?

Was passiert mit einer Gemeinschaft, wenn der Guru nicht mehr verfügbar ist? Sie macht wohl erst einmal weiter. In die weltweit 130 Zentren von Rigpa sind viele eingebunden, buddhistische Lehrer unterrichten dort weiter. Es liegt auf der Hand, auch wenn es nicht angesprochen wurde: Diese Lehrer verdienen ihren Lebensunterhalt bei Rigpa. Noch immer sei die Rigpa-Gemeinschaft erschüttert, sagte Maass. Alle seien aufgerufen, sich offen darüber auszutauschen, wie es ihnen damit gehe. Man soll auch „die eigene Wahrnehmung und Erfahrung überprüfen“.

Maass beließ es dabei, Emotionales im Ungefähren zu schildern. Es seien berührende Runden gewesen, emotionale Ereignisse seien zutage getreten. Man habe Mitglieder verloren, doch der Schwund sei unter zehn Prozent. Man habe nach 30 Jahren das erste Jahresretreat ohne Sogyal Rinpoche erlebt. „Es wird sich was ändern müssen, und wir sind dabei, erste Schritte zu machen.“ Mehr war nicht zu erfahren. Auf die Frage, warum auf der Startseite von Rigpa Deutschland erst zwei Monate später zu lesen war, dass der Meister zurückgetreten sei, gab die Rigpa-Direktorin folgende Antwort: Man habe nicht gewusst, wie man die Info auf die Startseite hätte stellen können. Da kann es dem Zuhörer schon manchmal die Sprache verschlagen. Transparenz versteht eben jeder anders.

Eigenverantwortung der Schüler

Mehr Eigenverantwortung der Schüler betonte die Zen-Lehrerin Corinne Frottier (Zen Sangha GenjoAn). Sie bekräftigte, dass die buddhistischen Gruppen niemals die Gefahr des Missbrauchs ausschließen könnten. Auch wenn die Sangha (Gemeinschaft) einen ethischen Code aufstelle (ein Verbot sexueller Beziehungen zwischen Lehrern und Schülerinnen), werde das den Missbrauch nicht verhindern. „Wir sollten sehen, dass wir auch als Schüler und Schülerinnen Verantwortung für uns selbst haben – wir sind keine Kinder.“ Dann räumte sie ein, dass sie selbst aus einer Stammbaum-Linie stamme, „wo Missbrauch nicht zu knapp betrieben wurde“: Die White Plum Asanga, die auf Taizan Maezumi Roshi zurückgeht, habe viele Mitglieder, die Mehrheit davon in den USA. „Und es kommt permanent wieder etwas raus von einem Lehrer, der seine Schülerinnen missbraucht hat.“ Über das Thema werde auch in ihrer Sangha viel gesprochen.

Ihre eigene Zen-Lehrerin Genno Roshi habe ihr Folgendes mit auf den Weg gegeben: „Wenn ich in meinem Lehrer oder meiner Lehrerin nicht den Buddha sehen kann, wird die Beziehung nicht funktionieren.“ Frottier spielte damit auf die traditionell wichtige Rolle der Lehrer im Zen an, sah aber auch die Schüler in der Verantwortung. In ihrer Gemeinschaft zeige sie ihren Schülern, wie wichtig eine Lehrer-Schüler-Beziehung sei, aber sie sagte auch, „dass die überhaupt erst eingegangen werden sollte, wenn ich wenigstens minimal eine Haltung der Achtung und des Respekts mir selbst gegenüber habe“. Das Ergebnis münde sonst in eine „Eltern-Kind-Beziehung, in der ich mich unterwerfe“.

Aus der tibetischen Tradition stammt ein anderes Konzept, das wohl ebenfalls auf den Prüfstand gehört, nämlich das der „verrückten Weisheit“ (crazy wisdom). Diese Praxis ist aus dem tibetischen Guru Yoga bekannt. Sie besagt, dass ein erleuchteter Lehrer zu jedem Mittel greifen kann, um den Schüler auf seinem Weg zum Erwachen zu fördern. Auch hierzu nahm Frottier Stellung: In jeder Form der Selbsterkenntnis könne es blinde Flecken geben. Ein Lehrer könne da helfen, wenn er die Autorität besitze, dass der Schüler das annehmen könne. (Die Praxis der „verrückten Weisheit“ spielt auch in der Diskussion um Sogyal Rinpoche eine Rolle.)

Die Krise als Chance

Neue Töne waren vom Dachverband DBU zu hören, der auf dem Podium durch das DBU-Ratsmitglied Felix Baritsch vertreten war. Der Heilpraktiker ist mit dem tibetischen Buddhismus verbunden und auch Delegierter der Europäischen Buddhistischen Union. Er hoffe, dass bald wieder ein Ethikrat in der DBU gegründet werde. Er machte die dünne Personaldecke des Vereins dafür verantwortlich, dass es keinen gebe. Zudem gebe es große Schwierigkeiten, die verschiedenen Richtungen unter einen Hut zu bringen.

Baritsch verwies auf die Sonderstellung des Vajrayana. In dieser Schule arbeite man auch mit der Energie der Sexualität. Allerdings müsse ein Lehrer dafür sehr weit fortgeschritten sein. Das Problem sieht Baritsch darin, dass ein Lehrer zwar auf einer Ebene erleuchtet sein könne, auf einer anderen Ebene aber nicht. Selbst wenn jemand erwachsen und selbstverantwortlich sei, kenne er „trotzdem nicht alle versteckten Ecken“ der eigenen Persönlichkeit.

Wer einmal (durch Machtmissbrauch) manipuliert worden sei, kenne das Gefühl, „machtlos“ und „überwältigt zu sein“. Das hinterlasse „tiefe traumatische Spuren“. Und wer ein Trauma mit einem Lehrer erlebe, erlebe das nicht zum ersten Mal, egal wie erwachsen man sei. „Dann ist das mit der Selbstverantwortung futsch“, so Baritsch. Man könne einfach nicht sagen: „Du hättest ja aussteigen können, du bist selbst verantwortlich.“ So leicht sei das leider nicht mit der Selbstverantwortung. Baritsch plädierte daher für ein Verbot sexueller Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern. Denn der Lehrer sei gleichzeitig ein Mensch. Er könne zwar zur Erleuchtung führen, aber er sei „in Teilbereichen vielleicht unerleuchtet“.

Baritsch empfahl, für jede buddhistische Gruppe einen Ombudsmann zu ernennen. Damit solle die Hemmschwelle für Schüler gesenkt werden, die Machtmissbrauch erlebt hätten, sich dort auch zu melden. Auch in der DBU brauche man einen Ansprechpartner, einen Therapeuten oder Seelsorger, der Projektion und Realität unterscheiden könne. Je mehr das Problem bekannt werde und institutionalisiert werde, umso besser werde auch der Lehrer vor sich selbst geschützt, unterstrich Baritsch. Er verstehe das als Wachstumsprozess. Gelebter Buddhismus sei „nicht die heile Welt“. Baritsch hofft, dass die Krise eine Chance sei, zum Erwachen zu finden.

Er argumentierte, dass auch Lehrer empfänglich seien für Projektionen, zum Beispiel aufgrund der Hingabe der Schüler. Die Projektion müsse der Lehrer überwinden, aber nicht jeder schaffe das. Und wenn Schüler oder Lehrer ein Trauma hätten, dann bedürfe es großer Energie und Aufmerksamkeit, das zu heilen. Erschwerend sei: Traumatische Anteile können in der Meditation eher ausgeblendet werden. Somit würden diese Muster der Verletzungen nicht erkannt und könnten weiterwirken. Baritsch spielte damit auf Genpo Döring an, der im Gerichtsprozess sagte, er sei in der Kindheit selbst missbraucht worden.

Man brauche Regeln, um Schüler und Lehrer zu schützen. Man könne auch Ausnahmen formulieren. In der Welt gebe es schon viele Traumata, aber immer weniger den geschützten Raum der Familie oder der Rollenbilder. „Man sollte nicht alles dem Charisma der Lehrer überlassen.“ So appellierte Baritsch erneut an die DBU, die Vorschläge auch umzusetzen. Andere Länder hätten das bereits getan.

Hilfe von außen annehmen

Die Zen-Lehrerin und Therapeutin Verena Förderer aus der Gruppe Daishin (Linie um Hinnerk Polenski) glaubt, dass buddhistische Gruppen Hilfe von außen brauchen, wenn sie Missbrauch aufarbeiten wollen. Förderer hat 15 Jahre lang als Therapeutin mit Familien gearbeitet, die als Täter und Opfer von sexueller Gewalt betroffen waren. Sie zog Parallelen zu buddhistischen Gemeinschaften. Auch in den Familien komme es spät zu Anzeigen, weil die Betroffenen so lange schweigen. Im innerfamiliären Bereich bauten sich sexuellen Übergriffe über einen längeren Prozess auf, „die Übergriffe passieren sehr schleichend“, oft „über Monate und Jahre“.

Fatalerweise fühlten sich Opfer in Missbrauchssituationen oft gar nicht betroffen. Ein Kind, das „über Jahre hinweg sexuell missbraucht worden ist, hat subjektiv nicht unbedingt das Gefühl, hier Schlechtes zu erleben, Unrechtes zu erleben, sondern es denkt erst mal: So ist es.“ Erst wenn das Leid wirklich unerträglich werde und diese Kinder ins Jugendalter kommen, erkennen sie das Unrecht. Dann zerbrechen sie oder sie bringen sich um oder sie müssen sich doch irgendjemanden anvertrauen. Bis an diese Grenze gehen die Kinder und Jugendlichen. Sie realisieren nämlich, dass ihr Halt, ihre Familie zerstört sei. Das vergleicht die Zen-Lehrerin mit Missbrauch im Sangha. Wer Machtmissbrauch erfahre, brauche sehr lange, sich das einzugestehen, und so ergehe es auch den Mitwissern. Opfer bleiben mit ihrer Erfahrung so lange alleine, weil sie fürchten, wurzellos zu werden und niemanden zu haben. Außerdem hätten die Betroffenen nicht nur schlimme Dinge erlebt, sondern auch Positives.

Förderer ließ keinen Zweifel daran, dass buddhistische Gruppen die Aufarbeitung nicht alleine bewältigen können. Sie brauchen parteilose Helfer, Psychologen, die das System nicht kennen und offen alle Fragen stellen dürfen. Förderer plädierte für einen „Meisterrat“, ein Gremium, in dem Psychologen fortgeschrittene Dharma-Schüler und -Lehrer über die Dynamiken von Traumata unterrichten. Lehrer kommen im Sangha schnell in eine Rolle, in der sie bewundert werden und Hilfe von ihnen erwartet werde. Psychologen könnten ihnen Supervision in buddhistischen Zentren anbieten. Immer wenn ein Lehrer mit Schülern allein sei, müsse klar sein, dass der Schüler seine eigene Geschichte mitbringe und auch der Lehrer eine Vorgeschichte habe.

Es kam ein weiterer Aspekt zur Sprache: Gemeinschaften, die Machtmissbrauch durch ihren Meister erlebt haben, brauchen eine Zeit, in der sie verarbeiten können, dass ihre spirituelle Familie oder Heimat zerbrochen sei. Dies sei „eine Zeit der Trauer“. Es bleibt zu hoffen, dass dabei nicht das Mitgefühl für die Opfer vergessen wird.

Fazit

Die erste öffentliche Diskussion über Machtmissbrauch im Buddhismus war ein erster, wichtiger Schritt. Es zeichnete sich eine Bereitschaft ab, das problematische Thema in den Blick zu nehmen. Dem Dachverband DBU und den buddhistischen Gruppen ist zu wünschen, dass bald Regeln und Kontrollmechanismen gefunden werden. Der DBU steht die Möglichkeit offen, auch Hilfe aus psychologischen Fachrichtungen zu holen, die professionell mit Opfern von Machtmissbrauch arbeiten.

Es ist eine Erfahrung, die auch die großen Kirchen machen mussten: dass ihre Institutionen und Mitwisser Vorwürfe des Machtmissbrauchs immer reflexartig abgewehrt oder als Einzelfälle heruntergespielt haben. Es wurde so lange geleugnet, bis die Täter „untergegangen“ waren. Es sind vielfältige Präventionsstrategien und Regeln nötig, auch um die Lehrer vor sich selbst zu schützen, wie es auf dem Podium hieß. Das ist man auch den Opfern schuldig.


Mechthild Klein


Anmerkungen

  1. Dokumentation und Stellungnahmen auf der Website Buddhismus aktuell: https://buddhismus-aktuell.de/diskussionen/debatte-um-sogyal-rinpoche/dokument-12-stellungnahme-des-rates-der-dbu-zu-den-anschuldigungen-gegen-sogyal-rinpoche.html .
  2. Dokumentation und Stellungnahmen: BA:https://buddhismus-aktuell.de/diskussionen/der-fall-genpo-d/zen-priester-8-jahre-haft-fuer-kindesmissbrauch.html