Cancel Culture. Demokratie in Gefahr
Verengung des Meinungsraums
Kolja Zydatiß: Cancel Culture. Demokratie in Gefahr, Solibro Verlag, Münster 2021, 184 Seiten, 16,80 Euro.
Als das Gemälde im Jahr 1926 zum ersten Mal in Paris ausgestellt wurde, kam es zu heftigen Protesten. Der Erzbischof von Köln forderte, es wieder abzuhängen, als es auch in seinem Bistum gezeigt werden sollte. Es zeigt eine Madonna, die ihren Sohn mit weit ausholender Hand auf den blanken Hintern schlägt: Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind. Als besonders geschmacklos galt der zu Boden gefallene Heiligenschein des Jungen. Eine solche Provokation durfte nach Ansicht vieler nicht toleriert werden. Durchsetzen konnten sich die Zensoren jedoch nicht. Der Maler, Max Ernst, wurde zwar exkommuniziert (und sparte damit die Kirchensteuer, wie er später sagte). Doch letztlich trug die Aufregung um das Bild nur zu seinem weiteren Ruhm bei.
Fast hundert Jahre später beschäftigt uns die Frage, wie weit die freie Meinungsäußerung gehen kann, immer noch. Max Ernsts Madonna würde heute keine Protestkundgebungen mehr auslösen. Dafür aber wurde der zeitgenössische Maler Max Krause 2019 von der Leipziger Jahresausstellung verbannt, weil er sich als AfD-nah zu erkennen gegeben hatte. Krause ist einer von vielen Persönlichkeiten, die in dem 2021 erschienenen Buch „Cancel Culture – Demokratie in Gefahr“ des Psychologen Kolja Zydatiß als Opfer der modernen Zensur genannt werden.
Die im Buch aufgeführten Beispiele gehen weit über prominente Einzelfälle hinaus. Zydatiß’ „kleine Chronik der Ausgestoßenen“ erzählt von Künstlern oder Intellektuellen, die von Veranstaltungen ausgeladen wurden; von Universitätsprofessoren, die Vorlesungen nur unter Polizeischutz abhalten konnten; von Wissenschaftlern, die aus Forschungsverbänden verbannt oder von Autoren, deren Bücher von Bestsellerlisten gestrichen wurden – und von Politikern, die wegen unbotmäßiger Äußerungen ihre Karriere beenden mussten. Damit widerspricht der Autor, der auch eine Kolumne mit dem Titel „Ausgestoßene der Woche“ bei dem Online-Magazin „Achgut.com“ verantwortet, denjenigen, die meinen, die Cancel Culture gebe es nicht oder sie sei nur eine Erfindung rechter Kreise. Im Gegenteil habe sich bei ihm in den letzten Jahren der Eindruck verfestigt, dass wir in einer zunehmend intoleranten Kultur leben, in der alle möglichen Menschen aufgrund ihrer – fast immer von der Meinungsfreiheit gedeckten – Äußerungen massiv unter Druck gesetzt werden.
Verteidigen will Zydatiß die Meinungen derer, die in seinem Buch aufgeführt werden, nicht. Es geht ihm ums Prinzip. Es sei abstoßend, wenn z. B. der Bremer Pastor Olaf Latzel Buddha als „dicken, fetten Herrn“ bezeichne oder die gelebte Homosexualität als „todeswürdiges Verbrechen“. Weil die Cancel Culture oft, wenn auch nicht nur, Provokateure oder Personen aus dem rechten Spektrum betreffe, werde sie oft mit großer Milde behandelt. Manchen gelte sie als Ausdruck einer offenen Gesellschaft, die sich schützend vor Minderheiten stelle.1 Doch es geht, wie Zydatiß ausführt, nicht um Kritik, sondern um die Ächtung von Personen – und um Bestrafungen, die das Leben der Betroffenen empfindlich berühren. Sie verlieren ihren Job, einen Auftrag, ihre Mitgliedschaft in einer Organisation oder werden sogar physisch bedroht. Die Cancel Culture sei der Versuch, die Welt von unliebsamen Ideen zu befreien, indem auch die Person, die diese Ideen vertritt, aus dem öffentlichen Leben verbannt wird. Und anders als oft behauptet, treffe sie nicht nur bekannte Persönlichkeiten, die sich zu wehren wissen, sondern auch viele, die keine Lobby haben.
„Ziel der Cancel Culture ist nicht der Diskurs …, sondern die Verengung des Meinungsraums“, schreibt Zydatiß, und damit wären wir bei einem der wichtigsten Botschaften des Buches, die auch schon im Titel zum Ausdruck kommt: Die Cancel Culture sei eine Gefahr für unsere Demokratie. Mit ihr werde ein Klima der Angst geschürt. Das zeige sich z. B. in repräsentativen Umfragen, die ergeben haben, dass eine Mehrheit der Deutschen meint, sich zu bestimmten Themen nicht mehr frei äußern zu können.2 Ohne eine offene Diskussionskultur aber könne eine Demokratie nicht funktionieren. Und wer bestimmt überhaupt, was gesagt werden kann und was nicht? Zensur wirke sich nicht nur auf diejenigen aus, die von ihr direkt betroffen sind, sondern auch auf alle anderen. Sie ist, wie Zydatiß schreibt, extrem bevormundend, denn sie möchte der Allgemeinheit die Möglichkeit nehmen, bestimmte Veranstaltungen zu besuchen, Bücher zu lesen oder andere Meinungen zu hören.
Anders als zu Max Ernsts Zeiten gehen Zensurforderungen heute nicht von einflussreichen Institutionen wie der Kirche aus, sondern von Einzelpersonen oder Aktivisten. Zydatiß spricht von „Terror-Taktiken“, die, wenn sie sich weiter durchsetzen, eine Verarmung des kulturellen und politischen Lebens zur Folge haben werden (74). Dabei sei es kein Zufall, dass wir für das Phänomen der Cancel Culture nur einen Anglizismus nutzen, denn jede Übersetzung würde dem speziellen kulturellen Kontext, in dem es entstehen konnte, nicht gerecht. Ein – wenn auch kleiner – Kritikpunkt an Zydatiß’ Buch könnte sein, dass der Autor nicht zwischen dem angelsächsischen und dem deutschsprachigen Raum unterscheidet, obwohl die gesellschaftlichen Treiber der Cancel Culture nicht überall ganz identisch sein dürften.
Die unterschiedlichen Stränge, Ideologien und Entwicklungen, die alle einen Beitrag zur Entstehung der Cancel Culture geleistet haben, werden in den letzten Kapiteln behandelt. Zydatiß spricht von einer „Revolution von oben“ und einer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Elite, die ihre Werte und Weltsicht durchsetzen möchte. Doch dabei handele es sich keinesfalls um einen widerspruchsfreien oder stringent geplanten Prozess. Unsere Eliten, die vielleicht die oberen 20 % der Gesellschaft stellen, wirken, meint Zydatiß, oft ziel- und orientierungslos. Sie seien offenbar nicht mehr in der Lage oder willens, Dinge wie individuelle Freiheit oder die westliche Lebensweise als gesellschaftliche Errungenschaften und Standards zu verteidigen (77).
Getrieben sei diese Elite von einem Weltbild, das die Menschen als ein „überschätztes, schwaches, von unbewussten Antrieben gesteuertes und daher sowohl gefährdetes als auch gefährliches Wesen darstelle“. Das erkläre den Drang nach mehr sozialer Kontrolle. Zu dieser „Krise des Subjekts“ komme der „Kampf gegen die Vergangenheit“, die als schuldhaft und schlecht empfunden werde und mit der gebrochen werden solle. An einer Stelle spricht Zydatiß von einem „Relativismus-Paradoxon“, das er auf die 1968er Bewegung mit ihrem Slogan „Verbieten ist verboten“ zurückführt. So sei – auf der einen Seite – das traditionelle christliche Wertesystem demontiert und unsere Gesellschaft permissiver geworden. Auf der anderen Seite aber seien neue Moralisten aufgetaucht, die ihre Loyalität zum korrekten Denken in ständigen „Empörungsritualen“ unter Beweis stellen wollen – und diese Loyalität auch von anderen einfordern.
Die Cancel Culture wird uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Einen Grund zur Hoffnung sieht Zydatiß darin, dass das Problem auch in etablierten Kreisen erkannt worden sei. So erwähnt er den offenen Brief gegen Cancel Culture, der 2020 in dem US-amerikanischen Harper’s Magazine erschien und von 155 Prominenten unterzeichnet wurde. Auch hierzulande sind Gegenbewegungen entstanden, z. B. im Netzwerk Wissenschaftsfreiheit. Das sei notwendig, denn vor allem an den Hochschulen habe sich die Cancel Culture ausbreiten können. Um gegen sie vorzugehen, sei es wichtig, immer wieder darauf aufmerksam zu machen, dass es sich um ein reales Phänomen handle. Auch die dahinterstehende Ideologie müsse beleuchtet und entlarvt werden. Das Buch, das sich dieser Aufgabe widmet, kommt zur rechten Zeit.
Sabine Beppler-Spahl, 13.05.2022
Anmerkungen
1 Vgl. Felix Huesmann: Kritik ist kein Shitstorm: Keine Angst vor der Empörung im Netz, RND, 10.5.2021, https://tinyurl.com/3zf5ptt5 (Abruf: 15.3.2022).
2 Vgl. Thomas Petersen, Institut für Demoskopie Allensbach: Eine Mehrheit fühlt sich gegängelt, FAZ, 16.6.2021, https://tinyurl.com/2p9h3j9p (Abruf: 15.3.2022).