Tilman Matthias Schröder

Charles Darwin und die protestantische Theologie

Was Hollywood und Wissenschaftsgeschichte manchmal gemeinsam haben

„Der Mann, der Liberty Valance erschoß“ ist der Titel eines der großen klassischen Hollywood-Western. Die Regie des 1961 gedrehten Films führte der legendäre John Ford. Der Film beginnt mit der Rückkehr eines berühmten US-Senators in seine frühere Heimat, ein kleines Kaff namens Shinebone. Hier will er zusammen mit seiner Frau an der Beerdigung eines dort fast völlig unbekannten Mannes teilnehmen. In Shinebone hatte der Senator vor 30 Jahren seine Karriere als kleiner Rechtsanwalt begonnen, der dadurch berühmt wurde, dass er mutig einem üblen Gesetzesbrecher gegenübertrat, eben Liberty Valance, und ihn im Duell erschoss. Der Zeitungsredakteur von Shinebone wittert hinter dem Besuch des Senators eine interessante Story und drängt auf ein Interview. Und so erzählt ihm der Senator nun die wahre Geschichte von damals, die darin gipfelt, dass nicht er, sondern eben jener Mann, der jetzt beerdigt wird, der eigentliche Held gewesen ist, der wirklich Liberty Valance erschossen hat. Am Ende wirft der Journalist jedoch seine Aufzeichnungen ins Feuer. Das Interview wird nie gedruckt werden. Und er begründet das mit einem Satz, der in die Filmgeschichte eingegangen ist: „Wenn die Wahrheit über die Legende herauskommt, drucken wir trotzdem die Legende.“

Die Legende ist eben keine einfache Lüge oder Verfälschung der wahren Geschichte, sondern sie besitzt eine eigene innere Kraft, die bestimmte Entwicklungen zu legitimieren vermag. Und wenn sich diese Entwicklungen als gut und sinnvoll erweisen, dann sollte man an der ihnen zugrunde liegenden Legende nicht rütteln. Mit dieser Erkenntnis wollte John Ford den klassischen Western als eine notwendige Legende für den Ursprung der amerikanischen Nation gewürdigt wissen. Diese Erkenntnis gibt es aber auch in anderen Bereichen und natürlich auch in der Geschichte, dort sogar in der sich sonst so nüchtern gebenden Wissenschaftsgeschichte.

Im 18. und 19. Jahrhundert beispielsweise setzten Wissenschaftshistoriker bewusst Legenden in die Welt, um den Fortschritt der Moderne dank der Überlegenheit der neuen Naturwissenschaften gegenüber der rückständigen Vergangenheit zu demonstrieren. So wurde behauptet, dass der mittelalterliche Mensch der Meinung gewesen sei, die Erde sei eine Scheibe und an ihren Rändern würden Seefahrer mit ihren Schiffen in die unendliche Tiefe stürzen. Erst die moderne Wissenschaft hätte mit diesem Aberglauben aufgeräumt. Das Bild von der mittelalterlichen Scheibenwelt geistert bis heute umher und findet sich selbst in Schulbüchern und aktuellen Fernsehreportagen der im ZDF gesendeten Discovery-Wissenschaftsfolgen wieder. Natürlich ging die Menschheit seit Ptolemäus aber immer von der Kugelgestalt der Erde aus. Auch ein einfacher Blick auf die Pantokratordarstellungen in mittelalterlichen Kathedralen, bei denen der Weltenherrscher Christus die Weltkugel als Herrschaftssymbol in seiner Hand trägt, könnte jeden schnell von dieser Tatsache überzeugen, aber die Legende lebt und hält sich, einfach weil sie so schön einprägsam ist.

Auch die Darstellung von der Aufnahme der Theorien Darwins durch die Theologie enthält durchaus legendarische Züge. Diese Legende behauptet, dass Darwin gerade in Deutschland auf heftigsten Widerstand von Seiten kirchlicher und theologischer Repräsentanten gestoßen ist, dass es zu einer Kampfsituation gekommen sei, die als eine der Ursachen für das belastete Verhältnis zwischen Naturwissenschaften und Religion gilt. Dieses sogenannte „Konfliktparadigma“ hat sich bis heute mehr oder minder unhinterfragt in vielen populären, aber auch wissenschaftlichen Arbeiten über diese Zeit erhalten und führt in seiner Ausschließlichkeit selbst zum Mythos und pauschalisierenden Bild einer weitgehend antichristlichen Naturwissenschaft auf der einen und einer unflexiblen und zumeist polemischen kirchlich-theologischen Abwehrhaltung auf der anderen Seite.

Wer aber hat ein Interesse daran, dass die Legende lebt? Die Frage ist ja mit Blick auf aktuelle Diskussionen um Darwins Lehre nicht ganz unwichtig. Einerseits gibt es auf Seiten der Naturwissenschaften Vertreter einer religiös indifferenten Haltung oder des „neuen Atheismus“, die ohne weitere Argumentation gerne auf die scheinbar historisch gegebene Situation hinweisen, dass sich Glauben und Wissen schon immer gestritten hätten. Auf die gleiche Situation verweisen dann andererseits manche kirchlich-konservativen Vertreter, um die Notwendigkeit herauszustellen, biblische Wahrheiten vor dem Zugriff einer angeblich weitgehend christentumskritischen Naturwissenschaft retten zu müssen, und die damit auch in Darwin ihr vornehmstes Feindbild sehen. Im Grunde wird hier eine Lagerbildung fortgeführt, die es tatsächlich einmal in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg gegeben hat, die damals aber von beiden Seiten her klare weltanschauliche Züge trug und wenig mit der tatsächlichen Diskussion über Darwin zu tun hatte. Den damaligen Zeitgenossen war das auch weitgehend klar, heute ist dieser entscheidende Punkt jedoch weithin in Vergessenheit geraten. Er soll deshalb jetzt das Thema sein.

Das Schicksal mancher Weltliteratur: oft zitiert, aber nicht gelesen

Am 19. April 1882 starb Charles Darwin. Er wurde in einer großen und feierlichen Trauerzeremonie in Westminster Abbey kirchlich bestattet. Was wussten die Deutschen 1882 von Darwin, was wussten vor allem evangelische Theologen und Kirchenführer von ihm? Im Grunde erschreckend wenig, woraus man freilich auch schließen kann, dass bis zu diesem Zeitpunkt nur wenige in Darwin und seinen Lehren eine ernsthafte Gefahr für den christlichen Glauben gesehen hatten. So sind keine kirchlichen Einwendungen gegenüber der Tatsache bekannt geworden, dass Charles Darwin zu Lebzeiten der am höchsten ausgezeichnete und geehrte ausländische Wissenschaftler in Deutschland geworden war. Er trug die Ehrendoktorwürden zweier deutscher Universitäten, war Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften und hatte den preußischen Orden „Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste“ verliehen bekommen, die damals höchste deutsche Wissenschaftsauszeichnung überhaupt.

Darwins erstes großes Werk „On the Origin of Species“ war 1859 erschienen, 1860 auch auf deutsch, und es galt zunächst als eine Arbeit für Spezialisten. Viele deutsche Naturforscher nahmen es jedoch eher am Rande wahr. Der Gedanke an eine Veränderung der Organismen und Arten war schließlich nicht neu. Eine erste umfassende Evolutionstheorie hatte bereits Jean Baptist Lamarck (1744-1829) aufgestellt, und es gab auf diesem Feld sogar deutsche Traditionen, die von Leibniz über Lessing, Herder bis zu Kant und Hegel reichten. Von daher regte das Stichwort „Entwicklung“ zunächst keinen Theologen sonderlich auf.

Eine erste, wenn auch nur knappe Erwähnung Darwins findet sich immerhin bereits 1860 in einem Aufsatz des Greifswalder Kirchenhistorikers und Apologeten Otto Zöckler über die englische Naturphilosophie. Ein Jahr später anerkennt Zöckler den „epochemachenden Wert“ von Darwins Arbeit, hält seine Theorien aber letzten Endes für nicht beweisbar. Auf diese Weise tröpfelt nun die Auseinandersetzung mit Darwin die nächsten zehn Jahre weiter. Alle Theologen, und es sind im Grunde nur sehr wenige, die Darwin benennen, räumen gleich zu Anfang ein, Darwins Werk nicht gelesen zu haben, sondern sich auf Referate anderer Autoren zu stützen. So kann es passieren, dass 1866 der Marburger Systematiker Rudolf Grau, in völliger Verkehrung der Tatsachen, Darwin zum Apologeten des biblischen Schöpfungsberichtes und der Arche Noah macht. Graus Idee: Wenn sich nach Darwin alles Leben auf gemeinsame Urformen zurückführen lässt, dann haben damals ja wirklich die Vertreter aller Lebewesen auf die eine Arche Noah gepasst!

Man darf aus dem Gesagten nun freilich nicht schließen, dass die Theologen der damaligen Zeit keine Ahnung vom Geschehen innerhalb der Naturwissenschaften gehabt hätten. Die Naturwissenschaften bildeten damals an den Universitäten noch keine eigenen Fakultäten, sondern waren Teil der Geisteswissenschaften. Es war Tübingen, wo 1863 die Naturwissenschaftler ihre erste eigene Fakultät in Deutschland erhielten. Von daher gehörte sehr lange die Absolvierung naturkundlicher Vorlesungen und Seminare zum Pflichtprogramm auch des Theologiestudiums. Hierin war man also sehr viel weiter interdisziplinär verzahnt als heute. Und wenn man bedenkt, dass umgekehrt alle Naturwissenschaftler auf dem Gymnasium ein humanistisches Bildungsprogramm absolviert hatten, dann erklärt das, dass alle, Theologen, Geistes- und Naturwissenschaftler bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein durchaus eine gemeinsame Sprache gesprochen haben und über ein gemeinsames philosophisch-philologisches Basiswissen verfügten. Insofern gab es natürlich auch schon vor Darwin Gesprächsfelder zwischen den Disziplinen.

Besonders konfliktreich war dabei die Auseinandersetzung mit der zunehmenden materialistischen Weltsicht der Naturwissenschaften. Die überwältigende Mehrheit der Naturwissenschaftler ging in ihrer Naturbeobachtung von zwei Prämissen aus: In der Natur beobachtbar ist alleine die Materie, und diese Materie verhält sich gemäß der mechanischen Regeln der klassischen Physik. Das sogenannte materialistisch-mechanistische Weltbild wurde zur unhinterfragbaren methodischen Grundlage aller naturwissenschaftlicher Disziplinen – im Grunde bis zum Aufkommen der modernen Quantenphysik zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Es gab nun freilich um 1850/60 eine Gruppe sogenannter „radikaler Materialisten“ – ihre Gegner nannten sie anzüglich „Vulgärmaterialisten“ –, die dieses methodische Prinzip auch auf die sozialen, gesellschaftlichen und psychologischen Bereiche des Menschseins auszudehnen versuchten. Hauptexponent dieser Richtung war der Mediziner Ludwig Büchner, der mit seinem bis heute aufgelegten Klassiker „Kraft und Stoff“ damals für ziemlich viel Furore sorgte. Büchner zielte mit seinen Theorien in eine klar antichristliche Richtung: Da der Stoff, die Materie also, ohne Anfang und Ende war, konnte es keine Schöpfung im biblischen Sinne geben. War alles Materie, dann konnte es auch keine immaterielle Seele geben, von daher auch keine ethisch begründbare Moral und schon gar keinen transzendenten Gott. Die Diskussion um Büchner und seine Freunde hatte in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts den sogenannten „Materialismusstreit“ ausgelöst, der schließlich zu einer weitgehenden Isolierung Büchners innerhalb der Reihen der Naturwissenschaftler führte. Diese erkannten, dass Büchners Theorien nichts mit exakter Wissenschaft zu tun hatten, sondern eindeutig weltanschauliche Zielsetzungen beinhalteten. Gerade davon aber wollten sich die meisten Naturwissenschaftler fernhalten, weil es außerhalb der fachwissenschaftlichen Grenzen lag. Was Büchner und seine Freunde trieben, galt als Naturphilosophie, und von deren Unarten und Spekulationen hatten sich die exakten Naturwissenschaften gerade mühevoll und schmerzhaft emanzipiert. So sahen und akzeptierten es auch die allermeisten Theologen. Gegen Mechanismus und Materialismus als die beiden methodischen Grundprinzipien der Naturwissenschaften hat im 19. Jahrhundert kaum ein Theologe ernsthafte Einwendungen gehabt, aber man wollte den Menschen, seine Seele und seinen Geist davon ausgeklammert und in einem anderen, transzendenten Bereich aufgehoben wissen.

Das war ungefähr der Stand der Dinge, als 1871 Darwins „Descent of Man“ in deutscher Übersetzung erschien. Wieder dauerte es eine gewisse Zeit, bis die Bedeutung dieses Buches erkannt wurde. Dabei wurde beispielsweise in der kirchlichen Presse auch nur der erste Teil des Werkes näher beschrieben, der die stammesgeschichtliche Herkunft des Menschen aus dem Tierreich betraf. Er galt als der eigentlich anstößige Punkt. Der umfangreichste Teil jedoch, der zweite Hauptteil, der die geschlechtliche Zuchtwahl anbetraf, und auch der dritte Teil, der die Entwicklung der menschlichen Zivilisation behandelte, wurden mit kaum einem Wort gestreift. Sie schienen offenbar keinen Angriff auf die kirchliche Lehre zu beinhalten und konnten deshalb vernachlässigt werden.

Das weitere Interesse an Darwins Thesen dagegen hielt sich in theologischen Kreisen ziemlich in Grenzen, vor allem als erkannt wurde, dass Darwin auch innerhalb von Teilen der deutschen Naturwissenschaften zunächst umstritten blieb. Manche Theologen glaubten daher, dass sich Darwins Thesen auf die Dauer bereits durch die Diskussion innerhalb der Naturwissenschaften auflösen würden, von ihnen also keine weiteren Gefahren für den biblischen Glauben zu befürchten seien. Wenige Jahre später war diese Zuversicht jedoch ziemlich verflogen, wobei jetzt gar nicht mehr Darwin selbst im Mittelpunkt der Debatten stand, sondern sein eifrigster deutscher Interpret und Propagandist, der in Jena lehrende Zoologe Ernst Haeckel.

Ernst Haeckel – der frömmste aller Atheisten

Mit Ernst Haeckel (1834-1919) begegnet uns einer der schillerndsten Naturforscherpersönlichkeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Wie aber konnte er zum Schreckgespenst aller frommen Gemüter, Kirchenführer und Theologen werden? Anfangs war das nämlich überhaupt nicht abzusehen. Im Gegenteil: Ernst Haeckel kam aus einem überzeugt protestantischen Elternhaus. Beide Elternteile rühmten sich enger Kontakte zu Schleiermacher. Ein Onkel, Friedrich Bleek, hatte in Bonn den Lehrstuhl für biblische Exegese inne. Der 21-jährige Haeckel lobt 1855 die tiefe innere Frömmigkeit seiner Eltern. Der alleine „verdanke ich es, dass ich unter Verhältnissen, die das unerfahrene Kind nur zu leicht von aller Religiosität hätten losreißen können, immer und immer wieder von den auf mich einstürmenden widrigen feindlichen Einflüssen der umgebenden Menschen in das innere Heiligtum des christlichen Glaubens zurückgedrängt wurde“2. Als Schüler wie als Student ist Haeckel ein eifriger Gottesdienstbesucher, der sich Predigttexte und Predigtinhalte in seine Tagebücher notiert. Den Materialismus eines Ludwig Büchner lehnt der junge Medizinstudent vehement ab und bekennt, „wenn ich nicht die festeste Überzeugung ... von einem unsere Geschicke lenkenden Gott [besäße], ich hätte schon längst diesem Leben ein Ende gemacht“3.

Mit Haeckels insgesamt fast pietistisch zu nennender Glaubenshaltung geht jedoch auch ein nicht minder emotional gefärbter Antikatholizismus einher, der bald in einen geradezu abgrundtiefen Hass gegenüber der katholischen Amtskirche umschlagen soll. Von seinem Studienort, dem katholischen Würzburg, und auch von Italienreisen aus wettert er gegen „das höchst widerwärtige Treiben der Pfaffen und Mönche“4, aber eine richtige Begründung für seine Abneigung ist das eigentlich nicht. Vielleicht spielen Kindheitserfahrungen seiner Mutter eine Rolle, die als protestantisches Kind im katholisch-westfälischen Münster so einige traumatische Begegnungen gehabt hatte, die sie ihrem sensiblen Sohn weitergegeben hat. Aber gerade das ist typisch für Haeckels Religiosität. Sie ist wenig reflektiert. Noch in seinen Studienjahren erweist sie sich als eine Übernahme der Einstellungen seiner heiß geliebten Eltern, und sie bleibt bei einem fast kindlich zu nennenden Gottesbild stehen. Bis ins hohe Alter waren Haeckel richtunggebende Autoritäten wichtig, sogenannte „Seelenverwandschaften“, wie er es selbst ausdrückte. Das waren eben zunächst die Eltern, dann seine akademischen Lehrer, vor allem der bedeutende Pathologe Rudolf Virchow, dessen Assistent er in Würzburg war, und dann natürlich Darwin, mit dem ihn ein reger Briefwechsel verband. Zwei Dinge führten Haeckel schließlich in eine tiefe Glaubenskrise. Zum einen erlebte er in Würzburg die streng empirisch-induktive Vorgehensweise Virchows, der so etwas wie der deutsche Wissenschaftspapst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Das imponierte Haeckel und führte ihn schließlich von der Medizin in die sogenannte reine Naturforschung. Er wandte sich der Zoologie zu und errang dort bald große Anerkennung für seine Forschungen.

Der naturwissenschaftliche Materialismus führte aber gleichzeitig zu ersten Rissen in seinem Bibelglauben. Dann starb 1864, nach nur eineinhalbjähriger Ehe, Haeckels Ehefrau Anna Sethe. Haeckel schrieb später darüber: „Dieser harte Schicksalsschlag wurde für meine Entwicklung sehr folgenreich. Er vollendete meinen völligen Bruch mit dem Kirchenglauben und trieb mich der radikalsten Realphilosophie in die Arme.“5 Zur gleichen Zeit lernte Haeckel Darwins Werk über die Entstehung der Arten kennen. Nicht zuletzt auf dem Hintergrund seiner persönlichen Lebenseinschnitte wurde diese Lektüre für ihn zur entscheidenden Weichenstellung. Darwins Darlegungen klärten nicht nur seine Probleme, denen er als Zoologe nachgegangen war, sie befreiten ihn gleichzeitig von den Zweifeln an einen tyrannischen Gott. Indem er den biblischen Gott in die von ihm verehrte „herrliche“ und „göttliche“ Natur hinein auflöste, versuchte Haeckel Gottes Existenz für sich selber zu retten. Der die Natur durchdringende und ihre staunenswerte Harmonie bewahrende Gott war keine Macht mehr, die im persönlichen Alltag zu fürchten war.

Es war daher nur konsequent, dass Haeckel seine Naturphilosophie schließlich selbst als Theologie verstand. Und es ist auch klar, dass sich hier eine Konfrontation mit der herkömmlichen Theologie und Kirche anbahnen musste, vor allem wenn man wie Haeckel ein ungemein begeisterungsfähiger Mensch war, der in seinem Eintreten für eine als richtig erkannte Sache auf die Argumente und Gefühle von Andersdenkenden keine Rücksicht nahm.

Damit machte er sich auch innerhalb der Naturwissenschaften nicht nur Freunde. Aber er bemühte sich als einer der ersten deutschen Hochschullehrer bereits in den sechziger Jahren, die Öffentlichkeit mit den Lehren Darwins vertraut zu machen. Dabei überschritt er von vornherein auch die Grenzen, die sich Darwin selbst gesetzt hatte, und zog sofort anthropogenetische Konsequenzen, das heißt, er bezog den Menschen voll und ganz in die Entwicklung des organischen Lebens ein. Ebenfalls weit über Darwin hinausgehend interpretierte Haeckel die Entwicklungslehre auch sozial- und kulturgeschichtlich. In einer Rede vor Naturwissenschaftlern 1863 drückt er es so aus: „Dasselbe Gesetz des Fortschritts finden wir dann weiterhin in der historischen Entwicklung des Menschengeschlechts überall wirksam; ganz natürlich denn auch in den bürgerlichen und geselligen Verhältnissen sind es wieder dieselben Principien, der Kampf ums Dasein und die natürliche Züchtung, welche die Völker unwiderstehlich vorwärts treiben und stufenweise zu höherer Cultur emporheben ... Dieser Fortschritt ist ein Naturgesetz, welches keine menschliche Gewalt, weder Tyrannen-Waffen noch Priester-Flüche, jemals dauernd zu unterdrücken vermögen.“6

Obwohl das 19. Jahrhundert in besonderer Weise dem Fortschrittsoptimismus huldigte, fanden viele seiner Zuhörer Haeckels Folgerungen schlicht anmaßend. Auch seine Ausfälle gegen Kirche und Religion wurden von den meisten Naturwissenschaftlern nicht geteilt, auch wenn sicherlich viele von ihnen religiös indifferent eingestellt waren. Aber eben von dieser Rede an datiert Haeckels Streit mit der Kirche, eine Auseinandersetzung freilich, zu der Haeckel selbst mit seinen weit über Darwin hinausreichenden Theorien beigetragen hat. Haeckel wollte an diesem Punkt provozieren, und das gelang ihm auch.

Innerhalb der Naturwissenschaften stieß Haeckel daher auf energischen Widerstand vor allem bei Forschern wie Virchow, die zwar Darwins Theorien weitgehend beipflichteten, Haeckels immer weitergehenden gesellschaftlichen und sozialen Schlussfolgerungen aber nicht zustimmten. Und es wird zugleich klar, warum auch Darwins eigentlich brisantes Werk, „The Descent of Man“, bei seinem Erscheinen 1871 so wenig schockierte. Haeckels Thesen hatten Darwins Überlegungen zur Abstammung des Menschen bereits längst vorweggenommen, und für viele Interessierte in der deutschen Öffentlichkeit war schon jetzt nicht mehr klar zu unterscheiden, was Darwins tatsächliche Aussagen waren und was zur Interpretation Haeckels gehörte. Das führte schließlich zu der im Grunde widersprüchlichen Situation, dass sich innerhalb der Naturwissenschaften die Evolutionstheorie eher unspektakulär durchsetzte, zum wissenschaftlichen Alltag gehörte und zur Weitererforschung an die Spezialisten weitergegeben wurde. Man denke an die Wiederentdeckung der Mendel’schen Vererbungsgesetze und an die Entwicklung der modernen Genetik. In der Öffentlichkeit dagegen erlebten die Darwin’schen Gedanken in einer durch Haeckel und seine Gegner popularisierten Form ihre größte Verbreitung und tiefgreifendste gesellschaftliche Entwicklung erst Jahre später, nämlich um die Jahrhundertwende.

Die „wilden“ und die „zahmen“ Darwinisten

Entscheidend ist nun, dass den meisten Theologen, die sich mit naturwissenschaftlichen Themen auseinandersetzten, diese widersprüchliche Entwicklung durchaus bekannt war und sie dementsprechend darauf reagierten. Sie bemühten sich, zwischen Haeckel und Darwin zu unterscheiden. Sehr schön kann man das an dem bereits erwähnten Greifswalder Apologeten Otto Zöckler erkennen, einem durch und durch konservativen Theologen, der sich aber sehr intensiv mit den Entwicklungen in den Naturwissenschaften auseinandersetzte. In seinem 1877 und 1879 erschienenen zweibändigen Werk „Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissenschaften“, der umfangreichsten Auseinandersetzung zu diesem Thema, die jemals ein evangelischer Theologe geschrieben hat, betitelte er die Gegenwart bereits weitsichtig als das „Zeitalter des Darwinismus“.

Natürlich wurde Zöckler deswegen kein Freund Darwins. Die Abstammung des Menschen aus dem Tierreich lehnte er prinzipiell als gegen den biblischen Schöpfungsbericht gerichtet ab, ebenso die Selektionstheorie. Dennoch zweifelte er nicht an Darwins persönlicher Religiosität und Integrität. Er würdigte Darwins ungeheure Forschungsleistung, die – wie er anerkennend vermerkte – nicht einfach aus der Studierstube erwachsen sei, sondern sich vor allem auf die mehrjährige Weltumseglung mit der „Beagle“ gründe. Aber er vermutete in Darwin das Opfer falscher Freunde. Vor allem dem englischen Geologen Charles Lyell, der bereits vor Darwin aus seinen eigenen geologischen Forschungen heraus auf lange Entwicklungszeiten in der Erdgeschichte geschlossen hatte, warf Zöckler vor, darin unbewiesene und falsche Behauptungen in die Welt gesetzt zu haben, die Darwin kritiklos rezipiert habe. Zöckler versuchte nun eine Differenzierung vorzunehmen, die später auch von anderen Theologen gerne übernommen wurde. Er unterschied zwischen „zahmen“ und „wilden“ Darwinisten. Zu den zahmen gehörten alle, die Darwins Deszendenzlehre folgten, sich aber von der Selektionstheorie weitgehend distanzierten und die auf alle die Biologie überschreitenden weltanschaulichen Aussagen verzichteten, also auch keine antireligiösen Thesen vertraten. Von der Theologie hart zu kritisieren waren dagegen die wilden Darwinisten, die sich dieser Grenzziehung nicht unterwarfen, vor allem natürlich Ernst Haeckel und seine Schüler. Hierfür prägte Zöckler einen wichtigen Begriff: Er unterschied den Darwinismus vom „Haeckelismus“. Und gegen Haeckel richtete sich fortan sein ganzer Zorn und seine ganze Arbeitskraft, wobei er in seinem Kampfeseifer irgendwann übersah, dass Haeckel spätestens um 1900 von vielen seiner Kollegen aufgrund seiner allgemeinen wissenschaftlichen Leistungen zwar respektiert, wegen der quasireligiösen Auslegung seiner Ergebnisse aber auch oftmals belächelt und abgelehnt wurde. Zöckler tat freilich bis zu seinem Tod 1906 so, als ob Haeckel geradezu repräsentativ für alle biologischen und humanwissenschaftlichen Disziplinen spreche. Das aber war eben nicht der Fall.

War Zöckler ein Repräsentant des konservativen theologischen Lagers, so standen viele liberale Theologen Darwin wesentlich unbefangener gegenüber. Hier gab es – wie bei Albrecht Ritschl oder Wilhelm Herrmann – die Tendenz, sich auf eine klare Grenzziehung zwischen den Arbeitsaufgaben von Theologie und Naturwissenschaften zurückzuziehen. Dahinter stand die Trennung zwischen Geist und Natur. In der Natur gelten die Regeln des mechanistischen Materialismus, und hier sollen die Naturwissenschaftler frei und von aller Theologie unbeeinflusst forschen können. Der Mensch unterscheidet sich jedoch durch den Geist von der Natur, er steht der Natur gegenüber. Darin ist er Ebenbild Gottes. Natur und Geist zusammen bilden die Welt. Ihren Sinn, ihre Bedeutung, ihre Zielrichtung zu erkennen, das wiederum zu beantworten ist nicht Sache der Naturwissenschaften, sondern hier bedarf es der Theologie, die überhaupt erst zu verstehen lehrt, dass die Natur eben keinen bloß blinden kausalen Abläufen unterworfen ist, sondern darin Mittel ist für Gottes Handeln. Von daher kann die Theologie eine umfassende Weltanschauung entwickeln, die Naturwissenschaft aber nur Beschreibungen der Funktionsweise von Natur liefern, und insofern kommen sich beide auch nicht in die Quere – natürlich vorausgesetzt, sie mischen sich nicht in die jeweiligen Arbeitsgebiete der anderen ein.

Das klingt zunächst sehr einfach, aber vor allem Wilhelm Herrmann hat an dieser Stelle sehr tief über die Erkenntnismöglichkeiten der Naturwissenschaften nachgedacht. So stellte er die von den Naturwissenschaftlern bis heute gerne behauptete „Objektivität“ ihrer Forschung deutlich in Frage. Jeder Naturwissenschaftler geht von der Gesetzmäßigkeit in den natürlichen Ordnungen aus, aber gerade diese ist ja alles andere als selbstverständlich und auch nicht empirisch beweisbar. Insofern arbeiten auch die Naturwissenschaften unter subjektiv gesetzten Voraussetzungen. Hinter diese aber kann die Naturwissenschaft nicht vordringen. Sie kann also nie erklären, woher diese Ordnung stammt und was das Innere der Dinge ausmacht. Sie kann daher keine Aussagen über das Weltganze machen, und sie kann im Grunde nicht erklären, was die Seele ist. Hier setzen die sogenannten Geisteswissenschaften und die Theologie an und führen diese Fragen weiter. Um es mit Kant zu sagen, der natürlich für den Neukantianer Herrmann richtungsweisend gewesen ist: Das Ding an sich und eben auch das eigentliche Wesen des Menschen entzieht sich der natürlichen Erkenntnis.

Herrmanns Grenzziehung hatte für die Theologie erhebliche Folgen. Man konnte im Sinne des gegenseitigen sich nicht in die Quere Kommens auf jeden Dialog mit den Naturwissenschaften verzichten und brauchte sich nicht über das aufzuregen, was die Naturwissenschaftler immer wieder Neues erforschten. Und sollte ein Naturwissenschaftler wie Haeckel daraus eben doch weltanschauliche Folgerungen ziehen, dann überschritt er damit schlicht seine Kompetenzen, ohne dass das für den christlichen Glauben Folgen zu haben brauchte.

Man konnte sich aber als Theologe auch ganz unaufgeregt der naturwissenschaftlichen Forschung zuwenden, um zu sehen, wo es dort Erkenntnisse gab, die sozusagen auf eine höhere, geistige Ebene verwiesen und daher für die Theologie interpretierbar waren. Und hier gab es durchaus eine Reihe von Theologen, die vor allem in Darwins Entwicklungslehre wichtige Anknüpfungspunkte sahen. Wie man das machen konnte, hätte die deutsche Theologie dabei schon längst von angelsächsischen Theologen lernen können, aber in Deutschland liefen die Uhren dank Ernst Haeckel schlicht anders. Der Gedanke an eine evolutionäre Entwicklung auch außerhalb der biologischen Entfaltung der Arten hatte aber mittlerweile in vielen Disziplinen der Geisteswissenschaften Fuß gefasst. In den Sozial- und Staatswissenschaften gab es Modelle, in denen die Gesellschaft mit einem natürlichen Organismus verglichen wurde, der ebenfalls einem natürlichen Entwicklungsprozess folgte. Auch in den Geschichts-, Rechts-, Musik- und Sprachwissenschaften sowie in der Philosophie wurden biologistisch-evolutionäre Ansätze diskutiert.

In der Theologie waren es dann die Alttestamentler, die sich ganz still des Evolutionsgedankens bemächtigten. Sie hatten bei früheren Entwicklungsmodellen angesetzt, so bei den entsprechenden Spekulationen Hegels, so dass es auch für Hardliner unter den Darwinkritikern wie Zöckler gar nicht so schnell erkennbar war, was da passierte. Denn es war einer der bedeutendsten Alttestamentler, Julius Wellhausen, der dazu noch an der gleichen Fakultät wie Zöckler lehrte, in Greifswald, der in seiner 1878 erschienenen „Geschichte Israels“ einen sogenannten religionsgeschichtlichen Ansatz wählte und die Entstehung des Pentateuchs aus verschiedenen und auch zeitlich getrennten Quellen erklärte. Wellhausen zeigte den allmählichen Aufstieg Israels vom Poly- zum Monotheismus auf und machte die verschiedenen Stufen deutlich, die hier jeweils überwunden werden mussten. Konservative Kritiker, die davon ausgingen, dass mit der Gottesoffenbarung auf dem Sinai bereits alles fertig vorlag, schrien entsetzt auf. Dass sich die Jahwereligion erst gegen Baals- und assyrisch-babylonische Gestirngottheiten durchsetzen musste, klang doch verdächtig nach Kampf ums religiöse Dasein und Selektion. Um 1900 aber hatte sich die Wellhausen-Schule auf ganzer Linie durchgesetzt und die meisten ehemaligen Kritiker für sich gewonnen. Dies führte dazu, dass sich der Entwicklungsgedanke nun in allen theologischen Disziplinen durchzusetzen begann. Eine besondere Rolle spielte dabei der in Halle lehrende Systematiker Max Reischle, der sich darum bemühte, den traditionellen philosophischen Entwicklungsbegriff, wie ihn Hegel vertreten hatte, mit dem empirisch belegten Evolutionsbegriff Darwins zu vereinbaren. Reischle faszinierte, dass die Theologie dabei in naturwissenschaftlichen Theorien, und vor allem denen Darwins, Analogien zu biblischen Aussagen fand. Er verwies auf Jesu Gleichnisreden vom Werden des Reiches Gottes und vom Aufgehen und Wachsen des Wortes Gottes als Samenkorn, aber auch auf das christliche, teleologische, also zielgerichtete, Zeit- und Weltverständnis überhaupt, wonach Gott seine Schöpfung im Laufe der Geschichte zu ihrem Ziel bringt, gleichzeitig die Anfangsschöpfung selber auf stets neue Entwicklungsstufen führt. Von daher riet Reischle der Theologie, den Darwinismus einfach einmal gewähren zu lassen. „Aber dieses auch im vollen Sinn! Rückhaltlos haben wir das Recht der Naturwissenschaft zum Einschlagen solcher Wege zuzugeben; als durchaus begreiflich müssen wir es anerkennen, dass die Naturwissenschaft jene Theorie, die sich als ein ganz außerordentlich fruchtbares heuristisches (also: arbeitshypothetisches) Konzept erwiesen hat, solange als irgend möglich festhält und weiterverfolgt.“7

Kein Punkt der Überlegungen Darwins beinhalte zudem einen wirklichen Widerspruch gegenüber dem christlichen Glauben. Der Nachweis einer Gliederung der Natur in verschiedenen Stufungen hebe den Eigenwert der jeweiligen Naturwesen hervor und lasse etwas von der Entfaltung des göttlichen Heilsplanes mit der Welt erahnen. Auch der Nachweis eines Werdens und Vergehens in der Natur, jener von den Theologen meist abgelehnte „Kampf ums Dasein“, sei unter Umständen theologisch durchaus als Dienst und Opfer der einzelnen Lebewesen für andere zu interpretieren. Und schließlich beinhaltet Reischles „Gewährenlassen“ auch die Hypothese von der tierischen Abstammung des Menschen: Selbst wenn sich das bewahrheiten sollte, so steht doch außer Frage, dass mit dem Menschen eine göttliche Bestimmung verbunden ist, die unabhängig ist von der Abstammung des Menschen. Und schließlich vermag die Deszendenzlehre sogar ein Stück weit die Erbsündenlehre zu stützen, denn sie macht plausibel, warum im Menschen so starke triebhafte, ja bestialische Kräfte zu wirken vermögen. So konnte Reischle sich durchaus mit dem naturwissenschaftlichen Entwicklungsbegriff anfreunden, in der Theologie natürlich mit einer teleologischen Ausrichtung verbunden, also einer von Gott angelegten planvollen und zielgerichteten Entwicklung.

Dank Reischles grundlegender Studien und Analysen war der Entwicklungsbegriff spätestens um die Jahrhundertwende innerhalb weiter Teile der Theologie fest verankert und bot keinen Anlass mehr zu antidarwinistischer Polemik. Sicherlich reagierten aber nicht alle Theologen so begeistert wie Friedrich Naumann in einem fast hymnischen Satz: „Gott ist in der Entwicklung drin und jeder (also auch Darwin), der uns Entwicklungsgeschichte lehrt, ist Gottes Türhüter.“8 Nur wenige Jahre später machten dann aber auch konservative Theologen an dieser Stelle stillschweigend ihren Frieden mit Darwin. Einer ihrer prominenten naturwissenschaftlichen Gewährsleute, der Biologe Eberhard Dennert, erinnerte sich später daran, dass die meisten einfach versuchten, den Entwicklungsbegriff durch Umschreibungen wie „hervorgehen“, „umwandeln“ und „herausbilden“ zu umgehen, um ihren Kurswechel nicht zu deutlich werden zu lassen. Dennert: „Ich habe mich, als ich dies las, gefragt: wie ist so etwas nur möglich? Das ist ja nichts als kleinliche Wortklauberei!“9

Darwin also im Frieden mit der Mehrheit der evangelischen Theologen? Im Grunde und mit Blick auf viele Differenzierungen und immer noch bestehende Einwendungen: Ja! Dabei ist natürlich auch zu beachten, dass Darwins Lehren in den Jahrzehnten nach seinem Tod durch intensive Forschungsanstrengungen ständig korrigiert, erweitert und vor allem durch die Ergebnisse der Zellforschung und die Arbeiten auf dem neuen Gebiet der Genetik immer besser bewiesen und erklärt werden konnten. Aber da war ja immer auch noch der mittlerweile ebenfalls in die Jahre gekommene Ernst Haeckel. Und hier komme ich zurück zur Legendenbildung, von der ich anfangs gesprochen habe.

Ein Buch spaltet die Nation

Im Jahre 1899 veröffentliche Haeckel sein nicht naturwissenschaftliches, sondern sein, wie er selber meinte, philosophisches Lebenswerk, die „Welträtsel“. Es wurde der Bestseller schlechthin unter den Sachbüchern im Deutschen Kaiserreich. Haeckel hatte es auch nicht für die akademische Diskussion, sondern für das breite Massenpublikum geschrieben. Es war eine von Haeckel’schem Glaubenseifer durchdrungene Missionsschrift. Und für viele seiner Anhänger galt der Satz: „Die Welträtsel sind mein Erbauungsbuch, das Buch ist meine Bibel geworden.“10 Die heute eher grotesk wirkende Begeisterung für den neuen „Propheten“ Haeckel führte schließlich dazu, ihn 1904 anlässlich des Internationalen Freidenker-Kongresses in Rom feierlich zum „Gegenpapst“ auszurufen, eine Ehrung, die Haeckel erfreut entgegennahm.

Was aber stand denn nun in den „Welträtseln“ so Begeisterndes und Prophetisches drin? Das Buch hat vier Teile. Im ersten Teil gibt Haeckel einen recht seriösen Überblick über die Keimes- und Stammesgeschichte des Menschen. Im zweiten Teil geht es um die Seele. Haeckel sieht sie an ein materielles Substrat gebunden, das Psychoplasma. Im dritten Teil stellt Haeckel die Universalsubstanz vor, aus der praktisch die ganze Welt besteht. Es handelt sich um raumfüllende Materie, die bewegende Kraft besitzt, also Energie. Und diese Substanz ist mit dem Gottesbegriff identisch. Eine übernatürliche Gottheit schließt Haeckel aus. Im vierten Teil, betitelt „Der Gott“, macht Haeckel dann seine vernichtende Generalabrechnung mit dem Christentum und entwickelt einen eigenen Religionsersatz, den Monismus. Das heißt, alles in der Welt ist aus dem einen Prinzip der Universalsubstanz her ableitbar. Und nach den Regeln der Evolution wird dieser Monismus das veraltete Christentum ablösen.

Dann legt Haeckel ausführlich dar, was das praktisch bedeutet: Die Übereignung der leeren Kirchen an die neuen monistischen Gemeinden, eine neue monistische Ethik. Das Ganze war mit ziemlich viel Polemik und Stammtischparolen angereichert. Gott wurde als „gasförmiges Wirbeltier“ bezeichnet, es gab Ausfälle gegen den Katholizismus und massive antisemitische Äußerungen. Jesus wurde als Sohn eines römischen Hauptmanns dargestellt, da seine vornehme Art ja nicht semitisch sein könne, sondern eindeutig der höheren arischen Rasse angehöre.

Haeckels Ausführungen sind ein trauriger Markstein auf dem Weg zum sogenannten Sozialdarwinismus, also zum Missbrauch der Ideen Darwins für nationalistisch-chauvinistische, antisemitische und rassistische Weltanschauungen, die sich dabei als naturwissenschaftlich fundiert und also als „modern“ anpriesen. Es war, wie es der Soziologe Helmuth Plessner formuliert hat, der Beginn der Stunde der autoritären Biologie, die im weltweiten Rassismus des 20. Jahrhunderts und in den Gaskammern von Auschwitz ihren Höhepunkt fand. So gab es nicht nur fanatische Haeckelfans. Viele Gebildete reagierten entsetzt. Berühmt wurde der Aufschrei des Philosophen Friedrich Paulsen in den „Preußischen Jahrbüchern“: „Ich habe mit brennender Scham dieses Buch gelesen, mit Scham über den Stand der allgemeinen Bildung und der philosophischen Bildung unseres Volkes. Dass ein solches Buch möglich ist, dass es geschrieben, gedruckt, gekauft, gelesen, bewundert, geglaubt werden konnte bei dem Volk, das einen Kant, einen Goethe, einen Schopenhauer besitzt, das ist schmerzlich.“11

Kirche und Theologie reagierten auf Haeckels „Welträtsel“ erstaunlich zurückhaltend. Der große Protestschrei blieb aus. Selbst erfahrene Apologeten wie Otto Zöckler vertrauten darauf, dass sich Haeckel mit einem solchen Buch auch innerhalb der Naturwissenschaften isolieren und dadurch an Glaubwürdigkeit verlieren würde. Aber genau diese Reaktion blieb aus. Natürlich fanden nur wenige Naturwissenschaftler Gefallen an Haeckels weltanschaulichen Höhenflügen, und man schüttelte intern über ihn den Kopf. Nach außen aber überwog der Respekt für das frühere wissenschaftliche Werk Haeckels, und das führte zu einer Art stillschweigender Solidarität mit ihm. Für viele Leser aus dem Arbeiterstand klangen Haeckels Ausführungen sicherlich genauso absurd, aber es machte einfach Spaß zuzusehen, wie ein arrivierter Hochschulprofessor mit einer gutbürgerlichen Kirche Schlitten fuhr, die den Kontakt mit der Arbeiterschicht längst verloren hatte. Für Atheisten, Freidenker, Weltverbesserer, Konfessionslose, Antisemiten, von den Kirchen Enttäuschte, für sie alle war Haeckel der Held der Stunde.

Haeckels Anhänger bliesen weiterhin zum Angriff gegen die Kirchen, balgten sich bei lokalen Veranstaltungen mit erregten Pfarrern und konstruierten schließlich lautstark jene Geschichtslegende, dass es dabei nicht um die wirre Weltanschauung Haeckels, sondern insgesamt um Darwins Lehre gegangen sei. Das aber ist eben nicht das Thema gewesen, und mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem Tod Haeckels 1919 verlor das Thema sowieso das öffentliche Interesse. Der von Haeckel eigens gegründete Monistenbund hatte nie mehr als 3000 bis 4000 Mitglieder gehabt, also eine gegenüber seiner immensen Propaganda geringe Zahl, und auch er verschwand mit dem Tode Haeckels von der Bildfläche. Aber der erzeugte Lärm genügte eben, dass jene angeblich so tiefe Kluft zwischen Glauben und Wissen, zwischen Biologie und Theologie als historische Tatsache ausgegeben wurde. „Und sollte einmal die Wahrheit über die Legende herauskommen, drucken wir doch die Legende.“ Und die kann dann sehr, sehr langlebig sein.


Tilman Matthias Schröder, Stuttgart


Anmerkungen

1 Diesem Beitrag liegt ein Vortrag zugrunde, der am 4.12.2009 beim Studientag der Arbeitsstelle für Weltanschauungsfragen der Evang. Landeskirche in Württemberg gehalten wurde. Vgl. auch Tilman Matthias Schröder, Naturwissenschaften und Protestantismus im Deutschen Kaiserreich. Die Versammlungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und ihre Bedeutung für die Evangelische Theologie (Contubernium 67, Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte), Stuttgart 2008 (vgl. MD 12/2009, 473-476).

2 Zitiert nach Heinrich Schmidt, Ernst Haeckel. Leben und Werke, Berlin 1926, 26.

3 Ebd., 111f.

4 Ebd., 134f.

5 Zitiert nach Johannes Hemleben, Ernst Haeckel, der Idealist des Materialismus, Reinbek 1964, 73. – Im persönlichen Umgang mit Vertretern von Kirche und Theologie wird Haeckel auch während der späteren und von beiden Seiten polemisch geführten Auseinandersetzung mit der kirchlichen Öffentlichkeit als stets freundlich und zuvorkommend geschildert. Er selbst trat erst 1910 aus der Kirche aus. Seine Tochter ließ er in Jena von Otto Baumgarten, einem Kollegen aus der Theologischen Fakultät, trauen, „weil er sein Kind nicht ohne höhere Weihen ziehen lassen könne“ (Otto Baumgarten, Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, 93).

6 Ernst Haeckel, Ueber die Entwickelungstheorie Darwin’s, in: Amtlicher Bericht über die 38. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte in Stettin im September 1863, Stettin 1864, 17-30, hier 28.

7 Max Reischle, Christentum und Entwicklungsgedanke (Hefte zur „Christlichen Welt“ Nr. 31), Leipzig 1898, 21.

8 Friedrich Naumann, Briefe über Religion, Berlin-Schöneberg 1903, 20.

9 Eberhard Dennert, Hindurch zum Licht. Erinnerungen, Stuttgart 1937, 194.

10 Zitiert nach H. Schmidt, Ernst Haeckel, a.a.O., 430. – Solche Sätze verdichteten sich in einer zweibändigen Festschrift, die Haeckel zu seinem 80. Geburtstag 1914 überreicht wurde und die insgesamt 123 solcher Lobeshymnen unter dem Titel „Was wir Ernst Haeckel verdanken. Ein Buch der Verehrung und Dankbarkeit“ in sich vereinigte.

11 Friedrich Paulsen, Ernst Haeckel als Philosoph, in: Preußische Jahrbücher 101 (1900), 29-72, hier 72.