„Christen im Widerstand“ – Ein Pfingstpastor bei den Berliner Corona-Demonstrationen
Bei der Großdemonstration gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen am 29. August 2020 in Berlin ist auch der Pastor einer Berliner Pfingstgemeinde aufgetreten.1 Auf einer Bühne bei der Siegessäule bot Christian Stockmann ein Lied mit dem Titel „Wach auf, Deutschland“ dar. Musikalisch im Stil eines pfingstkirchlichen Lobpreis-Songs gehalten, wird darin die nahe Befreiung Deutschlands aus der Corona-Knechtschaft besungen:
„Furcht ist niemals ein guter Berater, sondern Glaube im Herzen, der Berge versetzt.
Furcht ist niemals ein guter Berater, sondern Hoffnung und Liebe vertreibt alle Angst.
Wach auf Deutschland, geliebtes Deutschland. Komm steh auf und werde wieder frei!
Wach auf Deutschland, mein geliebtes Deutschland. Die Zeit deiner Knechtschaft ist vorbei!
Wir beten für Deutschland, geliebtes Deutschland. Du bist gesegnet und befreit.
Ich bete für Deutschland, mein geliebtes Deutschland. Die Zeit deiner Knechtschaft ist vorbei!
Wo seid ihr, ihr Söhne und Töchter, steht endlich auf!
Oder wollt ihr für immer mit Masken auf Abstand leben?
Wo seid ihr, ihr Väter und Mütter, steht endlich auf!
Oder wollt ihr die Kinder der Furcht und der Angst übergeben?
Erhebt euch, ihr Kinder des Höchsten, steht endlich auf!
Verkündet die Botschaft des Friedens, tragt sie hinaus!
Erhebt euch, ihr Krieger des Lichts, steht endlich auf!
Die Stimme der Wahrheit und Liebe wird dringend gebraucht!“
Stockmann, Pastor der Berliner „Mandelzweig“-Gemeinde, eröffnete den Auftritt mit scharfer Kirchenkritik:
„Ich konnte meinen Augen und Ohren nicht trauen: Die Kirche hat komplett geschwiegen. Und ich stehe heute hier und sage: Nein, das kann nicht sein. Gerade in Zeiten der Not muss die Kirche für die Menschen da sein. Es ist schier unglaublich, wie viele Pastoren sich nicht gemeldet haben. Die Kranke alleine lassen, die Sterbende nicht besuchen. Wir haben von Anfang an gesagt: Nein, und wir haben das Netzwerk gegründet ‚Christen im Widerstand‘. Und momentan werden wir jeden Tag 10 bis 20 Leute mehr in Deutschland.“
Zum Abschluss ließ Stockmann noch verlauten:
„Ich habe wirklich den Eindruck, dass wir hier in unsrem Land, hier mit dieser Bewegung, das Mandat haben, der ganzen Welt Freiheit zu geben. Glaube versetzt Berge! Und unsere Botschaft als ‚Christen im Widerstand‘ ist: Liebe ist immer stärker als der Tod. Licht vertreibt jede Finsternis … Die Wahrheit ist mächtiger als die Lüge. Heute kommt ans Licht, dass über eine Million Menschen, zwei Millionen Menschen, ich weiß es nicht, hier versammelt sind. Die Wahrheit kommt ans Licht, jawohl! Ich möchte euch mit einer guten Botschaft hier raussenden: Wenn Gott mit uns ist, wer könnte dann gegen uns sein? (vgl. Röm 8,31) Und ich kann euch versprechen – hab’ die ganze Bibel studiert! – ich kann euch versprechen, dass Gott, der Gott, an den wir glauben, Jesus Christus, er ist auf der Seite derer, die die Wahrheit lieben, sich für Gerechtigkeit und Frieden einsetzen und ein aufrichtiges Herz haben. Er ist mit uns, er hilft uns, und es wird uns gelingen, wir werden diese finsteren Machenschaften zurückdrängen. Jawohl.“
Schon vor der Berliner Großdemonstration Ende August (an der nach Polizeiangaben „mehrere zehntausend Personen“2 teilgenommen haben), ist Stockmann bei Corona-Demonstrationen aufgetreten.3 Bei einer „Querdenken“-Demo in Forchtenberg (nahe Heilbronn) am 22. August verkündete Stockmann im Blick auf die Berliner Veranstaltung eine Woche später: „Ich sehe drei Millionen Menschen vor meinem inneren Auge, die am 29. August diese ganze Stadt vollmachen.“
In einem Interview bei der Corona-Demonstration am 2. August in Berlin sagte Stockmann, man könne sich als Gemeinde nicht an die vorgeschriebenen Hygieneregeln für Gottesdienste halten. Denn: „Über 200 Mal befiehlt Gott [in der Bibel]: Lobe den Herrn, singt dem Herrn! Das heißt, du musst dich entscheiden: Glaub’ ich dem Wort Gottes – Gott möchte, dass wir laut singen – oder gehorch ich …“
Der Satz bricht ab, zu ergänzen ist: oder gehorche ich den staatlichen Anordnungen. Auch das Tragen von Mund-Nasen-Schutz in der Gemeinde kommt für Stockmann nicht infrage. Denn in der Bibel gebiete Gott den Gläubigen, Gemeinschaft untereinander zu haben, und das werde nicht zuletzt durch das Maskentragen unmöglich. „Aus Gewissensgründen bin ich ein Maskenverweigerer …, weil die Bibel ganz klar sagt, dass es nur so geht.“ Es folgen noch einige wirre Aussagen zu der im Grundgesetz festgehaltenen Souveränität des Volkes, mit der Schlussfolgerung: „Die Regierung muss weg, weil: sie hat das Grundgesetz gebrochen.“4
Im Zuge seines Engagements gegen die Corona-„Knechtschaft“ hat Stockmann das Netzwerk „Christen im Widerstand“ begründet, das sich mit einer gleichnamigen Website im Internet präsentiert.5 Wie Äußerungen von ihm belegen, stellt sich Stockmann mit der Initiative bewusst in die Tradition des christlichen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Wie einst die Vertreter der Bekennenden Kirche seien die Kirchenvertreter in der gegenwärtigen Krise dazu gerufen, Widerstand gegen den Staat und seine grundgesetzwidrigen Maßnahmen der Freiheitsberaubung zu leisten: „Dietrich Bonhoeffer hat den richtigen Weg eingeschlagen, und das ist unser Vorbild.“ Pfarrer, die den staatlichen Hygieneanordnungen Folge leisten, vergleicht Stockmann mit Pfarrern, die damals für Hitler gebetet und den Hitler-Gruß gezeigt haben.6 Er greift damit – direkt oder vermittelt über Belehnungen anderer – einen erinnerungspolitischen Topos des evangelikalen Bonhoeffer-Biografen Eric Metaxas auf, der mit der Behauptung eines „Bonhoeffer-Moments“ in Amerika zum Widerstand gegen den Verfall von Sitte und Moral in der Ära des demokratischen Präsidenten Barack Obama aufrief.7
Alle genannten Vergleiche der Gegenwart mit der Situation des nationalsozialistischen Totalitarismus ruhen auf einem so inadäquaten Vergleichspunkt auf, dass sich jede argumentative Auseinandersetzung eigentlich erübrigt. Die Gleichschaltung der Kirchen im Dritten Reich und das temporäre Versammlungsverbot in den ersten Monaten der Corona-Pandemie – in der Tat: in beiden Fällen griffen staatliche Akteure in das kirchliche Leben ein. Den Widerstand gegen die jeweiligen Maßnahmen auf einen Vergleichsnenner zu bringen ist dennoch vollkommen abwegig. Der Wille zur religiösen und historischen Überhöhung der eigenen Position trübt hier offensichtlich das historisch-politische Urteil. Wer sich einen Sinn für Verhältnismäßigkeit bewahrt hat, wird die besagte Selbstinszenierung als geschmacklos und peinlich empfinden. Sie diskreditiert – der Sache nach womöglich diskutable – Anfragen an konkrete politische Maßnahmen als Elemente einer politisch-religiösen Farce und entzieht sie damit der vernünftigen Debatte. Damit trägt sie zu einer politischen Polarisierung bei, die dem „geliebten Deutschland“ sicher nicht gut bekommt.
Martin Fritz, 01.11.2020
Anmerkungen
1 Vgl. zum Folgenden https://christen-im-widerstand.de (Abruf der angegebenen Internetseiten: 10.9.2020).
2 Vgl. https://archive.is/PVBn5. Ferner: https://correctiv.org/faktencheck/2020/08/31/nein-in-berlin-haben-am-29-august-nicht-vier-millionen-menschen-demonstriert. Nach Recherchen von „correctiv“ wurden kursierende Behauptungen, es hätten bis zu vier Millionen Menschen an den Berliner Demonstrationen teilgenommen, mit Luftbildern von Berliner Love-Parades der Jahre 1999 und 2003 belegt, die jeweils ca. 1,5 Millionen Besucher hatten.
3 Vgl. www.youtube.com/watch?v=RQq2UAUPu8c&feature=emb_rel_pause; www.youtube.com/watch?v=gJeyfs2uK0k.
4 Vgl. ebd.
5 https://christen-im-widerstand.de.