Christengemeinschaft
Mit seiner ungewöhnlichen Architektur zieht ein Sakralbau der Christengemeinschaft (CG) den Blick des Betrachters auf sich. Die organischen und geometrischen Formen erinnern an die anthroposophische Bauweise. Das ist kein Zufall. Die CG, die sich als „Bewegung für religiöse Erneuerung“ bezeichnet, ist von der Anthroposophie Rudolf Steiners inspiriert. Sie will in ihren Gemeinden Menschen vereinen, „die in einer zeitgemäßen Form Christen sein wollen“. Wesen und Zentrum der CG bilden der neue Kultus und die Sakramente. Ungewöhnlich ist auch ihr theologischer Sprachgebrauch. Ihr Gottesdienst heißt „Menschenweihehandlung“. Im Unterschied zu den klassischen Sondergemeinschaften handelt es sich nicht um eine Laienbewegung, sondern um eine Gemeinschaft, die sich auf Lehrfreiheit beruft und in der das priesterliche Amt, zu dem auch Frauen zugelassen sind, eine besondere Rolle spielt.
Geschichte
Die CG zählt zu den wenigen Sondergemeinschaften, die im deutschen Sprachraum entstanden sind. Untrennbar mit ihrer Entstehungsgeschichte sind zwei Personen verbunden: Rudolf Steiner (1861–1925), der „Entdecker“ der Anthroposophie, und der evangelische Theologe Friedrich Rittelmeyer (1872–1938), der zu ihrer prägenden Führungsgestalt werden sollte. Am 16. September 1922 wurde die CG offiziell gegründet. An diesem Tag vollzog Rittelmeyer in Anwesenheit Rudolf Steiners die erste Menschenweihehandlung im weißen Saal des Goetheanums in Dornach/Schweiz. Steiner selbst hatte die Bezeichnung „Menschenweihehandlung“ als Äquivalent zu „Initiation“ bzw. „Weihe“ vorgeschlagen, um damit die Zurückführung des Menschen zu seinem göttlichen Ursprung zum Ausdruck zu bringen.
Der offiziellen Gründung waren verschiedene Etappen vorausgegangen. Bereits am 21. Mai 1921 traten rund 20 Studenten, die auf der Suche nach einer Erneuerung des Christentums waren, mit der Bitte an Steiner heran, die Anthroposophie für das religiöse Gebiet fruchtbar zu machen. Daraufhin führte Steiner vom 12. bis 16. Juni 1921 den ersten „Theologenkurs“ durch. Steiner trat der neuen Gemeinschaft nicht bei. Er wollte Anthroposophische Bewegung und Christengemeinschaft voneinander getrennt wissen. Gleichwohl hat Steiner den Wortlaut des Kultus übermittelt und das bis heute gültige Glaubensbekenntnis der CG formuliert. Die Selbstbezeichnung „Christengemeinschaft“ sollte das überkonfessionelle Anliegen zum Ausdruck bringen, um über Katholizismus und Protestantismus hinaus die dritte Kirche zu errichten. Im Zentrum der religiösen Praxis steht der neu offenbarte Kultus. Den Wortlaut hat Rudolf Steiner den ersten Priestern der CG in mehreren Schulungskursen zwischen 1921 und 1924 in fünf Zusammenkünften (jeweils mit einer Dauer zwischen 4 und 18 Tagen) mitgeteilt.
In den folgenden Jahren gelang es, in Deutschland mehrere Gemeinden zu gründen, bald auch in Prag, in der Schweiz, in Österreich, Norwegen, Holland, Schweden und England. 1925 wurde zur Verbreitung des Schrifttums der „Verlag der Christengemeinschaft“ (heute Verlag Urachhaus) in Stuttgart gegründet. Ebenfalls in Stuttgart richtete die CG 1933 ein Priesterseminar ein, dessen erster Bau während des Zweiten Weltkrieges zerstört wurde. 1941 verhängten die Nationalsozialisten ein Verbot gegen die CG. Nach 1945 nahm diese ihre Arbeit wieder auf und gründete zahlreiche neue Gemeinden in Europa. 1953 entstand in Stuttgart ein neues Seminargebäude. 1960 wurde der Verband der Sozialwerke der CG ins Leben gerufen. Zu dessen Tätigkeitsfeldern zählen u. a. Kinder- und Jugendfreizeiten sowie Fortbildungsangebote für Gruppenleiter und Mitarbeiter in der Altenpflege.
Das Hauptverbreitungsgebiet der CG liegt im nord- und mitteleuropäischen Raum; einzelne Gemeinden wurden seit den 1990er Jahren neu gegründet, wie in Tschechien, Russland, Estland, in der Ukraine und in Georgien. In den letzten Jahren ist es der CG aber gelungen, auch auf anderen Kontinenten Gemeinden zu gründen. Außerhalb Europas bestehen einzelne Gemeinden in Nord- und Südamerika, Australien, im südlichen Afrika und in Japan (Tokio). Allerdings konnte die Gemeinschaft in jüngster Zeit keine nennenswerten Zuwachsraten verzeichnen. Die Zahl der Mitglieder wird nicht systematisch erfasst. Nach Schätzungen hat die CG im deutschsprachigen Raum rund 10000 Mitglieder mit einem fünfmal größeren Sympathisantenkreis. Weltweit dürfte sich die Zahl auf 30 000 mit einer ebenso hohen Anzahl an Freunden und „Zugehörigen“ belaufen.
Lehre und Praxis
Die CG versteht sich als Kultusgemeinschaft und beansprucht Lehr- und Bekenntnisfreiheit. Ihre kultischen Grundlagen stützen sich außer auf biblische – vor allem neutestamentliche – Aussagen (die meist spirituell-esoterisch bzw. allegorisch gedeutet werden) auf die Anthroposophie Steiners. Seine „Geisteswissenschaft“ dient dabei als hermeneutischer Schlüssel für die Interpretation der Bibel. In der Informationsbroschüre „Die Christengemeinschaft – eine erste Orientierung“ heißt es: „Seine Geisteswissenschaft (Anthroposophie) ist die Grundlage für eine Erweiterung der Theologie; sie will neue Wege zum Verständnis der christlichen Wahrheiten in einer unserer Zeit entsprechenden Form zeigen.“ Die von Steiner durch geistige Schau vermittelten Ritualtexte und seine Hinweise zur Ausübung des Kultus gelten für den einzelnen Priester als verbindlich. Er darf keine Auffassungen vertreten, die dem Inhalt des durch Steiner dargereichten Kultus widersprechen. Der Kultus ist neben dem Neuen Testament als zweite Offenbarungsquelle zu betrachten (Debus, 21). Demnach hätte Steiner den Kultus aus der Christus-Offenbarung heraus „vermittelt“. Der Kultus sei letztlich „durch Anthroposophie dargereicht“. Nicht „Dogmatik“, sondern das religiöse Erlebnis ist nach Meinung der CG für den Wahrheitsgehalt ausschlaggebend: Die „Kultuslautworte“ würden sich im Erleben des Kultus selbst bestätigen. Daher lehnt es die CG ab, den Wortlaut des Kultus zu veröffentlichen. Er soll vielmehr gehört und erlebt werden.
Zentraler Kultus im religiösen Leben der CG ist die Menschenweihehandlung, die vom Priester täglich gefeiert wird. Ihr Ablauf orientiert sich im Wesentlichen am katholischen Messritus und umfasst vier Teile: Evangelienlesung, Opferung, Wandlung, Kommunion sowie wechselnde Epistellesungen und – je nach liturgischem Anlass – auch kürzere Gebete (sog. „Einschaltungen“) zwischen den Hauptteilen. Weitere Elemente der Menschenweihehandlung sind das von Steiner formulierte Glaubensbekenntnis der CG, eine kurze Predigt und das Vaterunser. Im Vollzug der Menschenweihehandlung finden liturgische Gewänder, Ministranten und Weihrauch Verwendung. Im Credo, dem einzig verbindlichen öffentlichen Text der CG, treten ihre Besonderheiten deutlich hervor:
• So ist die Rede von einem „allmächtigen geistig-physischen Gotteswesen“ als Daseinsgrund, das unpersönliche Züge aufweist.
• Christus, nach Steiner der hohe Sonnengeist, ist die beherrschende Mitte des Kultus der CG. Seine Sendung wird im kosmischen Rahmen begriffen und gilt der gesamten Menschheit und dem Universum. Christus wird zu Grund, Mitte und Ziel für den Prozess der Durchgeistigung des Irdischen.
• Das Credo der CG deutet die Sündhaftigkeit vom Wesen des Menschen her. Es ist demnach erkrankt und droht zu ersterben. Sünde wird wesentlich als „Krankheit an dem Leiblichen“ verstanden. Gnade ist in diesem Verständnis lediglich ein Gnadenimpuls, mit dem die Glaubenden arbeiten müssen. Ziel sei letztlich die Vergeistigung des Wesenhaften. Diese Wesensverwandlung steht in enger Beziehung zum „Weltenfortgang“ kosmischen Ausmaßes. In diesem Zusammenhang gibt es innerhalb der CG eine große Offenheit für die anthroposophische Karma- und Reinkarnationsvorstellung, die zwar nicht offiziell gelehrt wird, die letztlich aber als grundlegend für das Wirken der CG vorausgesetzt werden kann.
Die CG kennt insgesamt sieben Sakramente: Taufe, Konfirmation, Menschenweihehandlung, Beichte, letzte Ölung, Priesterweihe und Trauung. Unterschiede zu den großen christlichen Kirchen zeigen sich besonders in ihrem Verständnis der Taufe, die in der CG im Regelfall nur bis zum 14. Lebensjahr vollzogen wird. Sie wird als Inkarnationshilfe verstanden: Die vorgeburtliche Seele soll in den menschlichen Körper einziehen. Als Taufsubstanzen dienen Wasser, Salz und Asche. Diese triadische Substanz soll mit der Trichotomie des Menschen und letztlich mit der göttlichen Trinität korrespondieren (Debus, 121).
In der CG gibt es elf Kultushandlungen mit einem je eigenen Kultuswortlaut. Zu den Kultushandlungen zählen neben den sieben Sakramenten die Sonntagshandlung für Kinder, die Weihnachtshandlung für Kinder (meist am 25. Dezember), das Kinderbegräbnis sowie die Bestattung. Ein Kirchenaustritt wird von der CG nicht erwartet, sondern dem freien Ermessen des Einzelnen überlassen, sodass Doppelmitgliedschaft prinzipiell möglich ist.
Die CG weist eine priesterschaftlich-hierarchisch geprägte Organisationsform auf: Auf geistlicher Ebene wird sie vom „Siebenerkreis“ geleitet, dem der Erzoberlenker, zwei Oberlenker und vier Lenker angehören. Sitz des Erzoberlenkers und der Leitung ist Berlin. Seit 2005 amtiert Vicke von Behr (Jahrgang 1949) als „Erzoberlenker“. Seine Vorgänger waren Friedrich Rittelmeyer (am 24. Februar 1925 zum ersten Erzoberlenker der CG ernannt), Emil Bock, Rudolf Frieling und Taco Bay.
Die Gesamtbewegung ist als Stiftung holländischen Rechts unter dem Namen „Stichting de Christengemeenschap (international)“ eingetragen. Die Mitgliedschaft ist erst ab einem Alter von zehn Jahren möglich. Priester werden in der Freien Hochschule der CG in Stuttgart, in der „Stiftung Priesterseminar“ in Hamburg sowie im Seminar in Chicago/USA ausgebildet. Ein berufsbegleitendes Priesterseminar befindet sich in Köln.
Einschätzung
Zwischen Vertretern der evangelischen Kirche und der CG hat es in den letzten Jahrzehnten vielfältige Kontakte und Gespräche gegeben. Die publizierten Ergebnisse haben – trotz mancher weiterführenden Impulse – die Unterschiede zwischen evangelischer und christengemeinschaftlicher Theologie deutlich hervortreten lassen. Die Abhängigkeit von anthroposophischen Überzeugungen, nicht zuletzt in Gestalt der durch Steiners geistige Schau vermittelten „Kult-Neuoffenbarung“, entfremdet die CG von biblisch gewonnenen Grundeinsichten, denen sich die christlichen Kirchen verpflichtet wissen. Der Sonderweg der „Bewegung für religiöse Erneuerung“ zeigt sich nicht zuletzt in ihrem Taufverständnis, das von einer vorgeburtlichen Existenz der Seele ausgeht. Die Taufe der CG wird von der Evangelischen Kirche in Deutschland (nach mehreren Beratungen in den Jahren 1949, 1968 und 1969), aber auch von der katholischen Kirche nicht anerkannt. Der von Steiner geformte Kultus, sein Vollzug und sein Erleben, hat in der CG die gleiche Autorität wie die biblischen Schriften. Insofern handelt es sich bei der „Christengemeinschaft – Bewegung für religiöse Erneuerung“ um ein anthroposophisch interpretiertes Christentum neben den konfessionellen Kirchen.
Dr. Matthias Pöhlmann
Literatur (in Auswahl)
Quellen
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Dellbrügger, Günther, „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt“. Zur Durchdringung des Karmagedankens, Stuttgart 2004
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Zeitschrift: Die Christengemeinschaft – Monatsschrift zur religiösen Erneuerung (2010 im 82. Jahrgang)
Aus historiografischer Sicht
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Aus kirchlich-theologischer Sicht
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Fincke, Andreas (Hg.), Anthroposophie – Waldorfpädagogik – Christengemeinschaft. Beiträge zu Dialog und Auseinandersetzung, EZW-Texte 190, Berlin 2007
Krech, Hans / Kleiminger, Matthias (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006, 272-286
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Internet
www.christengemeinschaft.org
www.priesterseminar-stuttgart.de
www.cg-sozialwerke.de