Christengemeinschaft diskutiert über Kultusänderung
(Letzter Bericht: 10/2011, 392f) In der Christengemeinschaft (CG) gibt es eine erneute Debatte über eine Änderung des Kultus. Der Gottesdienst, „Menschenweihehandlung“ genannt, verläuft seit Gründung der CG 1922 nach einem wörtlich festgelegten Ritus, der auf Rudolf Steiner persönlich zurückgeht und dessen Wortlaut die Gründer als unveränderlich festschrieben. Innerhalb der CG unterliegt die Liturgie der Menschenweihehandlung dem Prinzip der Mündlichkeit, sie darf also nur mündlich tradiert, nicht aber in Schriftform veröffentlicht werden. Jahrzehntelang befand sie sich daher nur handschriftlich in den Händen der CG-Priesterschaft. Dahinter steht der Gedanke, dass der Ritus sich nur im Vollzug des Sprechens und Handelns erschließt und nur so wirksam ist, das Drucken und Nachlesen würde aus dem lebendigen Vollzug quasi einen toten Buchstaben machen. Es handelt sich dabei nicht um Geheimhaltung, denn der Kultus ist öffentlich und jedermann zugänglich. Allerdings ist durch das Internet der Wortlaut heute in Sekunden auffindbar.
Eine Änderung der Wortgestalt des Kultus wäre ein gravierender Schritt. Denn die Priester der Christengemeinschaft haben zwar formal „Lehrfreiheit“, das heißt, es gibt keine verbindliche Dogmatik oder verbindliche Bekenntnisschriften, die den inhaltlichen Zusammenhalt der Gemeinschaft garantieren. Genau diese Funktion erfüllt nun aber die wörtlich tradierte Liturgie, was die „Lehrfreiheit“ wiederum relativiert. Die Liturgie gilt in genau dieser sprachlichen Gestalt als eigene Form der Offenbarung, die Rudolf Steiner empfangen hat. Gegenwärtig zeigt sich nun mehr und mehr, dass die fast hundert Jahre alten Texte, die Steiner zudem in dem ihm eigenen, schon damals antiquierten, vorgeblich Goethe nachempfundenen Stil verfasst hat, sprachlich schlecht gealtert sind. Sie wirken heute oft manieriert und unverständlich.
Der Herausgeber der anthroposophischen Zeitschrift „Flensburger Hefte“, Wolfgang Weirauch, Anthroposoph und Waldorflehrer, hat nun ein Sonderheft unter dem Titel „Hat die Christengemeinschaft eine Zukunft? Fünf Gespräche mit einem Geistwesen“ veröffentlicht (Sonderheft 32, Flensburg 2012). Darin zeichnet er ein düsteres Zukunftsbild der CG, die stark überaltert und von Nachwuchssorgen geplagt sei. Als Gegenmaßnahme plädiert er unter anderem für eine Reform der Kultussprache.
Diese Anregung hat Ulrich Meier, Leiter des Priesterseminars der CG in Hamburg, aufgegriffen und in der Zeitschrift „Die Christengemeinschaft“ (2/2013) zur Diskussion gestellt. Nach seiner Wahrnehmung taucht ohnehin in den Gemeinden immer wieder die Frage auf, ob die sprachliche Unveränderlichkeit des Kultus angesichts seiner Schwerverständlichkeit noch angemessen sei. „Bleibt die liturgische Gestalt der Christengemeinschaft unverändert, dann kann sie nicht die Kirche für alle Menschen und für alle Zeiten sein.“ Er schlägt vor, die Zeitlichkeit der Kirche und ihres Kultus anzunehmen, wofür er die Inkarnation Gottes in den sterblichen Menschen Jesus als Vergleich heranzieht. So wie Gottes Leibwerdung ein Sterben umfasste, so könnte auch eine Kirche „mit der Idee des unveränderlichen Kultus ... Sterbeübungen verbinden.“
Die nachfolgenden Leserbriefe zeigen, dass der Beitrag seine Wirkung erzielt hat. Es gibt lebhafte Debatten in den Gemeinden, wobei sich konservative und veränderungswillige Stimmen nach Aussage Meiers die Waage halten. Der Autor aber sah sich genötigt, leicht zurückzurudern. Er habe nicht für eine Veränderung des Kultus plädieren wollen, sondern nur das Gespräch und Nachdenken darüber anregen, was die Unveränderlichkeit des Kultus langfristig bedeuten könne (Die Christengemeinschaft 4/2013). Außerdem plädierte er für zusätzliche Andachtsformen neben der Menschenweihehandlung, da solche neuen Formen nicht an die alten Ritualtexte gebunden seien.
Interessanterweise hat die CG dort, wo sie die Freiheit zur Veränderung hat, nämlich in den nicht deutschsprachigen Verbreitungsgebieten, ihre Kultussprache mehrfach überarbeitet und zum Beispiel im englischsprachigen Raum die früheren Übersetzungen gründlich modernisiert, deren Sprache sich zum Teil an die 400 Jahre alte King-James-Bibel angelehnt hatten. Die Frage ist, inwieweit dieser missionspraktisch unvermeidliche Zugang grundsätzliche theologische Implikationen hat, die auch die Unveränderlichkeit und wortwörtliche Offenbarungsqualität von Steiners Urfassung der deutschen Liturgie betreffen.
Kai Funkschmidt