Christliche Identität, alternative Heilungsansätze und moderne Esoterik
Grundsätze zur Orientierung für Kirche und Gemeinde (erster Teil)
Im Zusammenhang der Studientagung „Christliche Identität und alternative Heilungsansätze heute“, die im Christian Jensen Kolleg, Breklum, stattfand (31.10.06 - 2.11.06), haben Reinhard Hempelmann (Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, EZW), Dietrich Werner (Nordelbisches Missionszentrum, NMZ), Harald Lamprecht (Evangelisch-Lutherische Kirche Sachsen) und Ulrich Läpple (Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste, AMD) ein Grundsatzpapier vorgestellt, das im Folgenden in seinen ersten 13 Thesen dokumentiert wird. Der MD 4/2007 wird die Dokumentation mit einem zweiten Teil fortsetzen. Im Rahmen der EZW-Texte werden weitere Beiträge der Tagung im Frühjahr 2007 publiziert werden.
1. Ausgangspunkte und Ziele
Wenn Menschen heute krank werden, suchen sie oft nicht nur Hilfe beim Arzt, sondern auch beiHeilpraktikern, Heilern, Therapeuten, Meditationslehrern und Energetikern. Das Feld ist unübersehbar geworden. Angeboten wird Heilung durch geheimnisvolle Strahlung von Steinen, Rebalancing von Seele und Körper durch Qi Gong, Heilung der Aura durch Duftöle, Lösung von „Energieblockaden“ durch Reiki … Auch vor den Türen der christlichen Kirchen macht diese Entwicklung nicht Halt. Doch wie sind ihre Wirksamkeit, ihre Seriosität oder ihre weltanschaulich-religiösen Voraussetzungen zu beurteilen? Für Mitglieder der christlichen Kirchen stellt sich dabei die Frage, welchen Behandlungsformen sie persönlich ihr Vertrauen schenken möchten. Zum anderen sind Gemeinden als ganze herausgefordert zu klären, wie sie sich zu Heilungsansätzen einer bestimmten Richtung verhalten, wenn z.B. in kirchlichen Räumen oder kirchlichen Bildungsstätten entsprechende Kurse angeboten werden. Dabei sind zwei idealtypische Reaktionen zu beobachten:
- Einerseits die pauschale Ablehnung, die getragen und motiviert ist von der Erfahrung, dass viele dieser Verfahren mit außerchristlichen religiösen Vorstellungen und Praktiken verknüpft sind. Die berechtigte Sorge vor einer Verfremdung des christlichen Glaubens führt dazu, vorschnell das zu verdammen, was der eigenen Kulturprägung nicht entspricht.
- Auf der anderen Seite steht eine kritiklose Annahme. Sie ist bestimmt durch die zunächst berechtigte Einsicht, dass es zwischen Himmel und Erde mehr als das gibt, was wissenschaftlich beweisbar ist, dass auch andere Völker hilfreiche Erfahrungen und eigene Ansätze in der Behandlung von Krankheiten gewonnen haben. Die Offenheit für neue Techniken und Therapien geht mit einer weitgehenden Unfähigkeit einher, religiöse Vereinnahmungen und psychosoziale Abhängigkeiten zu erkennen, die sich aus manchen dieser Verfahren ergeben können.
Der vorliegende Grundsatztext möchte aus der Mitte der christlichen Heilsbotschaft Orientierungsperspektiven und Kriterien für den Umgang mit alternativen Heilweisen aufzeigen und dafür plädieren, die berechtigten Anliegen beider Reaktionsmuster aufzugreifen, ihre Übertreibungen und Irrtümer jedoch zu vermeiden. Dabei können nicht alle einzelnen Diagnose-, Therapie- und alternativen Heilungsverfahren bewertet werden. Vielmehr werden aus der Perspektive des evangelischen Verständnisses von Gott, Mensch und Welt Kriterien benannt, die zu einer differenzierten Beurteilung befähigen sollen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass diese Einsichten für die kirchliche Praxis fruchtbar werden:
- sowohl für anstehende Entscheidungen, zum Beispiel in einem Kirchenvorstand oder in einer Gemeinde im Blick auf alternative Heilungspraktiken (Binnenorientierung: Selbstverständigung),
- wie auch für den immer wichtiger werdenden Dialog mit Menschen, die durch alternative Heilungspraktiken einen neuen Zugang zu spirituellen Vollzügen gefunden haben (Außenorientierung: Dialog).
Der Orientierungstext möchte auch zu einem interdisziplinären Dialog über Gesundheit, Heilung und Spiritualität beitragen, der in anderen Regionen wie Südafrika, Norwegen und Amerika bereits seit längerem unter dem Motto „Religious Health Assets“ bekannt ist und auch in Deutschland eine wichtige Zukunftsaufgabe und Chance für kirchliches Handeln darstellt.
A. Wiederkehr der Religiosität in der Gesellschaft
2. Eine neue religiöse Suchbewegung
Mitten in einer häufig kirchlich distanzierten und religiös-institutionell ungebundenen Gesellschaft machen sich eine Wiederkehr des Religiösen und eine Intensivierung religiöser Suchbewegungen bemerkbar. Trotz fortgeschrittener Säkularisierung ist Religiöses in der modernen Kultur nicht verschwunden. Es äußert sich aber nicht in traditionellen Formen, sondern in vielfältigen Suchbewegungen, zu denen auch esoterische Formen alternativer Heilungsansätze gehören. Diese Entwicklungen sollten in Kirche und Gemeinde sorgfältig wahrgenommen werden, denn sie verlangen nach selbstkritischer Prüfung und theologischer Orientierung.
3. Esoterische Religionsfaszination
Mit der Renaissance des Religiösen ist eine diffuse Vielfalt verschiedener Elemente und Motive verbunden. Diese ist nicht einfach auf eine Formel zu bringen und wird individuell sehr verschieden erlebt und aufgenommen. Zu beobachten ist eine direkte Rückkehr zu Formen voraufklärerischer Religiosität im Westen in Gestalt von Magie, Spiritismus und mantischen Orakelpraktiken (Astrologie, Kartenlegen, Wahrsagen etc.). Daneben steht eine Aufnahme von Traditionselementen asiatischer Religiosität, östlicher Meditationstechniken (Yoga, Zen) oder schamanistischer und naturreligiöser Rituale. In der Regel werden diese nicht als geschlossenes religiöses System übernommen, sondern selektiv eingesetzt. In unterschiedlich enger Verbindung zu den ursprünglichen religiösen Vorstellungen und weltanschaulichen Voraussetzungen werden einzelne Elemente nach dem Muster individueller religiöser Patchwork-Identität miteinander verbunden. Moderne Esoterik ist dabei lediglich eine Gestalt heutiger Religionsfaszination unter anderen. Nicht alles, was in der religiösen Suchbewegung der Moderne vorkommt, kann sachgerecht unter dem Begriff Esoterik zusammengefasst werden. Nicht alle alternativen Heilungsansätze sind mit einem religiösen Wahrheitsanspruch verbunden.
4. Die Sehnsucht nach Heilung
Das verborgene Leitthema in vielen Ausprägungen religiöser Sinnsuche ist die Sehnsucht nach ganzheitlicher Heilung. Dabei geht es um die Entdeckung der heilenden Bedeutung von Meditation, Körperübung, Berührung, Gedanken und Trance. Japanische und chinesische Heilungs- und Entspannungspraktiken, buddhistische Meditation oder schamanistische Ekstasetechniken werden angeboten und zum Teil mit religiösen Erwartungen bzw. Versprechungen verbunden. In der Suche nach Heilung, Balance und Stimmigkeit des Lebens als Leitmotiv der religiösen Suche spiegelt sich die zentrale Stellung des Bereichs der Gesundheit und die wiederentdeckte Bedeutung der Leib-Seele-Einheit in den westlichen Gesellschaften. Obwohl das moderne medizinische System in vielen Bereichen atemberaubende Möglichkeiten zur Wiederherstellung der körperlichen Funktionsfähigkeit offeriert, sind diese aber nicht gleichbedeutend mit „Heilung“ im umfassenden Sinn. Zum Beispiel kann der dauergestresste Manager, dem ein Herzinfarkt durch Katheterisierung und Dilatation beseitigt wurde, nach einer Woche an seinen Arbeitsplatz zurückkehren, „als wäre nichts geschehen“. Er selbst ist „kuriert“, seine Lebensweise ist jedoch nicht „geheilt“.
5. Der Protest gegen eine geheimnisleere Wirklichkeitsauffassung als Anfrage an die christlichen Kirchen
Esoterische Religiosität antwortet auf den Hunger der Menschen nach erfahrbarer Spiritualität in westlichen Gesellschaften und auf Ermüdungserscheinungen einer lediglich rationalen Weltbewältigung. Sie zeigt ebenso, dass für viele Christinnen und Christen die Erfahrung von Spiritualität, seelisch-körperlicher Einheit und innerer Heilung offensichtlich nicht deutlich genug vermittelt oder anschaulich und lebendig wird. Die Verbreitung esoterischer religiöser Praktiken und der Zustrom zu alternativen Heilungsansätzen stellen eine wichtige pastorale und religiöse Herausforderung für die christlichen Kirchen dar. Esoterische Strömungen sind in vielen Ausdrucksformen auch Protest gegen eine rein säkulare oder materielle Wirklichkeitsauffassung, der von den Kirchen sorgfältig wahrzunehmen ist.
B. Heilverfahren und Heilungsansätze
6. Typologie von Heilverfahren
Im weiten Feld der verschiedenen Heilungsansätze (die angelsächsische Diskussion spricht von CAM = Complementary and Alternative Medicine) kann man grob sechs verschiedene Gruppen von Heilverfahren unterscheiden:
- Heilverfahren, die auf naturwissenschaftlich nachvollziehbare Weise wirken wollen und sich einem strengen empirischen Wirksamkeitsnachweis stellen (z.B. sog. „Schulmedizin“; aber auch klassische Naturheilverfahren, z.B. Wärme- und Kältetherapien).
- Heilverfahren, die sich als komplementäre, auf empirische Wirksamkeitserfahrungen begründete Heilungsverfahren verstehen, nicht im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Medizin stehen und keine besonderen weltanschaulichen Voraussetzungen haben (z.B. Fußreflexzonenmassage).
- Heilverfahren, die innerhalb eines bestimmten Weltanschauungsrahmens bzw. einer Sonderlehre eine empirische Wirksamkeit beanspruchen, aber sich keinem strengen, wissenschaftlich überprüfbaren empirischen Wirksamkeitsnachweis stellen (anthroposophische Medizin, Homöopathie).
- Heilverfahren, die innerhalb eines energetischen Deutungsrahmens wirksam sein wollen (sog. Energy Medicine), wissenschaftlich nicht nachvollziehbar sind und die nach dem Muster einer Energie- bzw. Informationsübertragung funktionieren (z.B. Bachblütentherapie, Hochpotenz-Homöopathie; Reiki; Geistiges Heilen).
- Heilverfahren, die sich einem dezidiert spirituell-religiösen Deutungsschema verpflichtet wissen, das nicht-christlicher Herkunft ist (Geistheilung durch spiritistische Mächte, Wahrsagen, Amulette oder magische Steine).
- Heilverfahren, die sich spirituell-religiös und ganzheitlich-komplementär verstehen, aber weder im Gegensatz zur naturwissenschaftlichen Medizin oder „natürlichen“ Heilverfahren noch im Gegensatz zur christlichen Tradition stehen (z.B. Handauflegung, Krankengebet, Salbung mit Öl).
Es ist vielfach schon mit einer erheblichen Herausforderung verbunden, genau zu beurteilen, welches Heilverfahren zu welcher Gruppe gehört, da die Grenzen fließend sind und die Selbst- und Fremdbeurteilung bei vielen alternativen oder komplementären Heilverfahren strittig ist.
7. Jedes Heilverfahren hat weltanschauliche Voraussetzungen
Hinter jedem Heilverfahren oder praktischen Heilungsansatz (pflegerisch, therapeutisch, medizinisch, alternativ) stehen weltanschauliche Voraussetzungen, die mit explizit religiösen Deutungsmomenten verbunden sein können. Alles heilende Handeln ist durch eine bestimmte, in der Regel partielle Sicht von Gesundheit und Krankheit, eine bestimmte Interpretation heilender Kräfte, Mechanismen und Wirkungsweisen geprägt, innerhalb deren es seine Plausibilität und Wirkungsmächtigkeit erfährt. In diesem Sinne gibt es keinen „wertneutralen“ Raum in der Medizin und im Bereich der Heilverfahren. Zum Teil beanspruchen Heilverfahren für ihre Wirksamkeit eine ausdrückliche religiös-weltanschauliche Übereinstimmung zwischen Arzt und Patient, Therapeut und Klient, Heiler und Heilungssuchendem. Zum Teil werden alternative Heilungspraktiken nicht in erster Linie auf Grund ihrer klinisch-somatischen Heilerfolge von Teilen der Bevölkerung aufgegriffen, sondern auf Grund der Überzeugungskraft oder appellativen Anziehungskraft ihrer weltanschaulichen Voraussetzungen (sog. kognitive Konsonanz) – Heilerfolge, die im Verlauf einer Therapie erzielt werden, werden als Konsequenz des theoretischen Überbaus gedeutet – ohne dass es zwischen beiden notwendig einen kausalen Zusammenhang geben muss.
Zum Teil verbindet sich mit alternativen Heilverfahren das ambivalente Phänomen eines affektiven Misstrauens gegenüber den Ansätzen der Schulmedizin (deren historische Errungenschaften ausgeblendet werden) und eines Bemühens um einen eigenen Wirksamkeits- und Erklärungsnachweis innerhalb eines empiristischen Denkrahmens.
8. Heilung im esoterischen Kontext
Zu den esoterischen Heilverfahren im engeren Sinne gehören alle Therapieformen, heilende Praktiken und Verhaltensweisen, die
- einen Kontakt und eine Kommunikation mit übersinnlichen Kräften, Energien und geistigen oder feinstofflichen Wesenheiten vermitteln wollen,
- den inneren (esoterikós = innerlich) Zusammenhang aller Dinge bzw. das hinter allen äußeren Erscheinungsformen wirkende Urprinzip des Kosmos darzustellen beanspruchen,
- in der Regel – wie in der antiken Mysterienreligion oder in der Gnosis – nur einem begrenzten Kreis Eingeweihter und Erleuchteter zugänglich sind (etwa Heilverfahren der Astrologie, der Magie, des Spiritismus, des Channeling, der esoterischen Geistheilung, der Anthroposophie).
Die Esoterik nutzt das verbreitete Unbehagen gegenüber moderner Wissenschaft und (medizinischer) Technik einerseits und traditionsbezogener Religion andererseits, um sich selbst bzw. esoterische Heilpraktiken als Überbietung aller anderen „exoterischen“ Heilverfahren anzubieten. Charakteristisch für ein esoterisches Weltbild ist dabei in der Regel
- die Annahme einer evolutiven Weiterentwicklung des individuellen Bewusstseins, das seine innere Einheit und sein Heilsein nur erfährt, wenn es sich im Einklang mit dem kosmischen Gesamtprinzip des Seins befindet;
- die Annahme eines prinzipiellen Vorrangs des Geistes über die Materie (häufig mit einer expliziten Entwertung der erfahrbaren Welt, der Geschichte und des Sozialen verbunden);
- die Vorstellung von einer direkten Wirkungs-, Präge- und Heilkraft geistiger Vorstellungen, Praktiken und Prozesse auf physisch-körperliche, somatische Prozesse;
- das Verständnis Gottes als geistiges, energetisches Prinzip, das wesentlich nicht als Person und der Schöpfung gegenüberstehender Schöpfer, sondern als Urenergie des Kosmos verstanden wird (panenergetischer Monismus);
- die Vorstellung von einem Analogie- oder Korrespondenzprinzip zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, und schließlich
- verschiedene Lehren bzw. Vorstellungen von einer stufenweisen Höherentwicklung des energetischen, kosmischen oder geistigen Potentials des Menschen bis zu einer jenseitigen Existenz seines Astralleibes (häufig verbunden mit Karma- und Reinkarnationsvorstellungen).
Dabei ist die moderne esoterische Bewegung ebenso synkretismusfreudig und integrationsfreudig für weitere religiöse Elemente wie ihr geistesgeschichtliches Vorbild und ihr Vorläufer, die Gnosis, mit der sich das Christentum intensiv im 2. und 3. Jahrhundert nach Christus auseinander zu setzen hatte.
C. Heilung in der Perspektive des christlichen Glaubens
9. Die Anfänge des Christentums – heilender Dienst und zum Heil rufende Verkündigung
Vielfach ist nicht mehr bewusst, dass das Christentum in seinen historischen Anfängen wesentlich auch eine Heilungsbewegung gewesen ist und Jesus Christus als Arzt und Heiler verstanden wurde. Die Predigt des irdischen Jesus von der Nähe des Gottesreiches war begleitet von Zeichen und Wundern, durch die Gottes heilvolle Nähe erfahrbar wurde. Die Apostelgeschichte reflektiert in ihrem Wechsel zwischen Verkündigung/missionarischer Predigt und Heilungswundern diese therapeutisch-heilende Dimension in der Ausstrahlung des christlichen Glaubens im Kontext der hellenistischen Antike.
Dass Kranke Anteil bekommen und berührt werden mit Gottes heilender Kraft, gehört zu den Selbstverständlichkeiten und den wichtigsten Gründen für die missionarische Vitalität des Christentums in seiner mediterranen Entstehungs- und Ausbreitungsgeschichte. Wesentlich war die Gegenthese gegen das antike religiöse Verständnis, dass Kranke, Versehrte, Behinderte in die widergöttliche Sphäre des Todes gehören und aus kultischen und sozialen Gemeinschaftsbezügen ausgegrenzt wurden. Gott, in Christus Mensch geworden, leidet selbst und geht im Geschehen des Kreuzes in die Todessphäre hinein. Deshalb steht er an der Seite der Kranken und Schwachen, ihre Würde und ihre ganzheitliche Heilung gehören zentral zum doppelten Missionsauftrag der Kirche (heilende Verkündigung und heilender Dienst).
Im Vergleich mit der knapp fünfzigjährigen Geschichte der neuen religiösen Strömungen im Westen hat die christliche Kirche eine zweitausend Jahre alte Erfahrung mit der sozialen, spirituellen und ärztlich-pflegerischen Begleitung von Kranken und Sterbenden sowie der Auseinandersetzung mit Gesundheit und Spiritualität hinter sich. Sie ist in vielen Teilen der Erde noch heute eine wesentliche Trägerin von Einrichtungen im Bereich des Gesundheitssystems und von wichtigen Pioniermodellen im Bereich der heilenden Fürsorge, der Sterbebegleitung und der Begleitung von Menschen mit HIV/AIDS.
Sie hat deshalb eine große Erfahrungsgeschichte auf dem Gebiet des diakonischen Dienstes, die sich weder verstecken noch zurückdrängen lassen muss. Die christliche Tradition diakonischer Verantwortung und der heilenden Fürsorge für den Nächsten sollte auch heute mit Selbstbewusstsein und eigenem religiösem Profil öffentlich stärker in die gesellschaftliche Debatte eingebracht und im interdisziplinären Gespräch zwischen Medizin, alternativen Heilungsansätzen und Psychologie spürbarer zur Geltung gebracht werden.
10. Heilung im Horizont von Schöpfung und Vollendung
Das Berührtwerden von heilender Kraft ist im Zusammenhang der Fülle des göttlichen Wirkens in Schöpfung, Erlösung und Neuschöpfung zu verstehen. Das heilende Handeln Gottes bleibt umgriffen von seinem Schöpferwirken. An Gott als Schöpfer glauben aber heißt, sich als Geschöpf verstehen, das angewiesen bleibt auf die Güte Gottes, der alles Leben schenkt und erhält. Das heilvolle Wirken von Gottes Wort und Geist, durch das „Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit“ zum Glaubenden kommen, entlässt nicht aus den Begrenzungen geschöpflichen Lebens. Es hebt die Unterschiede zwischen Gott und Mensch nicht auf, sondern befreit dazu, Mensch sein zu können und nicht wie Gott sein zu müssen. Das heilende Wirken des göttlichen Geistes ist in der Christentumsgeschichte immer wieder in der Spannung zwischen Schon-Jetzt und Noch-Nicht erfahren und verstanden worden. Bereits Paulus betonte: Der göttliche Geist öffnet die Augen für die Gegenwart des Heils. Er macht aber auch sensibel für den Schrei der ganzen Schöpfung nach Erlösung und wahrnehmungsfähig für die Gebrochenheit und Vorläufigkeit der individuellen und gemeinschaftlichen Glaubensexistenz (Röm 8,18ff). Er erlaubt nicht, sich mitleidlos abzuwenden von der Leidensgeschichte der Menschen. Mit der Ausgießung des Geistes hat die Neuschöpfung begonnen und wird die heilvolle Nähe Gottes bereits zeichenhaft in seelischen und körperlichen Heilungen erfahrbar. Dennoch gilt für das christliche Leben: Es vollzieht sich in einer Hoffnungsperspektive und hat sein Ziel allererst noch vor sich. Je mehr Gewissheit zur Sprache kommt, desto größer wird die Notwendigkeit, die Wirklichkeit des Menschen in seinen Begrenzungen wahrzunehmen. Ein vollmundiger Heilungsoptimismus widerspricht dem „Realitätsprinzip“, mit dem die christliche Hoffnung verbunden ist.
11. Historische Auseinanderentwicklung zwischen Leib-Sorge (Medizin) und Seel-Sorge (Theologie)
Mit der Verselbständigung einer medizinischen Wissenschaft – die medizinische Heilkunde hatte ursprünglich eine sehr starke Wurzel in den christlichen Klöstern und Ordensgemeinschaften – tritt im Laufe der Geschichte die therapeutisch-heilende Dimension im Verständnis und in der Praxis der Kirche zurück. Es entwickelt sich – auch durch den Einfluss der griechisch-platonischen Philosophie und ihrem stärkeren Leib-Seele-Dualismus – das Modell einer schematischen Arbeitsteilung, bei der der Mediziner für den Leib und der Seelsorger für die Seele zuständig ist. Das Leitmotiv der heilenden Gemeinde mit den unterschiedlichen Charismata der Heilungsgaben (Leitbilder 1. Kor 12 und Jak 5) tritt zurück zugunsten des Leitmotivs der helfenden diakonischen Kirche (Gleichnis vom barmherzigen Samariter), das in einer Vielfalt von diakonisch-therapeutischen Beratungs- und Hilfsdiensten seine institutionelle Ausprägung findet. Die notwendige Professionalisierung der diakonischen Dienste außerhalb der Gemeinden geht dabei auch mit einer Schwächung der heilenden und diakonischen Funktionen der Ortsgemeinden und einer Lockerung des Zusammenhangs zwischen Diakonie, Liturgie und Spiritualität einher.
12. Die Öffnung der naturwissenschaftlichen Medizin für spirituell-religiöse Dimensionen als Chance des Dialoges mit der Kirche
Im westlichen Kulturkreis wurde das naturwissenschaftlich dominierte Verständnis von Gesundheit und Krankheit in den letzten Jahrzehnten zunehmend erweitert: Vor allem psychische und soziale Faktoren wurden in die Vorstellung von Heilung und Gesundheit integriert. Darüber hinaus ist vielen bewusst, dass es über naturwissenschaftlich anerkannte Schulmedizin hinaus Heil-Wissen und Heil-Weisheit aus alter, bewährter oder kulturell anders geprägter Erfahrung gibt, die noch nicht ausreichend erforscht ist oder sich einer Erforschung mit bislang bekannten Verfahren entzieht. Doch obwohl der naturwissenschaftlich geprägte Gesundheits- und Krankheitsbegriff einem so deutlichen Wandel unterliegt, blieb die spirituelle Dimension von Heilung und Gesundheit im Bewusstsein und Handeln sowohl der Schulmedizin wie mancher alternativer Heilungsansätze unberücksichtigt.
Kirchliche Seelsorge andererseits wurde im Bereich der Schulmedizin vielfach primär als Vermittlerin von christlichen Tugenden wie Trost, Geduld und Leidensfähigkeit gesehen, ohne ihre kurativen Aspekte im Gesamtprozess des Heilungsprozesses zu bedenken. Eine Verknüpfung und konstruktive Zusammenarbeit von Spiritualität und Medizin, wie sie in den letzten zehn Jahren verstärkt in der Fachdiskussion z.B. in den USA und in England gefördert wird, wurde bei uns – von wenigen Pioniermodellen abgesehen – eher der Komplementär- und Alternativmedizin überlassen, wobei die Unterscheidung zwischen seriösen und dubiosen Angeboten alternativer Heilung schwierig ist. Inzwischen sind jedoch viele, sowohl im Bereich der modernen Medizin als auch in der Kirche, offen für ergänzende und erweiternde Sichtweisen von Heilungsprozessen und nicht mehr von einem verengten Weltbild geleitet, das Heilung ausschließlich nach Maßgabe und in den engen Grenzen dessen verstand, was das naturwissenschaftlich-medizinische Weltbild zuließ. Viele derjenigen, die im Bereich von Pflegediensten, Medizin oder alternativer Heilungsansätze tätig sind, begrüßen ausdrücklich eine stärkere Präsenz von Kirche und christlichem Glauben im Kontext der Fragen von Gesundheit und Heilung. Aus dem Bereich sowohl der Schulmedizin als auch der alternativen Heilungsansätze kommt eine nicht zu übersehende spirituelle und ethisch-werteorientierte Nachfrage auf die Kirchen zu, die diese nicht mit einem Rückzug aus Institutionen der Gesundheitsfürsorge beantworten dürfen. Vielmehr geht es darum, Bündnisse im Blick auf eine christliche Profilierung mit denjenigen zu schließen, die im Bereich des Gesundheitswesens aus ihrem Glauben leben und handeln wollen.
13. Die Wiederentdeckung der heilenden Dimension des Glaubens in Handauflegung, Segnung und Salbung
Die zunehmende Krise des Gesundheitssystems und das wachsende Bedürfnis der Menschen, sich nicht nur einer technischen Apparate- und Reparaturmedizin auszuliefern, verstärkt Suchbewegungen, die auch religiös-therapeutische Dimensionen einschließen. Auch an vielen Orten von kirchlichem Leben, Diakonie, Seelsorge und Verkündigung wird die Dimension der heilenden Kraft des Glaubens neu entdeckt, aktiv gestaltet und spirituell vertieft. In Besuchsdienstarbeit, in der Hospizarbeit, in Selbsthilfegruppen trauernder Eltern oder in Segnungs- und Salbungsgottesdiensten, in der Krankenhausseelsorge oder in Ortsgemeinden wird die heilende Dimension christlicher Glaubenspraxis neu entdeckt und gestaltet. Dabei wird verstärkt bewusst, wie wichtig und tragend die ehrenamtliche Mitträgerschaft und Qualifikation in Besuchsdiensten, Salbungsteams und/oder in ambulanten Hospizgruppen ist.
Der christliche Heilungsdienst in Segnung, Gebet und Handauflegung ist dabei nicht angewiesen auf energetisch-wissenschaftliche oder empiristisch-statistische Wirksamkeitsbeweise. Von christlicher Segnung und Handauflegung gehen nach verbreiteter Überzeugung und biblischer Tradition in der Tat Wirkungen aus, die zu Gottes segnendem und heilendem Wirken in seiner Schöpfung gehören. Der Wahrheitserweis und die Überzeugungskraft des christlichen Glaubens sind nicht von der wissenschaftlichen Beweisbarkeit oder empiristischen Nachweisbarkeit messbarer Ergebnisfolgen von Gebet und heilender Segnung abhängig. Die therapeutisch-heilende Kraft des Glaubens, von der die christliche Tradition überzeugt ist, liegt jenseits der Ebene statistisch messbarer Wirksamkeitsnachweise. Alle Untersuchungen, die versuchen, einen entsprechenden Wahrheits- und Wirksamkeitserweis des christlichen Glaubens allein auf der Basis seiner therapeutisch messbaren Wirksamkeit zu erbringen, laufen Gefahr, den Glauben zu einer therapeutischen Technik und das Gebet zu einer Form berechenbarer Magie zu machen.
(Fortsetzung im nächsten MD)
Reinhard Hempelmann
Dietrich Werner
Harald Lamprecht
Ulrich Laepple