Wilfried Härle

Christlicher Glaube zwischen Skepsis und Gewissheit

Bei der Beschäftigung mit dem Thema habe ich schnell gemerkt, dass ich die beiden Begriffe „Skepsis“ und „Gewissheit“ nicht als gleichrangige, gleichberechtigte, gleich wichtige Größen empfand, sondern eher wie die Bezeichnung eines problematischen, möglichst zu überwindenden Phänomens (Skepsis) im Verhältnis zu einem attraktiven, möglichst zu erstrebenden Phänomen (Gewissheit). Und obwohl ich überzeugt bin, dass da „etwas dran“ ist, habe ich doch auch gemerkt, dass ich mir eine Zeit lang das verbaut habe, was man aus der Beschäftigung mit der Skepsis gewinnen kann, wenn ich dieses negative (und jenes positive) Vorurteil allzu stark werden lasse. Vor allem habe ich zu meiner eigenen Überraschung entdeckt, dass Skepsis und Gewissheit sehr viel mehr miteinander zu tun haben, als mir das bis vor einiger Zeit bewusst war.

Diese Einsicht verdanke ich vor allem der Beschäftigung mit einem Philosophen, genauer: Wissenschaftstheoretiker, der in seinem Fach (nicht nur in Österreich und Deutschland) im 20. Jahrhundert zur absoluten Spitze gehört, in der Theologie aber eine erstaunlich (und unangemessen) geringe Rolle spielt: Wolfgang Stegmüller (1923 – 1991). Dabei denke ich jetzt nicht an seine – auch theologisch wichtige – Studie zum Universalienproblem und seine großen Lehrbücher zur Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts2, sondern an sein für die Wissenschaftstheorie grundlegendes Werk, das 1954 unter dem Titel „Metaphysik, Wissenschaft, Skepsis“ und fünfzehn Jahre später unter dem scheinbar nur geringfügig, tatsächlich aber signifikant geänderten Titel „Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft“ als „zweite, verbesserte Auflage“ erschien.3 Ich möchte deshalb die Grundthese zum Verhältnis von Metaphysik, Skepsis und Wissenschaft vorstellen, wie sie Stegmüller vor 45 Jahren formuliert hat.

Zuvor möchte ich jedoch als weiteren Gesprächspartner einen anderen Philosophen des 20. Jahrhunderts vorstellen, der sich selbst programmatisch als „skeptischen Philosophen“ verstanden und bezeichnet hat und der sich von dieser Position aus gleichwohl mit großer Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit mit „Religion“ und dem „Glauben an Gott“ beschäftigt hat. Ich meine Wilhelm Weischedel (1905 – 1975), der vor allem durch sein großes zweibändiges Werk „Der Gott der Philosophen“4 große Beachtung – auch in Theologenkreisen – gefunden hat. Weischedel und Stegmüller nehmen übrigens, soweit ich sehe, nirgends aufeinander Bezug.

Als dritten skeptischen Denker werde ich den Gießener Philosophen Odo Marquard (geb. 1928) vorstellen, der sich – ebenso wie Weischedel – selbst als skeptischen Philosophen bezeichnet und der sich zugleich nicht weniger intensiv als Weischedel mit Theologie beschäftigt hat. Dabei sind es vor allem zwei Themen, mit denen er sich immer wieder befasst hat: Theodizee und Rechtfertigung, die er je für sich, vor allem aber in ihrem inneren Zusammenhang, sozusagen in ihrer inneren Verwobenheit reflektiert und in seiner außergewöhnlich humorvollen Sprache („Transzendentalbelletristik“) artikuliert hat.

Nach dem Durchgang durch diese drei Positionen will ich dann versuchen, den Ertrag zu bündeln, indem ich einerseits nach Sinn und Bedeutung des Begriffs bzw. der Konzeptionen von „Skepsis“ und „Skeptizismus“ frage, denen wir begegnet sind, und andererseits die so präzisierte Skepsis zu der „Gewissheit“ in Beziehung setze, die für den christlichen Glauben und sein Selbstverständnis insbesondere aus reformatorischer Perspektive grundlegend ist.

Die durch skeptisches Fragen offen bleibende Sinnkette (Weischedel)

Wilhelm Weischedel ist in seinem Werk „Der Gott der Philosophen“5 intensiv dem Zusammenhang zwischen der Sinnfrage und der Gottesfrage nachgegangen und hat dabei folgenden Gedankengang entwickelt: Die Frage nach dem Sinn von irgendetwas lässt sich generell nur beantworten durch Verweis auf etwas Sinngebendes, von dem es umfasst wird. So besteht der Sinn eines Füllfederhalters im Schreiben, der Sinn des Schreibens in der Kommunikation, der Sinn der Kommunikation im zwischenmenschlichen Austausch, der Sinn dieses Austauschs im menschlichen Dasein usw. Das jeweils als zweites Genannte ist nach Weischedel das „Sinngebende“, von dem her das jeweils Erstgenannte, als das „Sinnhafte“, seinen Sinn empfängt, wenn, ja wenn das Sinngebende selbst sinnhaft ist. Da aber liegt, wie Weischedel auf eine leicht nachvollziehbare Weise zeigt, das Problem. Denn das Sinngebende empfängt seinen Sinn ja wiederum von einem Sinngebenden, und die Glieder dieser „Sinnkette“ werden immer umfassender, bis zuletzt in jedem Fall ein nicht mehr zu erweiternder, universaler „Sinnzusammenhang“ erreicht ist. „Nur wenn es einen ... Gesamtsinn gibt, ist auch das einzelne Sinnhafte in seiner Sinnhaftigkeit gerechtfertigt.“ Weischedel bezeichnet diesen umfassenden (Sinn-)Horizont als „Wesen des Daseins“.6 Woher aber empfängt dieses Wesen des Daseins als der universale Sinnzusammenhang selbst seinen Sinn?

Der skeptische Philosoph kennt natürlich die religiöse Antwort, die im Verweis auf Gott als den Schöpfer und Vollender der Welt besteht, aber er kann sie sich als Skeptiker nicht zu eigen machen, weil sie einen Glauben voraussetzt, den er nicht teilt. „Gibt es ... einen unbedingten Sinn? Wie könnte der Philosophierende sich gültig davon überzeugen? Schon wenn von einer Gültigkeit für den Philosophierenden gesprochen wird, werden bestimmte Weisen der Annahme eines unbedingten Sinnes ausgeschlossen. So vor allem der religiöse Glaube, der behauptet, in Gott den unbedingten Sinn zu finden. Aber ... der Glaube kann nicht in die Voraussetzungen eines ernstlichen Philosophierens eingehen, sofern dieses sich als radikales Fragen versteht und darum seine Voraussetzungen, auch etwaige glaubensmäßige, zu untergraben bemüht sein muß.“7

Deshalb muss und will der skeptische Philosoph die Beantwortung der Sinnfrage offenlassen und in der Schwebe halten. Aber er anerkennt, ja er weist geradezu nach, dass erst dann, wenn die Frage nach Gott positiv beantwortet ist, die Frage nach dem Sinn des Ganzen beantwortet werden kann, und zwar dadurch, dass das Ganze sich als verstehbar, gerechtfertigt und fraglos zeigt. Und nun das Entscheidende bei Weischedel: Wenn die Sinnfrage nicht in diesem universalen Horizont positiv beantwortet wird, dann kann sie auch im Blick auf kein einzelnes Wesen, Ereignis oder Ding beantwortet werden. Mit dem Sinn des Ganzen steht der Sinn alles Einzelnen auf dem Spiel. Hat das Dasein im Ganzen keinen Sinn, dann auch nicht das Menschenleben, dann auch nicht die Kommunikation etc.

Das könnte, wenn es nicht von einem skeptischen Philosophen stammte, wie ein apologetisches Bangemachen vor dem Nihilismus wirken. Aber darum geht es gerade nicht bei Weischedel, sondern um das Nachdenken über die Wirklichkeit im Horizont der Sinnfrage, die jeder für sich selbst beantworten muss.

Und da bietet sich nun allem Anschein nach ein Lösungsansatz, um eine nihilistische Position zu überwinden und zu einer positiven Antwort auf die Sinnfrage zu kommen: Kennt nicht jeder Mensch Erfahrungen, von deren Sinnhaftigkeit er intuitiv und fraglos überzeugt ist, seien es ästhetische, religiöse, ethische oder andere Erfahrungen. Und der Argumentation Weischedels zufolge müsste es dann doch möglich sein, aus der sinnvollen Einzelerfahrung auf die Sinnhaftigkeit des Ganzen zu schließen!? Aber diesen Rückschluss lehnt Weischedel als nicht gültig ab. Mit welcher Begründung?

„Man kann offenbar den Schluß ziehen: Wenn es einzelnes selbstverständlich Sinnhaftes gibt, dann ist damit auch ein unbedingter Sinn gegeben ... Doch in diese Welt der befriedeten Sinnhaftigkeit bricht immer wieder das Sinnlose ein ... Es kann sich in großen Geschehnissen äußern: in Naturkatastrophen, in Gewalttaten und Morden, in Kriegen.“8

Der intuitiven Gewissheit hinsichtlich der Sinnhaftigkeit einzelner Erfahrungen kann mit derselben Gewissheit die Sinnlosigkeit oder Sinnwidrigkeit anderer Erfahrungen entgegengesetzt werden, wie sie sich im Theodizeeproblem stellen. Damit geht die Reflexion über die Sinnkette in den Diskurs über das Theodizeeproblem über. Und insofern könnte man aus der Perspektive Weischedels zumindest die Vermutung aufstellen, dass die unterschiedlichen Antworten auf die Theodizeefrage davon abhängen, ob die Erfahrungen von Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit im Leben und Denken eines Menschen überwiegen. Bei genauerem Nachdenken könnte sich vielleicht herausstellen, dass dies nicht nur oder primär ein quantitatives Problem ist, sondern sehr stark von qualitativen Aspekten abhängt. Anders gesagt: Die Intensität der positiven und/oder negativen Erfahrungen spielt dabei vermutlich eine gewichtige Rolle.

Da diese Entscheidung nicht generell und nicht eindeutig gefällt werden kann, muss aus der Sicht Weischedels die Entscheidung über Sinn oder Sinnlosigkeit offen bleiben – und zwar bis zum Ende der Zeit. Die Situation des „radikalen Fragens“ und der radikalen Fraglichkeit lässt sich aus Weischedels Perspektive nicht überwinden.9 Deswegen bleibt für ihn auch die Frage nach Gott eine bis zum Schluss und notwendigerweise offene Frage. Nur um den Preis des Verzichtes auf das radikale Fragen könnte eine Antwort, sei es eine positive oder eine negative, auf die Gottesfrage und damit auch auf die Sinnfrage gegeben werden.

Skepsis als generelle Nötigung zur Entscheidung (Stegmüller)

Als Wissenschaftstheoretiker mit einem starken Interesse für Metaphysik wird Wolfgang Stegmüller geleitet durch die Frage: „Was können wir wissen?“ Dabei geht es ihm nicht nur um das, was wir inhaltlich (nicht) wissen können (z. B. die Zukunft oder das, was Gott weiß), sondern es geht ihm um die Fundierung bzw. Begründung des Wissens, also nicht nur um das quid [bzw. die quaestio] facti, sondern immer um das quid [bzw. die quaestio] iuris, mit dem die Philosophie seit ihren Anfängen – spätestens seit Sokrates, Platon und Aristoteles – befasst ist. Gibt es Erkenntnisquellen, bei denen die Möglichkeit des Irrtums mit Sicherheit ausgeschlossen ist? Unsere sinnliche Wahrnehmung kommt dafür sicher nicht infrage, aber auch nicht unsere menschliche Vernunft. Beide können irren. Das wissen wir. Auch die Berufung auf das, was (uns) evident ist, hat zwar für unser Denken und Leben große Bedeutung und spielt auch in der Argumentation eine entscheidende Rolle, aber auch Evidenz ist keine untrügliche Quelle für Wissen, wie wir oft genug im Rückblick merken, wenn uns etwas als zweifelhaft oder gar als falsch bewusst wird, was wir über lange Zeit hin für evident gehalten hatten.

Ein Fundament für sicheres, zweifelsfreies Wissen wird also nirgends sichtbar. Zwar können wir mit Begriffen wie „Gewissheit“ oder „Widerspruchsfreiheit“ oder „Kohärenz“ notwendige Bedingungen für sicheres Wissen nennen, aber das sind eben nur notwendige, jedoch keine hinreichenden Bedingungen, und auf sie käme es an.

Landet Stegmüller damit bei einem erkenntnistheoretischen Skeptizismus? In gewisser Hinsicht ja. Wieso nur „in gewisser Hinsicht“? Weil er scharfsinnig erkennt, dass es eine Form des Skeptizismus gibt, die sich selbst als erkenntnistheoretische Letztbegründung versteht und damit selbstwidersprüchlich wird. Wenn der Skeptizismus sich versteigt zu der These „Wir können mit Sicherheit wissen, dass wir nichts mit Sicherheit wissen können“, dann, aber auch nur dann wird er selbstwidersprüchlich. Diese Kritik ist dem Skeptizismus immer wieder vorgehalten worden, aber Stegmüller zeigt, dass sie nur einen Skeptizismus trifft, der selbst mit einem absoluten Beweisanspruch auftritt. Solange der Skeptizismus diese Grenze nicht überschreitet, sondern sich beschränkt auf die (irrtumsfähige) These „Wir haben keine Quelle für irrtumsfreie Erkenntnis“, hat er recht und ist nicht selbstwidersprüchlich.

Aber was folgt aus alledem in wissenschaftstheoretischer Hinsicht? An dieser Stelle wird Stegmüller originell und provozierend zugleich. Seine Konsequenz aus diesem Befund lautet: Alle Erkenntnis setzt letztlich eine Entscheidung voraus, die ihrerseits nicht (mehr) rational begründet, die aber gewissenhaft vollzogen werden kann und sollte. Diese Entscheidung kann er sowohl als „persönliche Gewissensentscheidung“10 als auch als „Glauben“11 bezeichnen. Und in Aufnahme und Abwandlung eines bekannten Kant-Zitats formuliert er: „Man muß nicht das Wissen beseitigen, um dem Glauben Platz zu machen. Vielmehr muß man bereits etwas glauben, um überhaupt von Wissen und Wissenschaft reden zu können.“12

Das Steile an dieser These besteht m. E. darin, dass damit Anselms (und Schleiermachers) theologische Methodik des „Credo ut intelligam“ bzw. „Fides quaerens intellectum“13 als wissenschaftlich unhintergehbar erkannt und anerkannt wird, und zwar nicht nur für die empirischen Wissenschaften und die Metaphysik, sondern für sämtliche Wissenschaften, also auch für Logik und Mathematik. Dass Stegmüller für diese Thesen in seiner Zunft keinen großen Beifall geerntet hat, kann man verstehen. Er schreibt dazu: „der Metaphysiker hört nicht gern, dass seine geistige Tätigkeit auf einer vorrationalen Urentscheidung beruht;Philosophen aller Varianten, außer Skeptikern, hören nicht gern, dass die ernst zu nehmenden Arten der Skepsis unwiderleglich sind; schließlich nehmen Skeptiker aller Schattierungen nicht gern zur Kenntnis, dass sie ihren Standpunkt nicht beweisen können“. Und Stegmüller fährt fort: „Eine solche komplexe Feststellung provoziert geradezu das empörte Aufbegehren: ‚Dies kann doch unmöglich dein letztes Wort sein. Irgendeine Lösung in der einen oder anderen Richtung muß es doch geben!’ Dazu kann ich nur sagen: ‚Diese „Lösung“ hast du jederzeit in der Hand: Entscheide dich!’“14

Um ein mögliches Missverständnis dieser (wohlbegründeten) Thesen zu vermeiden, fügt Stegmüller immer wieder an: Dies ist keine Aufforderung zu beliebigen Entscheidungen, kein Freibrief für Willkür, wohl aber die Aufforderung zu sorgfältigen, wohlerwogenen, gewissenhaften Entscheidungen auch in erkenntnistheoretischer Hinsicht. Und diese erkenntnistheoretischen Entscheidungen sind für ihn „Glaubens“-Entscheidungen. In meinen Worten gesagt: Es sind Entscheidungen für das, worauf wir vertrauen und uns verlassen. Das erinnert an Luthers Auslegung des 1. Gebots in seinem Großen Katechismus, und es erinnert mich zugleich an das tiefsinnige, nachdenkenswerte Diktum des regionalen Dichterfürsten Wilhelm Busch: „Nur was wir glauben, wissen wir gewiß“15.

Stegmüller kommt mit seinen Überlegungen und Schlussfolgerungen zu mehreren interessanten, weitreichenden Ergebnissen:

  • Unter „Skepsis“ ist weder die nihilistische Behauptung zu verstehen, die Welt sei völlig sinnlos und es gebe deshalb keinen Sinn in der Welt, noch die skeptizistische Behauptung, es gebe (nachweisbar) keine wahre Erkenntnis, sondern unter „Skepsis“ ist die These zu verstehen, dass es keine Möglichkeit einer rein theoretischen oder rein rationalen Letztbegründungfür irgendeine Erkenntnis gebe.
  • Diese skeptische Position lässt sich auch nicht als selbstwidersprüchlich erweisen, wie dies bei der These von der nachweisbaren Sinnlosigkeit und Unerkennbarkeit der Welt der Fall ist. Die Bestreitung von Letztbegründungen ist mit Wahrheitserkenntnis vereinbar.
  • Diese Vereinbarkeit ergibt sich aus der unverzichtbaren Bedeutung von subjektiver Gewissheit für jeden Erkenntnisvorgang. Dabei schließt Gewissheit insofern ein Element von Entscheidungein, als die Gewissheit nur dadurch erkenntnis- und handlungsleitend wird, dass ein Mensch sich auf die ihm zuteilgewordene Gewissheit einlässt bzw. verlässt.
  • Diese grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Einsichten und Thesen gelten grundsätzlich nicht nur für metaphysische, ontologische oder religiöse Sachverhalte bzw. Aussagen, sondern für alle möglichen wahren Aussagen. Im Vergleich zu Weischedel kommt Stegmüller also zu einem umfassenderen, radikaleren und zugleich positiveren Ergebnis.

Skepsis als Einladung zum Vertrauen (Marquard)

Odo Marquard erkennt bei seinen Analysen zum Theodizeeproblem (und zur Rechtfertigungslehre), dass der Theodizeediskurs, wie er seit Leibniz (unter diesem Namen) geführt wird, zeitlich und sachlich zusammenfällt mit der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie. Dabei wird Gott als Subjekt oder Lenker der Geschichte gewissermaßen entthront, bestritten und damit zugleich von den Anklagen wegen des Übels in der Welt entlastet (Freispruch Gottes wegen Nichtexistenz).

Genau an dieser Stelle fragt, denkt und beobachtet Marquard aber weiter: Was geschieht mit dem Theodizeeprozess, wenn ihm (indirekt schon seit Kant, direkt seit dem offiziellen Atheismus des 18. und 19. Jahrhunderts) Gott als Angeklagter abhanden kommt? Marquard sagt:

  • Mit dem Freispruch Gottes wegen Nichtexistenz kommt der Theodizeeprozess nicht zum Erliegen. Er wird nicht eingestellt (das Übel bleibt ja da), sondern der Prozess bekommt einen neuen Angeklagten. Wenn es keinen Gott gibt, der verantwortlich ist (und angeklagt werden kann) wegen der Übel der Welt, dann kommt nur noch der Mensch als Angeklagter im Theodizeeprozess in Betracht.
  • Nun war aber schon mit der Eröffnungdes Theodizeeprozesses (Mensch gegen Gott) ein irreversibler Verlust eingetreten: der Verlust der Gnade; denn es stand und steht dem Menschen nie zu, Gott zu begnadigen.
  • Aber der Austausch der Angeklagten führt nicht zu einer Wiedergewinnung der Gnade, da es letztlich nur Gott zusteht, den Menschen zu begnadigen. Der Mensch, der nun wieder auf der Anklagebank sitzt, auf der er saß, als er sich vor Gott rechtfertigen musste, sitzt dort nun als gnadenlos Angeklagter. Es bleibt beim Verlust der Gnade.
  • Das führt dazu, dass der Mensch total angeklagt ist und sich nicht nur für sein Tun, sondern auch für sein Sein rechtfertigen muss. Marquard nennt dies die „Übertribunalisierung“, unter der sich der Mensch in der Gegenwart befindet und vor der er in die „Unbelangbarkeit“ zu entkommen versucht – letztlich freilich vergebens.

Hier stellt sich neu die Frage nach der Rechtfertigungsbedürftigkeit des Menschen vor Gott, die zugleich eine Wiedergewinnung der Gnade sein könnte. Auf einem theoretischen Weg sieht Marquard dafür keine überzeugende Lösung. Mit Kant ist er der Meinung, dass alle (vorliegenden) „doktrinalen Theodizeen“ unzureichend sind und letztlich scheitern. Aber Marquard sieht den Ausweg – anders als Kant – nicht in der „authentischen Theodizee“ eines Hiob, der sich in seiner moralischen Rechtschaffenheit Gott unterwirft und seine Hand auf seinen Mund legt. Marquards Fazit ist überraschend (und überzeugend) anders. Es lautet: „Die Antworten der Theodizee sind ... durchweg unzureichend ... Darum haben wohl diejenigen recht, die dem Vertrauen auf Gott, also dem Glauben das letzte Wort geben, und das nicht zu können ist dann das eigentliche Unglück.“16

Mit den Formulierungen, die Theodizeeantworten seien „unzureichend“ und der Glaube habe „das letzte Wort“, konstruiert Marquard keinen Gegensatz zwischen Glauben und Theodizee, sondern beschreibt ein Überbietungsverhältnis. Und das ist auch ganz angemessen. Denn der Glaube muss mit der Unbegreiflichkeit Gottes leben, aber er kann nicht von ihr leben. Und deswegen ist die Suche nach Antworten auf die Theodizeefrage nicht als solche schon ein Akt des Unglaubens.

Mit dieser Position – vor allem mit dem Halbsatz: „und das (nicht) zu können ist dann das eigentliche (Un-)Glück“, ist Marquard, ohne dass er es weiß, ganz nahe bei der Antwort, zu der Luther am Ende von De servo arbitrio in seiner Drei-Lichter-Lehre gefunden hat. Auch Luther anerkennt, dass wir keine theoretisch überzeugende Antwort auf das Theodizeeproblem haben und geben können, aber er ist der Überzeugung, dass die Erfahrung, die wir durch Gottes Gnade beim Ertragen von Übeln machen, uns Grund zur Hoffnung auf eine endzeitliche Antwort Gottes gibt, die dann alle Zweifel zum Verstummen bringt. So weit (wie Luther) kann und würde Marquard als skeptischer Philosoph sicher nicht gehen. Aber er geht so weit zu sagen, dass der Glaube, den er zu Recht als „Vertrauen auf Gott“ versteht, in dieser Frage „das letzte Wort“ haben soll. Das ist für einen skeptischen Philosophen viel, und es ist auch ganz dicht bei der Position von Stegmüller.

„Skepsis“ und/oder „Gewissheit“

Was ist „Skepsis“?

a) „Skepsis“ als erkenntnistheoretischer Nihilismus („Skeptizismus“) ist eine selbstwidersprüchliche Position, weil für die skeptische Position das behauptet wird, was (mit ihrer Hilfe) für alle Erkenntnis bestritten wird.

b) „Skepsis“ als theoretische Unentscheidbarkeit der Erkenntnisfrage ist dort, wo dies ausdrücklich auf das irdische, menschliche Wissen bezogen und begrenzt ist, eine zustimmungsfähige Position. Das schließt aber eine Gewissheit (auch eine absolute Gewissheit) nicht aus.

c) „Skepsis“ als Anerkennung, dass Letztbegründungen für uns nicht möglich sind, gilt nicht nur für Glaubenserkenntnis, sondern für alle Erkenntnis, da wir nichts voraussetzungslos und zweifelsfrei beweisen oder deduzieren können. Das ist nicht etwas Besonderes für Theologie, Kirche und Glauben, sondern ein gemeinsames Merkmal alles endlichen Wissens.

d) „Skepsis“ als radikales Fragen/Zweifeln gegenüber vorgegebenen Lehren (Dogmatismus), gegen eigene Sinneswahrnehmungen, eigene logische Operationen und Evidenzen entspricht einer menschlichen und vor allem einer wissenschaftlichen Grundhaltung, die selbstkritisch ist, dem Unterschied zwischen Mensch und Gott Rechnung trägt und ihn beharrlich im Bewusstsein behält.

Nur im Sinne von a) ist „Skepsis“ oder „Skeptizismus“ abzulehnen. In den drei anderen Bedeutungen sind sie – gerade aus der Sicht des christlichen Glaubens – zu bejahen. Jede Diskussion über „Glaube und Skepsis“ erfordert jedoch dringend (vorab oder frühzeitig) eine Verständigung darüber, was unter „Skepsis“ und „Skeptizismus“ verstanden werden kann und soll. Sonst besteht die Gefahr, aneinander vorbeizureden oder schwerwiegende Missverständnisse zu wecken.

Was ist „Gewissheit“?

a) Sicherheit vs. Gewissheit (securitas/certitudo): In Luthers reformatorischer Theologie spielt die Unterscheidung zwischen securitas und certitudo eine große Rolle, die für die meisten Menschen heute schon sprachlich kaum nachzuvollziehen ist, die ich aber für sachlich wichtig halte. Luther kann sagen, das Streben nach Sicherheit sei mit dem christlichen Glauben unvereinbar, aber ebenso sei das Fehlen von Gewissheit mit dem christlichen Glauben unvereinbar. Beides erscheint also auch als miteinander unvereinbar.17 Worin dieser Unterschied genau besteht, ist nicht leicht zu erfassen und zu beschreiben. Ich habe mich damit beim Abfassen meiner „Dogmatik“ besonders schwergetan und bin darüber bis heute noch nicht hinausgekommen; deshalb erlaube ich mir, aus dem diesbezüglichen Abschnitt (Kap. 6, 2.2.2 b) zu zitieren:

„Inwiefern bezeichnen diese beiden Begriffe tatsächlich etwas so Unterschiedliches? Insofern, als ‚Sicherheit‘ den (freilich bloß relativ erreichbaren) Zustand bezeichnet, in dem ein Mensch eine Situation so beherrscht und bestimmt, dass er unverwundbar ist. Gerade das gilt für Gewißheit nicht. Die Zuversicht oder das Überzeugtsein von einer Einsicht oder von einem Gefühl, die man als ‚Gewißheit‘ bezeichnet, ist kein Beherrschen und Bestimmen, sondern viel eher ein Beherrscht- und Bestimmtwerden, dem ein Mensch wehrlos ausgesetzt ist, und das schließt Verletzbarkeit gerade nicht aus. Denn Gewißheit basiert nicht auf Beweisen, sondern auf Erfahrung, die jede Person nur für sich machen, die sie aber anderen nicht andemonstrieren kann. Deshalb ist Gewissheit anfechtbar, ohne daß dem, der sie hat, Verteidigungswaffen zur Verfügung stünden. Der Glaube – als auf Gewißheit gegründetes unbedingtes Vertrauen – impliziert sogar, daß ein Mensch mit seinem ganzen Dasein angreifbar und verwundbar wird. Aber dazu gibt es keine Alternative; denn in der Beziehung zu Gott und in der personalen Beziehung zum Mitmenschen würde das Streben nach Sicherheit jede echte Begegnung verhindern. Glaube, der auf Gewißheit gründet, ist angefochtener Glaube.“18

Ich habe den Eindruck, dass dies gut anschlussfähig ist insbesondere an die Ausführungen von Stegmüller und Marquard. Luther äußert sich zum Thema „Skepsis“ grundsätzlich negativ.19 Er sieht darin eine Erkenntnishaltung, die sich vor eindeutigen Aussagen und vor Überzeugungen drücken will, um nicht klar Stellung nehmen zu müssen.

Hier tritt nun ein gewichtiger Unterschied ins Zentrum unserer Überlegungen: Um welche Erkenntnis handelt es sich? Es handelt sich um die Erkenntnis dessen, was wir zu unserem Heil wissen müssen, und d. h. für Luther vor allem: von wem wir das zu erhoffen und zu erwarten haben, was wir zu unserem Heil brauchen. Und hierfür gilt Luthers Satz: „Quid enim incertitudine miserius?“ – „Was ist elender als Ungewissheit?“20

Unser Heil basiert nicht auf unserem Wissen und unserer Erkenntnis, sondern auf der Gewissheit, die uns durch die Offenbarung des dreieinigen Gottes (im Sohn durch den Heiligen Geist) zuteil wird. Auch für diese Gewissheit (und gerade für sie) können wir keinen Beweis- oder Letztbegründungsanspruch erheben, aber auch für sie gilt, dass sie zu einem Bestandteil unseres Lebens nicht an unserem Wollen vorbei wird, sondern so, dass sie dieses Wollen erweckt oder verändert und zur Zustimmung gewinnt.

b) Gewissheit und Zweifel: Diese Gewissheit bleibt begleitet von der Stimme des Zweifels, die von außen und von innen kommt – sei es als (scheinbare oder echte) Gegengewissheit oder als bloße Infragestellung („Sollte Gott gesagt haben?“ – „Kann man auf Gott vertrauen?“ – „Bekommen wir es in Jesus Christus wirklich zu unserem Heil mit Gott zu tun?“).

Wenn man sieht, welch breiter Strom an Zweifeln die biblischen Ostererzählungen durchzieht – nicht erst bei Thomas, sondern schon „Matthäi am Letzten“ („etliche/sie aber zweifelten“, Mt 28,17), bei Markus („sie glaubten es nicht“, „auch denen glaubten sie nicht“, Mk 16,11 und 13), bei Lukas („und es erschienen ihnen diese Worte , als wär’s Geschwätz, und sie glaubten ihnen nicht“, Lk 24,11) und schließlich bei Johannes – dann sind wir wohl gut beraten, unsere Zweifel nicht zu verdrängen oder zu verleugnen, sondern sie zuzulassen und sie im Vertrauen auf die Selbstdurchsetzungsmacht der Wahrheit in unseren Glauben und in unsere Gottesbeziehung mit hineinzunehmen: „Wir vermögen nichts wider die Wahrheit“ (2. Kor 13,8).

Vielleicht ist ja niemand so bedroht vom Zweifel wie diejenigen, die ein Leben lang mit der biblischen Botschaft umgehen durften, sollten, mussten und dabei auch in der Gefahr waren, abzustumpfen oder nur noch zu funktionieren. Und ich empfinde es persönlich als das größte anzunehmende Unglück, wenn einem Menschen an seinem Lebensende der Glaube, also das Vertrauen auf Gott abhanden kommt und verloren geht. Wenn wir das als einen solchen Verlust empfinden, dann weiß ich jedenfalls keinen besseren Rat, als ganz unoriginell zur Botschaft des Evangeliums und damit zu Gott immer neu den Kontakt zu suchen: durch Gebet, Bibellektüre, Gottesdienstbesuch und das Gespräch mit anderen Menschen. Das ist kein Rezept zur Herstellung oder Erhaltung von Glauben, aber es ist, wenn CA 5 recht hat, das Beste, was wir tun können; denn Gott wirkt durch seinen Heiligen Geist den Glauben wo und wann er will in denen, die das Evangelium hören.21 Dabei könnte sich das Hören des Evangeliums sogar auf unsere eigenen Predigten beziehen, gemäß dem Rat, den Peter Böhler seinem um Glaubensgewissheit ringenden Freund John Wesley gab: „Predige den Glauben, bis du ihn hast; und dann predige ihn, weil du ihn hast.“ Dabei sollten wir nicht versäumen, das zweimal vorkommende Wort „hast“ in unübersehbare Anführungszeichen zu setzen; denn nicht wir „haben“ ihn, sondern, wenn es gut geht, hat und hält er uns.


Wilfried Härle, Ostfildern


Anmerkungen

  1. Der Charakter des Vortrags wurde beibehalten. Eine ausführliche Fassung findet sich auf www.w-haerle.de/texte/Christlicher_Glaube_zwischen_Skepsis_und_Gewissheit.pdf.
  2. Wolfgang Stegmüller, Das Universalienproblem, einst und jetzt, Darmstadt 1957; ders., Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung, Bd. 1 und 2, Stuttgart 31965/61979.
  3. Frankfurt a. M. 1954; Berlin u. a. 21969.
  4. Bd. 1 und 2, Darmstadt 1971/1972.
  5. Bd. 2, Darmstadt 1972, 165-174. Die im Folgenden in Anführungszeichen gesetzten Begriffe entstammen diesem Abschnitt.
  6. Ebd., 171.
  7. Ebd., 173.
  8. Ebd.
  9. Die Argumentationsstruktur bei Weischedel hat auffallende Ähnlichkeit mit der von Pannenberg. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Denkern besteht darin, dass für Pannenberg die im Horizont des apokalyptischen Weltbildes geschehene und gedeutete Auferweckung Jesu Christi von den Toten die „Prolepse“ des Endes der Geschichte in der Mitte der Zeit darstellt, aufgrund deren die Frage nach dem Ausgang und Sinn der Geschichte nicht (mehr) offen, sondern bereits jetzt beantwortet und zwar positiv beantwortet ist.
  10. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, Berlin u. a. 21969, 2.
  11. Ebd., 38.
  12. Ebd.
  13. Die Formel „Credo ut intelligam“ findet sich am Ende des 1. Kapitels von Anselms kleinem, aber äußerst gewichtigem Werk „Proslogion“. Schleiermacher hat sich nicht nur diese Formel, sondern den ganzen Satz Anselms, der sie enthält, als Motto für seine Glaubenslehre zu eigen gemacht und auf deren Deckblatt (1. und 2. Auflage) abgedruckt. Die Formel: „Fides quaerens intellectum“ war der ursprüngliche Titel des Proslogion und ist jetzt am Ende der Vorrede des Proslogion zu finden. Als vertiefende Erläuterung dieser beiden Formeln zitiert Schleiermacher auf dem Titelblatt der Glaubenslehre überdies Anselms Epistula de incarnatione (in: Anselmi opera omnia, Bd. II, hg. von F. S. Schmitt, Stuttgart 21984, 9): „Nam qui non crediderit, non experietur, et qui expertus non fuerit, non intelliget“. Der (Um-)Weg von der Fides über die Experientia zum Intellectus scheint mir von größter Bedeutung zu sein. „Sola ... experientia facit theologum“, heißt es auch schon bei Luther (WATi 1, 16, 13).
  14. Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, a.a.O., 1f.
  15. Hans Balzer, Nur was wir glauben, wissen wir gewiß. Der Lebensweg des lachenden Weisen Wilhelm Busch, Berlin 71958, bes. 66.
  16. Odo Marquard, Schwierigkeiten beim Ja-Sagen, in: Willi Oelmüller (Hg.), Theodizee – Gott vor Gericht, München 1990, 101f. Das ließe sich freilich auch positiv ausdrücken: „und das zu können, ist dann das eigentliche Glück.“
  17. Es war mir ein „gewisser“ Trost, als ich in De servo arbitrio entdeckte, dass Luther beide Begriffe auch gelegentlich ungenau als Hendiadyoin verwenden kann, so z. B. mehrfach hintereinander in LDStA 1, 256, 8, 14f. und 20 (= WA 18, 783, 25, 31 und 36).

  18. Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin/Boston 42012, 62f.
  19. LDStA 1, 231, 21f: „Ich habe keinen Gefallen an der Meinung der Skeptiker“ (lat: „non delector scepticorum sententia“); oder LDStA 1, 233, 39, der berühmte Satz: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker“ (lat: „Spiritus sanctus non est Scepticus“).
  20. LDStA 1, 230, 18f (= WA 18, 604).
  21. Vgl. BSLK 58, 1-7.