Christliches Influencing in sozialen Medien
Religiöse Stile, Entkonfessionalisierung und die Konsequenzen für religiöse Autorität
Manche haben sie schon auf dem Schirm, anderen ist das Feld noch ein Mysterium: religiöse InfluencerInnen1 im Internet. In sozialen Medien sind gerade sie es, die als RepräsentantInnen religiöser Positionen oder ganzer religiöser Traditionen wahrgenommen werden. Diese Ausstrahlung hat weitreichende Konsequenzen: Wie sich Religion im Internet formiert – und gerade in den sozialen Medien, die eher von jenen konsumiert werden, die in demografischer Hinsicht nicht zum Kernbestand der sonntäglichen Kirchgänger gehören –, prägt das Bild jüngerer Generationen von Religion und Kirche. Mittelfristig hat diese Prägung gar Konsequenzen für die Erwartungen, die an religiöse Institutionen wie die christlichen Kirchen auch jenseits des Internets gerichtet werden, inklusive der Gemeinde vor Ort. Die online präsenten Figuren ebenso wie die dort verhandelten Inhalte und die vermittelten religiösen Stile sind daher einige Aufmerksamkeit wert.
Die folgenden Ausführungen werden zunächst einen kurzen Einblick in das Feld religiösen und insbesondere christlichen Influencings geben. Ich werde dann weniger auf die kommunizierten Inhalte als vielmehr auf die Typiken und Strategien ihrer glaubensbezogenen Kommunikation in den sozialen Medien eingehen. Davon ausgehend werde ich schließlich zwei Thesen hinsichtlich der Breiteneffekte dieses Feldes skizzieren: Wandel religiöser Autorität und eine Tendenz zur Entkonfessionalisierung christlicher Religiosität.
Influencing in sozialen Medien: einige grundlegende Vorbemerkungen
Der Begriff „Influencing“ entlehnt sich in der Regel Konzepten aus Werbung und Marketing. Influencer sind dann eine Form der sogenannten Meinungsmacher, die „aufgrund ihres digitalen Netzwerkes, ihrer Persönlichkeitsstärke, einer bestimmten Themenkompetenz und kommunikativen Aktivität eine zugesprochene Glaubwürdigkeit für bestimmte Themen besitzen und diese einer breiten Personengruppe über digitale Kanäle zugänglich machen“ (Schach 2018, 31). Ihnen wird weiterhin die Fähigkeit zugesprochen, Einstellungen und Verhalten ihrer Follower zu beeinflussen (vgl. ebd.).
Diese Definition lässt sich auf christliche und andere religiöse Influencer übertragen: Auch hier gilt im vorgeschlagenen Verständnis als Influencer, wer gut vernetzt ist und eine deutlich überdurchschnittliche Zahl von Followern aufweist, aber auch Glaubwürdigkeit in Bezug auf die Person und insbesondere jegliche religionsbezogene Kommunikation zugeschrieben bekommt. Damit ist außerdem zumindest als Potenzial impliziert, dass die Kommunizierenden einen Einfluss auf die religiösen Haltungen und Verhaltensweisen ihrer Follower haben, sei es in bestärkender oder in verändernder Weise.
Mitgedacht werden muss, dass diese Kriterien immer als relativ verstanden werden müssen: „Viele Follower“ sind im nichtreligiösen oder gar internationalen Bereich schnell sechsstellige, manchmal sieben- bis neunstellige Zahlen – Cristiano Ronaldo etwa hat auf Instagram derzeit 403 Millionen Follower, der Account mit den meisten Followern im deutschsprachigen Bereich ist Toni Kroos mit über 30 Millionen. Im religiösen und zumal deutschsprachigen Feld, auf das sich dieser Aufsatz hauptsächlich bezieht, haben auch die präsentesten Personen oder Kollektiv-Accounts bis auf wenige Ausnahmen eher vier- oder fünfstellige Followerzahlen. Nichtsdestotrotz stehen die Account-InhaberInnen in regelmäßigem Kontakt zu tausenden oder zigtausenden Menschen, die die Fotos, Kommentare oder Videos der Influencer meist automatisch in ihrer Timeline vorfinden, sobald sie die entsprechende Plattform aufsuchen. Sie können damit auch als sogenannte „Micro-Celebrities“ gelten, die ihren Status eben nicht via Exklusivität und Distanz, sondern über Zugänglichkeit und Nähe zu ihren Publika erhalten, gewissermaßen in eine Komplizenschaft mit ihren Followern eintreten (vgl. Borchers 2022, 186). Gerade dass die Influencer einerseits weithin sichtbar sind, andererseits ihren Followern ähnlich und nahbar erscheinen, strukturiert dann ihr Verhältnis zueinander: Die Influencer versprechen so Authentizität, Sinn, Intensität des Gelebten und performative Singularität des Alltäglichen (vgl. ebd., 188ff).
Von welchen Plattformen ist hier eigentlich die Rede, an welchen Orten findet dieser digitale religiöse Austausch statt? Innerhalb der sozialen Medien gibt es eine Reihe ganz verschiedener Plattformen und Apps – etwa Facebook, Twitter, Xing, Pinterest oder Snapchat –, die unterschiedliche Zielsetzungen und divergierende Kernzielgruppen haben. Manche von ihnen bieten zudem durch ihre medialen Eigenschaften, also die Art und Weise, wie sie Kommunikation strukturieren, Influencern eine optimal passende Medienumgebung. Insbesondere Instagram, YouTube und Tiktok sind zentrale Aktionsorte des Influencings: Account-InhaberInnen können dort eine zentrale Position einnehmen, weil viele Menschen ihre Beiträge per Mausklick abonnieren können und diese Beiträge dann in der Regel eine deutlich prominentere Sichtbarkeit im Vergleich zu dazugehörigen Kommentaren und sonstigem Austausch der Follower eingeräumt bekommen. Nicht zuletzt bringen es auch die Algorithmen dieser Plattformen mit sich, dass ohnehin präsente KommunikatorInnen in der Regel eine noch größere Sichtbarkeit erhalten – gewissermaßen die Technisierung des Matthäus-Effektes.
Dabei unterscheiden sich die Plattformen darin, wie sich auf ihnen kommunizieren lässt: Bei Instagram liegt der Schwerpunkt auf Bildwelten, das heißt, jeder Post enthält zentral ein Bild, das von der Erstellerin oder dem Ersteller mit einem Kommentar – erläuternd, beschreibend, kontextualisierend – versehen ist. Solche Bilder, die in aller Regel in hoher Frequenz gepostet werden, um Follower zu binden, sind Teil des Brandings und zeigen häufig die Account-InhaberInnen selbst (vgl. Götz 2019, 25). Sie zeichnen dabei meist das Bild eines idealisierten Selbst und Lebens – die Influencerin oder der Influencer als schöner und gleichwohl natürlicher Typ, als schlanker, gut gelaunter und sozial aktiver Mensch (vgl. ebd., 26). Zu jedem dieser Posts erlaubt eine automatisch generierte Kommentarspalte den Austausch aller NutzerInnen der Plattform. Daneben können auf Instagram seit einigen Jahren kurze Video-Inhalte hochgeladen werden, eine Funktion, die inzwischen große Beliebtheit erlangt hat. YouTube und Tiktok hingegen erlauben ausschließlich das Posten von Videos – bei Tiktok nur Sekunden oder wenige Minuten lang, bei YouTube in beliebiger Länge –, eröffnen aber wie Instagram allen NutzerInnen die Möglichkeit, sich in einer Kommentarspalte über das gepostete Video auszutauschen. Allen drei Plattformen ist damit eigen, dass im Gegensatz zu anderen Social-Media-Plattformen wie Twitter oder Messengerdiensten stärker einzelne Personen und ihre Posts, und hier vor allem Bilder und Videos, in den Vordergrund rücken. Sie evozieren so insbesondere die Selbstpräsentation, weniger einen gleichberechtigen oder thematisch orientierten Austausch aller NutzerInnen.
Auch wenn einige Social-Media-Plattformen und AkteurInnen nur kurzzeitig erfolgreich sind, sind doch gerade Instagram und YouTube schon vergleichsweise lange als Knotenpunkt für Influencer relevant.2 Es findet sich eine beinahe weltumspannende Zielgruppe, deren Ansprache vor allem durch Sprachgrenzen (allerdings in wenigen Fällen auch durch staatliche Restriktionen) beschränkt wird. Gerade Gruppen, die sich in ihrer direkten sozialen Umgebung als Minderheit fühlen, marginalisiert sind oder eine Gemeinschaft für Spezialinteressen suchen, finden hier schnell Austausch. Die Nutzung ist grundsätzlich jedem möglich, sofern eine technische Ausstattung – etwa ein Smartphone – und das basale technische Knowhow vorhanden sind. Um allerdings erfolgreich zu sein, ist ein tiefergehendes Verständnis der Medienlogiken nötig – dazu unten mehr.
Christliche Influencer: ein Blick ins Feld
Die allgemein formulierten Punkte stellen natürlich auch die Rahmenbedingungen dar für das spezifischere Feld der christlichen Influencer – auch „Christfluencer“ oder „Sinnfluencer“ genannt (vgl. u. a. Pirner / Häusler 2019). Wie viele andere Influencer sind auch sie häufig auf mehreren Plattformen präsent, wodurch sie einerseits insgesamt eine größere Zielgruppe erreichen, andererseits die Möglichkeiten teilweise auch nutzen, um unterschiedliche Facetten ihrer Selbstpräsentation auf unterschiedliche Plattformen und damit an divergierende Communities verteilen zu können. Es ist innerhalb der Gruppe der religiösen Influencer unterschiedlich, ob sich die Betreffenden tatsächlich vorrangig oder ausschließlich auf religionsbezogene Themen konzentrieren oder ob sie eine breitere Themenvielfalt bespielen, aber ihre religiöse Orientierung im Kontext dessen durchaus thematisiert wird. Sie unterscheiden sich darüber hinaus natürlich in Alter, Generation, politischer und religiöser Orientierung und nicht zuletzt auch darin, ob sie jenseits ihres religiösen Online-Engagements religiöse Laien sind oder innerhalb einer religiösen Organisation eine Position einnehmen und / oder eine entsprechende Ausbildung durchlaufen haben.
Wer nun gerade als Influencer wahrgenommen wird, ist in stetigem Wandel begriffen. Um zur Eigenrecherche zu inspirieren, seien nur einige Accounts genannt, die gegenwärtig größere Bekanntheit erlangt haben, etwa Jana Highholder, die lange auch im Auftrag der EKD präsent war (auf Instagram @hiighholder; alle folgenden Usernamen beziehen sich ebenfalls auf Instagram), Li Marie (Lisa Repert, (@li.marie), Theresa Brückner (@theresaliebt), Josephine Teske (@seligkeitsdinge_), Gunnar Engel (@pastor.engel), Sarah Vecera (@moyo.me), Maike Schöfer (@ja.und.amen), Ellen und Steffi Radtke (@andersamen), Xile Zhou (@xilezhou), Tobias Teichen (@tobias.teichen), Esther und Chris (@togetheringod), Kira Beer (@kira__beer).3
Die AkteurInnen decken das ganze Feld religiöser Orientierungen ab, sie kommen aus dem katholischen, evangelischen oder freikirchlichen Raum. Auch in ihrer gesellschaftspolitischen Haltung sowie den geäußerten Einstellungen zu religiös begründeten Werthaltungen und zu Fragen der Lebensführung finden sich beinahe alle denkbaren Standpunkte von progressiv-liberalen zu konservativ-traditionellen Haltungen. Die thematischen Schwerpunkte, die die AkteurInnen in ihrer Social-Media-Präsenz setzen, variieren ebenfalls: Die Fragen der christlichen Lebensführung sind bei vielen ein Dauerbrenner – etwa die Themen Sexualität und Beziehung, Kleidung und „modesty“, gern im Stil von Q&A-Posts: Darf ich Sex vor der Ehe haben? Ist gleichgeschlechtliche Liebe okay? Wie sollte sich eine Christin kleiden oder schminken? Bei anderen Accounts geht es hingegen stärker um religiöse Praxis, etwa ums Bibellesen und -teilen, um das teilweise populäre „Bible lettering“ oder um Gebetspraktiken und -routinen. Manche Accounts behandeln daneben Themen ihrer Generation mit und ohne zwingenden Religionsbezug – Mode, Freunde, Ausgehen, auch Nachhaltigkeit, Klima, Umweltschutz – oder das breitere Feld von Sinn- und Wertefragen. Einige AkteurInnen – bei weitem nicht alle – sind hauptamtlich Teil einer religiösen Organisation und teilen Einblicke in ihr Berufsleben, etwa in den Arbeitsalltag eines Pfarrers oder einer Pfarrerin. Zuletzt sei angemerkt, dass es auch innerhalb und außerhalb religiöser Organisationen verankerte Kollektive gibt, die einen gemeinsamen, manchmal einen interkonfessionellen Account betreiben, etwa „Faithpwr“ (@faithpwr auf Instagram) oder das „Feministische Andachtskollektiv“ (@fak.kollektiv).
Ein Blick auf Medienlogiken und religiöse Stile
Es gibt bisher nur wenige wissenschaftliche Analysen zu christlichen Influencern und ihren Kommunikationsstilen im deutschsprachigen Raum. Im allgemeinen Blick auf das Feld ist wohl mittlerweile unstrittig, dass die Nutzung sozialer Medien ein absoluter Alltagsbestandteil Jugendlicher und junger Erwachsener (und nicht nur dieser) ist. Die dort gepflegten Sozialkontakte sind demnach nicht weniger wichtig als diejenigen jenseits des Internets, wenn sie nicht ohnehin schon eng miteinander verwoben sind. Damit ist die Nutzung von Social-Media-Plattformen, sei es in der aktiven Produktion von Content oder der passiveren Rezeption (und in vielen Kontexten ist diese Unterscheidung von Produktion und Rezeption auch schon obsolet), ein grundlegender Aspekt der Bildung auch religiöser Identitäten.
Das inhaltlich sehr weite Feld der Themen und Standpunkte christlicher Influencer wurde im vorangegangenen Abschnitt bereits skizziert. Hier lässt sich wenig Generalisierendes sagen, die Positionen sind mindestens so divers, wie sie sich auch im christlichen Feld jenseits des Internets finden. Statistische Erhebungen oder breit angelegte qualitative Studien gibt es im hier beleuchteten Feld noch nicht, doch legen die bisherigen Fallstudien die Vermutung nahe, dass manche Grenzen und Reglementierungen der Herkunftskirche oder -gemeinde überschritten werden können: etwa indem online sagbar wird, was nicht den Positionen der lokalen Kirche entspricht oder dort tabuisiert wird, oder indem Menschen Positionen einnehmen können, die ihnen im analogen Kontext verwehrt werden – etwa aufgrund ihres Geschlechtes, ihres Alters oder vielleicht auch impliziter angesichts ihres theologischen oder gesellschaftspolitischen Standpunkts.
Im Folgenden soll der Blick aber noch auf einen Aspekt jenseits dieser inhaltlichen Bandbreite gerichtet werden, nämlich auf die Prägung religiöser Stile in sozialen Medien durch allgemeine Medienlogiken. Rebekka Krain und Laura Mößle haben eine der wenigen Analysen zu christlichem Influencing im deutschsprachigen Raum vorgelegt, spezifisch am Beispiel der Influencerin „Li Marie“. Hinter diesem Account steht Lisa Repert, eine junge Frau mit freikirchlichem Hintergrund. Sie hat gegenwärtig jeweils etwa 14 000 Follower auf YouTube und auf Instagram, ihre YouTube-Videos verzeichnen zwischen 4000 und 400 000 Aufrufen. Krain und Mößle identifizieren den Einsatz von Emotionen – genauer: „doing emotion“ – als eine zentrale Kommunikationsstrategie bei Li Marie. Dahinter verbirgt sich die Idee der Emotionspraktiken, dass also Emotionen mobilisiert, benannt, vermittelt und reguliert werden (vgl. Krain / Mößle 2020, 171). Dazu passt die besondere Betonung einer Personalisierung und Privatisierung von Kommunikation: Wir sehen Li Marie in ihrem Schlafzimmer, auf ihrem ungemachten Bett, auch ihre Kommunikationsweise ist intim, insofern sie bis in die Kameraeinstellungen hinein häufig wirkt, als säße man bei einer Freundin zum Kaffee. Hinzu kommt eine Personalisierung in der Kommunikation: Die Followerschaft wird persönlich adressiert, die Kommunikationsweise unterstellt eine persönliche Sozialbeziehung, aber auch die Themen, die verhandelt werden, sind solche der Privatsphäre, betreffen die Einzelperson in ihrer Religiosität und werden auf diese Weise adressiert. Auch Krain und Mößle diagnostizieren angesichts ähnlicher Beobachtungen, dass Li Maries Kommunikation von der Herstellung von Intimität geprägt wird. Sie machen darüber hinaus noch zwei weitere Strategien aus: die Reduktion von theologischer Komplexität in den Glaubensbotschaften der Influencerin, die wenig Platz für Pluralität und Zweifel ließen, und das Vorleben eines „christlichen Lifestyles“, der eine christliche Lebensführung inszeniere, die einerseits konservativ sei, aber andererseits in vielen Belangen – Mode, Ästhetik, Sprache – mit dem Zeitgeist moderner Lebensstile vereinbar erscheine (vgl. ebd., 174 – 177).
Screenshot des Instagram-Profils der Influencerin Lisa Repert [Download pdf-Datei]
Die Komplexitätsreduktion theologischer Inhalte und insgesamt die inhaltliche Ebene müssen an dieser Stelle dem Urteil anderer vorbehalten bleiben. Die Personalisierung, Privatisierung und Intimisierung als stilistische Merkmale der Kommunikation ebenso wie die Darstellung eines bestimmten Lifestyles hingegen sind bei weitem nicht spezifisch für Li Marie oder Influencer aus dem freikirchlichen Feld – oder auch überhaupt nur für christliche oder religiöse Influencer. Die Art der vertraulichen Ansprache (die eine Sozialbeziehung zwischen Influencer und Follower je nach Deutungsweise suggeriert oder faktisch anlegt), die Behandlung von Themen der Privatsphäre (etwa Beziehung, Sexualität, Elternschaft, aber auch individuelles Glaubensleben und -zweifel) und das bildhafte Mitnehmen in den eigenen Alltag einen viele der oben genannten christlichen Influencer. Doch all das entspricht letztlich breiteren Üblichkeiten rezenter Social-Media-Kommunikation. Das kommt nicht überraschend, kontextualisiert man es mit Blick auf die Bedürfnisse einer subjektbezogenen, individualisierten Gesellschaft: Gefällt mir dieser Account? Spricht er mich an? Passt er zu mir? Hilft er mir bei meinen Anliegen weiter? In der Verbindung aus vielen Wahlmöglichkeiten und der Suche nach großer Passgenauigkeit ist das Subjekt selbst im Zweifelsfall der letzte Referenzpunkt.
Die Darstellung eines bestimmten Lifestyles seitens der Influencer ist ein zweiter Aspekt, der über das Feld hinausweist und erneut dazu auffordert, sich genauer mit allgemeiner verbreiteten Medienlogiken zu befassen: Gerade auf Instagram manifestieren sich immer wieder sehr spezifische Marker der Popularität und Arten, auf die diese in den medialen Bildwelten üblicherweise dargestellt werden. Sie sind nicht unveränderlich, sondern im stetigen Wandel begriffen, auch nicht allgemeingültig, sondern können sich in einzelnen Subkulturen deutlich unterscheiden; allein, es gibt eine klare Bildsprache, die sofort signalisiert, dass hier jemand mit den gegenwärtigen Codes vertraut ist und ihre Umsetzung beherrscht. Das betrifft die komplette Bildkomposition: die sichtbaren Gegenstände, das Arrangement des oder der Körper, Kleidung, ggf. Make-up und Haare, Bildausschnitt und grafische Bearbeitung des Fotos bzw. Einsatz von Filtern. Dass hier bestimmte Trends prägend sind, führt dann zu frappierenden stilistischen Ähnlichkeiten von christlichen Accounts, die inhaltlich in ganz unterschiedlichen Feldern des christlichen Spektrums und / oder gesellschaftspolitischer Standpunkte stehen können.
Medien sind Agenten religiösen Wandels, schreibt der dänische Medienwissenschaftler Stig Hjarvard (vgl. Hjarvard 2008). Damit weist er darauf hin, dass Medien inzwischen eine unabhängige gesellschaftliche Institution sind, von der andere Institutionen zunehmend abhängig werden – darunter auch religiöse. Akteure und Institutionen des religiösen Feldes müssen sich gewissermaßen den Logiken der Medien unterwerfen, um weiterhin in der Lage zu sein, mit anderen Institutionen und der Gesellschaft als Ganzer zu kommunizieren (vgl. ebd.). Das heißt: Religion muss sich zunehmend den Eigenlogiken der Medien unterordnen, und zwar in Bezug auf ihre Inhalte, ihre Symbolwelten und Narrative, ihre Stile und Ästhetiken. Religion wird mediatisiert, und im Zuge dessen wird ihr die Macht über ihre eigenen Inhalte und Formen entzogen. Dieser Prozess zeigt sich an vielen Stellen der medialen Verhandlung von Religion – von „Spiegel“-Titelbildern bis „Wir sind Papst“ –, er wird aber zugespitzt eben auch in der Analyse der Bildwelten christlicher Influencer sichtbar. Zwei Konsequenzen dessen, die nicht zuletzt auch auf das religiöse Feld jenseits des Internets zurückwirken, möchte ich exemplarisch im folgenden, abschließenden Abschnitt thematisieren.
Entkonfessionalisierung und die Neuverhandlung religiöser Autorität
Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung von 2015 zeigte bereits, dass die Konfessionszugehörigkeit für viele Befragte an Bedeutung für ihre religiöse Identität verliert. Gefragt, was für sie zum Evangelischsein dazugehöre, antworteten über 80 Prozent jeweils mit „getauft sein“ und „dass man sich bemüht, ein anständiger Mensch zu sein“. An dritter Stelle folgte als erste tatsächlich konfessionsspezifische, aber eben eher organisatorisch gedachte Antwort: „dass man in der evangelischen Kirche ist“. Die evangelische Theologin Kristin Merle schließt daraus in Bezug auf Konfessionalität und Religionszugehörigkeit: „Im Ganzen scheint sich ‚an der Basis‘ in der Breite eher eine Entdifferenzierung als eine Profilierung zu vollziehen“ (Merle 2021, 180).
Diese Entwicklung ist in ihrer Breite sowie in den jahrzehntelangen Entwicklungen, die ihr vorausgehen, dem Feld des Online-Influencings natürlich vorgängig. Es sticht aber ins Auge, wie stark gerade das Internet von postdenominationalen Stilen geprägt ist. Dies hat seine Ursachen sicher in mehreren Faktoren. Zum einen unterscheidet sich der medial vermittelte Raum von unserem analogen Kontext hinsichtlich der jeweiligen konfessionellen Vorprägung. Öffentlicher Raum ist in territorialer Hinsicht zumindest teilweise durch konfessionelle Marker wie religiöse Gebäude geprägt, in formaler Hinsicht durch ein konfessionell organisiertes Bekenntnis. Vor allem aber sind fast alle christlichen Angebote ganz vorgängig anhand ihrer konfessionellen Ausrichtung organisiert. Diese historisch gewachsenen Strukturen fehlen online, sodass hier auch hinsichtlich religionsbezogener Kommunikation ein Raum entsteht, in dem es häufig weder nötig noch naheliegend ist, für sich oder andere eine konfessionelle Zuordnung vorzunehmen. Mit Blick auf die Influencing-AkteurInnen zeigt sich bei einem Gutteil, dass ein konfessionelles Bekenntnis kein oder kein relevanter Bestandteil ihrer religiösen Kommunikation ist, einige bezeichnen sich einfach als Christ oder Christin, und es bedarf größerer Erfahrung oder zumindest etwas Recherche, um herauszufinden, welche christliche Tradition die Standpunkte hinter dem Account prägen könnte. Sind nun, wie oben beschrieben, konfessionell geprägte ästhetische oder narrative Marker weniger sichtbar, weil die Kommunikations- und Präsentationsstile mehr jenen allgemeineren, religionsunabhängig etablierten Routinen von Social-Media-Kommunikation folgen, entdifferenziert sich konfessionelle Identität stilistisch weitgehend. Die interkonfessionellen „feinen Unterscheide“ werden so häufig weitgehend unsichtbar.
Eine zweite zentrale Konsequenz des Online-Austauschs ist die Neuverhandlung religiöser Autorität. Wie oben bereits angerissen haben digitale soziale Medien das Potenzial, stärker auch Personen jenseits kirchlicher Hierarchien einen Raum zu öffnen, nicht nur zum Austausch, sondern auch, um eine Position als präsenter Kommunikator einzunehmen. Dieses Potenzial darf nicht damit verwechselt werden, dass das Internet ein hierarchiefreier Raum sei – das ist bei weitem nicht so. Und gerade jene sozialen Medien, die das Influencer-Prinzip besonders befördern, stellen damit letztlich neue Hierarchien her, denn sie organisieren Kommunikation überwiegend so, dass eine klare Aufteilung aller Beteiligten in Influencer und Follower entsteht.
Dennoch ist bemerkenswert, wie hier die Zuschreibung von religiöser Autorität neu verhandelt wird und welche Kompetenzen und Eigenschaften dafür entscheidend sind – denn in diesem Feld gibt es eben nicht nur jene, die auch offiziell anerkannte religiöse ExpertInnen sind, sondern auch solche, die zu neuen Autoritäten werden, indem sie ohne jede formale Position beispielsweise zu entscheidenden „Role Models“ (Vorbildern) für gelebte Religiosität werden. Wer in religiösen Organisationen als Autorität gilt, kann auch in sozialen Medien Anerkennung erlangen, diese Entsprechung ist aber nicht selbstverständlich. Personen mit einer formalen theologischen Ausbildung können fraglos von einem profunden Wissensschatz und weiteren Kompetenzen profitieren, etablierte Influencer können aber noch anderes: Sie haben nicht nur technische Kompetenzen (oder die entsprechenden Ressourcen dazu im Hintergrund), sondern sind auch mit den Gepflogenheiten im Umgang mit den Plattformen und den für diese typischen Kommunikationsstilen und Ästhetiken vertraut.
Dabei scheint es kein einfaches Patentrezept zu geben, wie die Zuschreibung religiöser Expertise erfolgt, aber doch einige Strategien und Eigenschaften, die in der Passung auf verschiedene Zielgruppen und Bedürfnisse immer wieder sichtbar werden: Das kann eben ein tiefergehendes religiöses Wissen sein, das davon überzeugt, jemanden vor sich zu haben, der zuverlässig und vertrauenswürdig über religiöse Fragen Auskunft geben kann. Es kann auch eine herausragende Kompetenz der empathischen Zuwendung sein oder die besonders lebens- und alltagsnahe Behandlung religiöser Themen, die den Anliegen der Follower entsprechen. Nicht zuletzt führt die Kombination von individuellen Charakteristika und routinierter Mediennutzung zur Zuschreibung von Authentizität als besonderer, vermeintlich integraler persönlicher Eigenschaft der Influencer. Genannt werden müssen auch Aspekte, die wohl nicht ursächlich für die Zuschreibung religiöser Autorität sind, aber die Popularität befördern, etwa die Kompetenz, Inhalte unterhaltsam aufzubereiten und mit einem geeigneten Storytelling zu versehen, oder die zuverlässige und – zumindest gelegentliche – zugewandte Interaktion mit den Followern. Für viele ist auch die Fähigkeit wichtig, in Bezug auf Sprache und Themen respektvoll und diskriminierungssensibel zu agieren, für andere vielleicht stärker die Neigung zur Polarisierung und Zuspitzung.
Zu einer Position religiöser Autorität in digitalen Kontexten gibt es mithin keinen monokausalen oder berechenbaren Weg, denn Autorität ist immer ein Produkt von Zuschreibungen, sie kann nie einfach ergriffen werden. Die Grundlagen für solche Zuschreibungen, das ist online nicht anders als analog, sind je nach Zielgruppe sehr unterschiedlich, und systematisierende Analysen für dieses junge Feld fehlen noch. Überdeutlich aber ist, dass sich hier Verschiebungen in den Zugängen zu einflussreichen Positionen ereignen, die anders funktionieren als die diesbezüglichen Routinen in den traditionellen Bistümern und Landeskirchen.
Das Feld des religiösen Austausches in den sozialen Medien mag derzeit noch nicht viele ChristInnen betreffen. Aber nicht nur die Corona-Pandemie hat die Zuwendung zur religionsbezogenen Online-Kommunikation befördert. Auch der demografische Wandel wird die sozialen Medien sukzessive und nachhaltig zu einem der Hauptorte für religiösen Austausch in den kommenden Jahrzehnten machen. Die Art des dortigen Austausches schließlich verändert schon jetzt die Erwartungen, die zumindest die Generationen der Unter-40-Jährigen an die Vermittlung und Verhandlung religiöser Inhalte richten. Das hier thematisierte Feld gilt es also nicht nur für sich genommen zu betrachten, sondern als eines, das nachhaltig in das religiöse Feld auch jenseits digitaler Medien ausstrahlen wird.
Anna Neumaier, 13.05.2022
Anmerkungen
1 Um der Lesbarkeit willen wurde im weiteren Verlauf des Textes auf das „Gendern“ der englischen Begriffe „Influencer“ und „Follower“ verzichtet (die Red.).
2 2012 hatte Instagram bereits über 100 Millionen NutzerInnen, 2016 über 500 Millionen, 2018 über 1 Milliarde. YouTube berichtete 2010 schon von mehr als zwei Milliarden Aufrufen pro Tag. In Deutschland gehörten Instagram und YouTube schon 2016 zu den vier meistgenutzten Angeboten (mit WhatsApp und Facebook) unter 12- bis 19-Jährigen (vgl. JIM-Studie 2016), und sie gehörten auch 2021 zu den „wichtigsten Apps“ in der gleichen Beforschtengruppe (nun zusammen mit WhatsApp und Tiktok, vgl. JIM-Studie 2021).
3 Dabei lasse ich hier einmal weitgehend jene Influencer außen vor, deren Religiosität immer mal wieder in ihren Posts sichtbar wird, aber kein explizites Thema darstellt, vgl. etwa Lisa und Lena Mantler (@lisaandlena auf Instagram, 17 Millionen Follower) oder Millane Friesen (@millanefriesen, 1 Million Follower). Der Fokus liegt hier stattdessen auf Influencern, deren Glaube und / oder deren Position in einer religiösen Institution zu den hauptsächlichen Themen ihrer Social-Media-Aktivitäten gehören.
Literatur
Borchers, Nils S. (2022): ???. Zu den Ursachen der Bewunderung von Social-Media-Influencer*Innen, in: Hagedorn, Kim u. a. (Hg.): Provozierte Bewunderung, Paderborn, 181 – 198, https://brill.com/view/book/edcoll/9783846766644/BP000019.xml.
Götz, Maya (2019): Die Selbstinszenierung von Influencerinnen auf Instagram und ihre Bedeutung für Mädchen. Zusammenfassung der Ergebnisse einer Studienreihe, in: Televizion 32/1, 25 – 28.
Hjarvard, Stig (2008): The mediatization of religion: A theory of media as agents of religious change, in: Northern Lights 6/1, 9 – 26.
Krain, Rebekka / Mößle, Laura: Christliches Influencing auf YouTube als „doing emotion“, in: Österreichisches Religionspädagogisches Forum 28/1, 161 – 178.
JIM 2021. Jugend, Information, Medien. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger, hg. v. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), Stuttgart.
JIM 2016. Jugend, Information, (Multi-)Media. Basisstudie zum Medienumgang 12- bis 19-Jähriger in Deutschland, hg. v. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (mpfs), Stuttgart.
Merle, Kristin (2021): Kirche im digitalen Raum. Neue Chancen für Ökumene?, in: Ökumenische Rundschau 70/2, 179 – 188.
Pirner, Manfred L. / Häusler, Nastja (2019): Influencer als Vorbilder? Eine Bestandsaufnahme und Impulse für den Religionsunterricht, in: Loccumer Pelikan 3, 9 – 13.
Schach, Annika (2018): Botschafter, Blogger, Influencer. Eine definitorische Einordnung aus der Perspektive der Public Relations, in: dies. / Lommatzsch, Timo (Hg.): Influencer Relations. Marketing und PR mit digitalen Meinungsführern, Wiesbaden, 27 – 47.