Andreas von Heyl

Christliches Menschenbild und therapeutisches Handeln

Impulse und Chancen

Eine realistische Sicht des Menschen

Wie jedes andere religiös verankerte Grundverständnis des Menschen ist auch das christliche komplex und differenziert. Im Rahmen dieses Beitrags können allenfalls einige Aspekte ein wenig beleuchtet werden. Zunächst einmal: Das biblisch-christliche Menschenbild ist ambivalent und wird darin in besonderer Weise der Wirklichkeit des Menschlichen gerecht.Einerseits hat die Bibel eine sehr pessimistische Sicht des Menschen. Bereits im zweiten Kapitel der Genesis wird der Mensch aus dem Paradies vertrieben, weil er sein will wie Gott. Im vierten Kapitel geschieht der erste Mord, ein Brudermord: Kain erschlägt Abel. Im sechsten Kapitel heißt es dann, „dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar“ (6,5). Da reut es Gott, dass er die Menschen geschaffen hat, und er schickt die Sintflut, um sie zu vernichten. Aber auch mit der neuen, nach der Sintflut entstandenen Menschheit steht es nicht besser. Weiterhin regieren Mord und Totschlag, Lug und Trug die Welt. Diese dunkle Sicht der Menschen setzt sich im Neuen Testament fort, wenn Jesus ausgerechnet die angesehensten Repräsentanten seines Volkes, die Pharisäer und Schriftgelehrten, als hochmütige Egoisten entlarvt und sie beschimpft, dass ihr Inneres voll Raubgier und Bosheit sei (Luk 11,39-42). Paulus wiederum beklagt im Brief an die Römer die conditio humana, die menschliche Natur: „Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich“ (Röm 7,18-20). Die Bibel nennt diesen Zustand Sünde. Kern der Sünde ist die Abkehr des Menschen von Gott. Aus ihr folgen alle weiteren Einzelsünden.Andererseits findet sich in der Bibel aber auch eine positive, eine ausgesprochen potenzialorientierte Sicht des Menschen. Gott erschafft Mann und Frau zu seinem Ebenbild. Er erwählt das Volk Israel zu seinem Volk und befreit es aus der Sklaverei in Ägypten. Er schließt mit ihm am Berg Sinai einen Bund und gibt ihm das heilige Gesetz, das Leben erhalten und bewahren soll. Wenn das Volk oder einer seiner Könige von Bund und Gesetz abzuweichen droht, sendet Gott Propheten, um es bzw. ihn auf den rechten Weg zurückzubringen. Im Neuen Testament wird berichtet, wie Jesus die Ehebrecherin beschützt, die nach dem Gesetz der Juden eigentlich gesteinigt werden müsste. In seinem berühmten Gleichnis schildert Jesus Gott als einen Vater, der den verlorenen Sohn mit Freuden wieder bei sich aufnimmt. Er kehrt bei dem verhassten Zöllner Zachäus zum Essen ein, woraufhin dieser das zu Unrecht erworbene Gut vierfach zurückerstattet. Zu seinen Zuhörern, Männern wie Frauen, sagt Jesus: „Ihr seid das Licht der Welt“ (Matth 5,14). Und seinen Jüngern gibt er die Macht, Kranke zu heilen und böse Geister auszutreiben. Die neutestamentliche Botschaft gipfelt schließlich in der Aussage, dass Gott Jesus, seinen Sohn, gesandt hat, um diejenigen, die an ihn glauben, zu erlösen.Was bedeuten diese theologischen Essentials für das therapeutische Handeln? Sie können dazu ermutigen, dass man realistisch bleibt. Das Böse, das Chaotische, das Auto- und Fremdaggressive, der „Schatten“, wie Carl Gustav Jung das Abgründige des Menschen genannt hat, ist im menschlichen Herzen da. Er ist eine Realität, der wir uns stellen müssen. Er kann weder „bereinigt“ noch „wegtherapiert“ werden. Wir können den Menschen weder gut noch heil machen. Wir können ihm allenfalls helfen, mit seinen Problemen ein wenig besser zurechtzukommen. Die Vorstellung der Humanistischen Psychologie, dass man den Klienten in der Therapie nur mit einer hinreichend wertschätzenden und annehmenden therapeutischen Haltung zu begegnen habe, dann würden sie sich schon von selbst zu freien, authentischen und glücklichen Persönlichkeiten entfalten, ist vom biblischen Menschenbild her zu hinterfragen. Das böse Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist eine Realität, von der uns ja auch ein Blick auf die Gegebenheiten auf dieser Erde jederzeit überzeugen kann.„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ Mit diesen Worten beginnen Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihr Epoche machendes Werk „Dialektik der Aufklärung“.1 Hier bestätigen zwei dezidierte Nichtchristen den paulinischen Satz: „Das Böse, das ich nicht will, das tue ich.“ Wir können natürlich versuchen, diese menschliche Natur zu verleugnen und abzuspalten. Aber das bringt uns nicht weiter. Sie wird trotzdem ihre Wirksamkeit entfalten und dies in unberechenbarer und unkontrollierter Weise.Der Archetypos eines solchen Abspalters ist der Pharisäer im Gleichnis in Luk 18,9-14. Er betet: „Ich danke dir, Herr, dass ich nicht bin wie ... dieser Zöllner.“ Der Zöllner aber erkennt, wie vergebungsbedürftig er ist. Er ruft zerknirscht: „Herr, erbarme dich meiner!“ Und er wird von Jesus gerechtfertigt. Die Erkenntnis unseres Schattens, das Eingeständnis unserer Hilfsbedürftigkeit ist die Vorraussetzung für die Versöhnung mit der dunklen Seite unseres Selbst. Diese Versöhnung wird uns dann vielleicht sogar bereichern, uns mit ganz neuen Potenzialen und Energien unseres Selbst in Berührung bringen.Der Mönch und Psychologe Anselm Grün erinnert in diesem Zusammenhang gern an das Märchen von den bellenden Hunden2: Darin wird der Held, ein Dummling, vom Vater in die weite Welt hinausgeschickt, um etwas Rechtes zu lernen. Aber es gelingt ihm nicht. Schließlich wird der Vater zornig und verstößt den Sohn. Der geht nun auf Wanderschaft und kommt zu einer Burg, wo er übernachten möchte. Der Burgherr kann ihm nur den Turm zur Verfügung stellen. Darin hausen jedoch wilde, bellende Hunde, die schon so manchen verschlungen haben. Aber der Junge hat keine Angst, er nimmt etwas zum Essen mit und wagt sich in den Turm hinein. Er spricht wohlwollend mit den Hunden und füttert sie. Da verraten sie ihm, dass sie nur deshalb so wild sind, weil sie einen Schatz hüten. Und sie zeigen ihm den Weg zum Schatz und helfen ihm dabei, ihn auszugraben. Das Märchen will sagen, dass der Weg zu unserem Schatz nur über das Gespräch mit den bellenden Hunden führt. Dazu müssen wir freilich erst einmal ihre Sprache lernen: Was sagen mir meine Wut, meine Gier, mein Hass? Wenn ich abspalte, komme ich nicht in Kontakt.Versöhnung – ich denke, mit diesem Begriff ließe sich die Kernaufgabe der Therapie auf den Punkt bringen. Es geht, so wie ich es verstehe, im therapeutischen Prozess letztlich immer um Versöhnung – mit unserem Schatten, mit unseren Trieben, mit unserem Versagen, mit unserer Herkunftsfamilie, mit unserer Lebensgeschichte, mit den widerstreitenden Energien in unserem Herzen.

Ein Leben „in Fülle“

Die Religion hat all dies auch im Blick. Religion will grundsätzlich immer auch versöhnen: die Menschen untereinander, die Menschen mit der Mitwelt alles Geschaffenen, den Menschen mit Gott (vgl. 2. Kor 5,20, wo Paulus schreibt: „So bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!“). Aber die Religion geht noch einen Schritt weiter: Ihr eigentliches Ziel ist die Erlösung. Es geht nicht nur um die Integration der conditio humana, sondern um deren Transzendierung. Der Religion geht es um die sogenannten „letzten Fragen“, Fragen also, die für die gesamte Menschheit und für jeden einzelnen Menschen von existenzieller Bedeutung sind: nach dem Sinn des Lebens, nach einer grundlegenden ethischen Orientierung unserer Existenz, nach der Bewältigung des Leidens und unserer Sterblichkeit. All das sind Fragen, auf die die Therapie per se zunächst einmal keine oder keine ausreichenden Antworten hat. Bleiben sie jedoch unbeantwortet, fühlen sich viele Menschen im Grunde ihres Herzens heimat- und orientierungslos. C.G. Jung hat die Bedeutung dieser Fragen für die Seele und den Zusammenhang zwischen seelischer Gesundheit und religiöser Bindung besonders klar gesehen. Er betonte: „Unter allen meinen Patienten jenseits der Lebensmitte, das heißt jenseits 35, ist nicht ein einziger, dessen endgültiges Problem nicht das der religiösen Einstellung wäre. Ja, jeder krankt in letzter Linie daran, dass er das verloren hat, was lebendige Religionen ihren Gläubigen zu allen Zeiten gegeben haben, und keiner ist wirklich geheilt, der seine religiöse Einstellung nicht wieder erreicht, was mit Konfession und der Zugehörigkeit zu einer Kirche natürlich nichts zu tun hat.“3Die zentrale Botschaft der Bibel und die Grundüberzeugung im christlichen Menschenbild besteht nun darin, dass jedem Menschen Erlösung zuteil werden kann – über die Bindung an Gott. Das gilt übrigens nicht nur für das Christentum, sondern für alle Religionen: Das Entscheidende ist in allen Religionen diese Bindung. Die Betonung der Bindung steckt ja schon in dem Begriff „Religion“ (lat. religare, sich binden, sich zurückbinden an den Schöpfer). Wer das tut, dem wird ein Leben in Fülle verheißen, in diesem Leben und in einem jenseitigen. „Wohl dem, der sinnt über Gottes Gesetz Tag und Nacht, der ist wie Baum gepflanzt an den Wasserbächen“, heißt es im ersten Psalm. Jesus sagt im Johannesevangelium: „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt“ (Joh 11,25). „Wer an mich glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen“ (Joh 7,38). Paulus betont in seinen Briefen, dass wir „in“ Christus, in der Verbindung mit ihm, das neue Leben haben.Wieder gefragt: Was bedeutet das für das therapeutische Handeln? Die Frage der spirituellen Bindung sollte im therapeutischen Prozess nicht ausgeklammert werden, und neben der Bindung zwischen dem Therapeuten und dem Klienten sollte die Bedeutung der spirituellen Bindung des Klienten (aber auch des Therapeuten) keinesfalls unterschätzt werden. Heil und letztlich ganz gesund werden kann der Mensch nur auf dem Weg über diese Bindung. Das haben schon die großen Menschenkenner der Antike gewusst. So hält der Kirchenvater Augustinus fest: „Denn Du, Herr, schufst uns, dass wir zu dir kommen sollten – und unruhig ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir.“4 Diese Unruhe, die letztlich eine existenzielle Unruhe ist und mit unserer Endlichkeit und der Sehnsucht der Seele nach ihrem Ursprung zusammenhängt, kann auch die beste Therapie nicht stillen. C. G. Jung, Viktor Frankl, Karlfried Graf Dürckheim, Johanna Herzog-Dürck und viele andere Therapeuten, vor allem auch die Therapeuten in den monastischen Traditionen aller Religionen, haben das gewusst.Die heilende Wirkung religiöser Praktiken ist durch alle Jahrhunderte hindurch bis in die Gegenwart unbestritten. Im Christentum wären dies das Herzens- und das Rosenkranzgebet und andere meditative Praktiken, Handauflegen, Segnen und Salben, das Singen von Liedern und die Rezitation heiliger Texte, die Feier von Gottesdiensten, die Teilnahme am Abendmahl und vieles mehr. Ihre therapeutische Wirksamkeit ist inzwischen auch durch vielerlei wissenschaftliche, medizinische und psychologische Studien belegt.5 Diese Praktiken könnten sozusagen als adjuvante Maßnahmen in den therapeutischen Prozeß mit eingebunden werden – aber nicht durch die Person des Therapeuten bzw. der Therapeutin selbst und nicht innerhalb des dialogischen Settings einer Therapiestunde. Das wäre ein unguter Übersprung zwischen verschiedenen Settings und Gattungen. Da der christliche Glaube von der Gemeinschaft lebt und die Therapeuten keine von der Gemeinde berufenen Pfarrer oder Priester sind, sollten diese Übungen und Handlungen, wie ja auch traditionell praktizert, im Raum der Kirche innerhalb gemeindlicher Veranstaltungen stattfinden und von dafür berufenen Personen durchgeführt und angeleitet werden.Dass es freilich auch krankmachende, dämonische Seiten von Religion gibt, haben wir alle auch schon vor Tilmann Moser gewusst, vielleicht sogar am eigenen Leibe erlebt. Eine Religion, die krank macht, ist aber eine falsche, eine pervertierte Religion. Mit Recht weist der Dalai Lama auf den grundsätzlich lebensbewahrenden Charakter aller Religionen hin, wenn er sagt: „Alle großen Religionen haben dieselben Botschaften: Es sind Botschaften der Liebe, des Mitgefühls, der Vergebung, der Toleranz, der Zufriedenheit und der Selbstdisziplin.“6

Vom Mythos der Ganzheit und Vollkommenheit

Nicht nur die Sicht des Menschen ist im christlichen Glauben ambivalent, sondern auch die Sicht von Gesundheit und Krankheit. Schon im frühen Christentum bildete sich die Auffassung heraus, dass es auch eine krankmachende, eine „heillose“ Gesundheit gibt. Man war überzeugt, dass ein Mensch äußerlich im Vollbesitz seiner körperlichen und geistigen Kräfte und doch in Wahrheit krank sein kann, weil er sich auf einem falschen Weg befindet, weil er gegen sein innerstes Wesen lebt oder gegen die Schöpfungsordnung verstößt. Und im Gegenzug war man auch der Ansicht, dass manchmal eine Krankheit für den Betroffenen durchaus etwas „Heilsames“ sein konnte, insofern sie ihn vielleicht wieder zur Vernunft und auf den rechten Weg brachte, dadurch für ihn zu einem Schlüssel für die Heilung seines „inwendigen“ Menschen wurde und ihm so zu seinem „Heil“ gereichte. „‚Gar heilsam’ – so lesen wir schon in einem Bamberger Codex aus der Zeit um 800 – ‚kann eine Krankheit sein, wenn sie den Menschen in seiner Verhärtung aufbricht, und gar verderblich wird eine Heilkunst, wenn sie den Menschen nur bestärkt in seinem unseligen Trott.’“7Diese Sichtweise hat der Schriftsteller André Gide aufgegriffen, als er in seinen Tagebüchern notierte: „Ich glaube, dass Krankheiten Schlüssel sind, die uns gewisse Tore öffnen können. Ich glaube, es gibt gewisse Tore, die nur die Krankheit öffnen kann. Es gibt jedenfalls einen Gesundheitszustand, der uns nicht erlaubt, alles zu verstehen. Vielleicht verschließt uns die Krankheit einige Wahrheiten, ebenso aber verschließt uns die Gesundheit andere oder führt uns davon weg, so dass wir uns nicht mehr darum kümmern. Ich habe unter denen, die sich einer unerschütterten Gesundheit erfreuen, noch keinen getroffen, der nicht nach irgendeiner Seite hin ein bisschen beschränkt gewesen wäre, wie solche, die nie gereist sind.“8 Auch wenn die Therapie nicht den gewünschten Erfolg hat, verfügen die Klienten über ein vollgültiges Leben. Krankheit und Gesundheit sind kein Gradmesser für die Teilhabe an der Fülle des Lebens. Kranke und behinderte Menschen können manchmal mehr vom Leben spüren und wahrnehmen als gesunde. Viele Gesunde laufen dagegen wie blind durch ihr Leben. In ihrer Hast und Hetze, ihrer Anspannung und Verkrampftheit wirken sie krank.Leicht neigen wir dazu, von einem schönen und erfüllten Leben zu sprechen, wenn es „lang und gut“ war. Aber auch ein beeinträchtigtes, ein kurzes, leidvolles Leben kann erfüllt sein, sogar mehr als das lange, das glatt und schön dahinläuft. Wer sagt denn, dass der Sinn des Lebens im Erreichen eines hohen Alters liegt oder in der Erlangung irdischen „Glücks“, das wir gemeinhin mit Wohlstand, gesellschaftlicher Anerkennung, einem interessanten Beruf, schönen Reisen, häufigen Festen und einer Fülle befriedigender Beziehungen gleichsetzen? Gemessen an diesem Maßstab wäre z. B. der Maler Vincent van Gogh ein Mensch, dessen Leben sich nicht gelohnt hat. Er war schizophren und zwanghaft, bettelarm und gesellschaftlich geächtet. Er hatte, außer zu seinem Bruder, kaum soziale Beziehungen, und sein Werk wurde erst Jahre nach seinem Tod gewürdigt. Aber beim Blick auf die von ihm gemalten Sonnenblumenfelder und Sternenhimmel wird kaum einer sagen, van Goghs Leben sei sinnlos gewesen. Hätte man ihn mit Tabletten sediert oder ihm seinen inneren Vulkan in anderer Weise wegtherapiert, hätte man seinen Genius kastriert.Vor einigen Jahren hat die Theologin Gunda Schneider-Flume ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Leben ist kostbar – Wider die Tyrannei des gelingenden Lebens“ (Göttingen 2002). In beeindruckender Weise setzt sie sich darin kritisch mit der inzwischen – auch in therapeutischen Kreisen – verbreiteten Vorstellung auseinander, dass unser Leben zu „gelingen“ habe, weil es sonst nichts wert sei. Als „gelungen“ gilt es dann, wenn es gefüllt war mit faszinierenden Erlebnissen und interessanten Kontakten, wenn es mit Kraft, Intensität und Freude gelebt werden konnte, wenn es eine beachtliche „Lebensleistung“ vorweisen kann und möglichst einen bleibenden Eindruck in dieser Welt hinterlässt. Mit dieser Vorstellung aber sind alle ausgegrenzt, denen das Glück nicht hold war, jene, die sich mit widerstreitenden Energien in ihrem Herzen und in ihrer Seele herumschlagen, diejenigen, denen vieles misslingt, die immer wieder an ihren äußeren und inneren Gegebenheiten scheitern. Nach dem biblischen Menschenbild gilt jedoch gerade für sie die Aussage des Propheten Jesaja (42,3), die im Neuen Testament dann ausdrücklich auf Jesus bezogen wird: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht nicht auslöschen.“ Jesus ruft den Gebrochenen zu: „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Matth 11,28).Ähnlich wie Schneider-Flume hat einige Jahre zuvor der Theologe Henning Luther argumentiert. Seine Gedanken wirken ebenfalls befreiend angesichts der Vorstellung, dass man, um „vollwertig“ zu sein, stark, schön, gelassen und fröhlich sein muss und dass die „wichtigen“ Dinge des Lebens wie Selbstverwirklichung, Partnerschaft, Kindererziehung, beruflicher Erfolg, das Erreichen von Wohlstand etc. zu glücken haben.9 Er wendet sich energisch gegen den „Mythos der Ganzheit“ und fragt: „Sind nicht unsere Ideale der Vollkommenheit und Ganzheit letztlich zerstörerisch? Zerstören sie nicht das uns lebbare Leben? Unser Leben mit all seinen Brüchen, Fehlern, Unvollkommenheiten, Schwächen? Hindern uns nicht die Illusionen von Vollkommenheit und Ganzheit am Leben? Drohen wir nicht an unseren Illusionen zu scheitern? Ist der Mythos der Ganzheit nicht eine einzige Lebenslüge, die unsere schüchternen und unvollkommenen Tastversuche, unseren Versuch zu leben, im Keim erstickt und abtötet?“ Henning Luther plädiert demgegenüber für eine Lebenseinstellung, die mutig und getrost ja sagt zur „Fragmenthaftigkeit“ unseres Daseins. Die populären Vorstellungen vom fortwährenden Wachstum einer reifen Persönlichkeit unterschlagen bzw. verdrängen die Verlustgeschichte, die die meisten von uns auch zu bewältigen haben, und widersprechen eben damit der Ganzheit, die sie doch anstreben. In Wahrheit sind wir – so Henning Luther – immer „auch gleichsam Ruinen unserer Vergangenheit, Fragmente zerbrochener Hoffnungen, zerronnener Lebenschancen, verworfener Möglichkeiten, vertaner und verspielter Chancen“.10Für das therapeutische Handeln bedeuten die Stellungnahmen dieser beiden Theologen wiederum eine Warnung, dass man sich in der Therapie nicht von der Wunschvorstellung leiten lassen sollte, man könnte die Menschen völlig heil und ganz machen. Etwas Gebrochenes, Unaufgeräumtes bleibt in jeder Seele. Und dennoch ist Leben möglich, Leben im vollen Sinn. Dies sollte auch die Therapie immer wieder betonen: „Du bist mehr als deine Symptome!“ Wie weise hat in diesem Sinne Viktor von Weizsäcker, der in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts wirkende Arzt und Wegbereiter der psychosomatischen Medizin, geurteilt. Gefragt, wie er denn Gesundheit definieren würde, antwortete er: Gesundheit ist „nicht die Abwesenheit von Störungen, sondern die Fähigkeit, mit ihnen zu leben“.


Andreas von Heyl


Anmerkungen

1 Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987 (32003).

2 Anselm Grün, Spiritualität von unten, in: Walther H. Lechler, So kann’s mit mir nicht weitergehn! Neubeginn durch spirituelle Erfahrungen in der Therapie, Stuttgart 1994, 151-167, 154f.

3 Carl Gustav Jung, Gesammelte Werke, Bd. 11, Zürich / Stuttgart 1963, 362.

4 Augustinus, Confessiones, Bd. 1, erstes Buch, erstes Kapitel.

5 Allein zum Thema Religion und psychische Gesundheit wurden in den letzten 30 Jahren weit über 1500 Beiträge veröffentlicht. Vgl. z. B. Simone Ehm/Michael Utsch (Hg.), Kann Glauben gesund machen? Spiritualität in der modernen Medizin, EZW-Texte 181, Berlin 2005 (dort umfangreiche weitere Literaturverweise).

6 Die Bedeutung von Religion in der heutigen Zeit, Rede des Dalai Lama in Mailand am 7.12.2007, leicht redigiert von Alexander Berzin. www.berzinarchives.com (2.5.2011).

7 Zitiert bei Heinrich Schipperges, Die Vernunft des Leibes. Gesundheit und Krankheit im Wandel, Graz u. a. 1984, 72.

8 André Gide, Aus den Tagebüchern 1889-1939, Stuttgart 1961, 312f.

9 Henning Luther, Leben als Fragment. Der Mythos der Ganzheit, in: Wege zum Menschen 5/1991, 262-273.

10 Zitate ebd., 263, 266, 267.