Corona-Krise: Glockenläuten und Gebetsruf
Solange die Corona-Krise Versammlungen zu Gottesdiensten und Gebeten unmöglich machte, suchten Kirchen und Religionsgemeinschaften nach Wegen, Verbundenheit und Solidarität auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen. Das ökumenische Glockenläuten (evangelisch-katholisch), zum Palmsonntag zu Beginn der Karwoche sowie zum Ostersonntag offiziell von EKD und Deutscher Bischofskonferenz unterstützt, sollte solch ein Zeichen der Zuversicht in Zeiten der Corona-Pandemie sein.
An vielen Orten setzten sich kirchliche Initiativen dafür ein, darüber hinaus mit muslimischen Partnern im Sinne des gesellschaftlichen Zusammenhalts und interreligiöser Verbundenheit täglich – an einigen Stellen wöchentlich – zu einer vereinbarten Zeit die Kirchenglocken läuten und zeitgleich den islamischen Gebetsruf (Adhan) ertönen zu lassen. Für die (notwendige) behördliche Genehmigung stützt man sich auf die Religionsfreiheit (Art. 4 GG) und die Einhaltung der Lautstärkeregeln (Immissionsschutz). Den Anfang machte anscheinend Duisburg (Merkez-Moschee, DİTİB) schon am Freitag, dem 20. März 2020, Tage vor Verhängung der Kontaktsperre.1 Bald folgten Dortmund, Hamburg, Hannover, Berlin. Bis Mitte April wurde die Beteiligung von mindestens 35 Städten bekannt,2 wobei etwa Ende März allein für Dortmund die Rede von zwölf teilnehmenden DİTİB-Moscheen war, weitere Moscheen wollten sich anschließen. An einigen Orten kam es zu Schwierigkeiten, da beim bzw. vor dem Bau der Moschee im Grundbuch notarielle Eintragungen zur Verhinderung eines öffentlichen Gebetsrufs vorgenommen worden waren.
In den Niederlanden soll der Gebetsruf von mehr als 40 Moscheen zu hören gewesen sein. Die englische BBC strahlte den Adhan seit Anfang April erstmals im Rahmen von wöchentlichen „Islamischen Betrachtungen“ aus, um Muslimen im Vorfeld des Fastenmonats Ramadan entgegenzukommen. In Frankreich begann die Große Moschee von Lyon am 25. März (dem kirchlichen Feiertag Verkündigung des Herrn), unter dem Vorwand der Solidarität für die mutigen „Männer und Frauen im öffentlichen Dienst und in den Krankenhäusern“ unmittelbar vor dem landesweiten Glockengeläut mit Lautsprechern zum Gebet zu rufen, weitere Städte folgten. In Lyon wurden weder die örtlichen Kirchen informiert noch staatliche Stellen um Genehmigung ersucht.3
Einige der hiesigen Moscheen beantragten den Gebetsruf erst für die Zeit des Ramadan (ab 23.4.). Die ganze Aktion soll grundsätzlich auf die Zeit der Kontaktsperre beschränkt sein.
Als eines der ersten Medien berichtete TRT Deutsch, der türkische Staatssender, der seit Anfang des Jahres auch eine neue deutsche Nachrichtenseite aufbaut.4 Die Initiative stehe „ganz im Zeichen von Solidarität“, dazu hätten sich kirchliche Institutionen mit Moscheen zusammengetan. „Sie rufen zur gleichen Zeit gemeinsam zum Gebet.“ Muslime seien dankbar für die solidarische Geste. Für sie sei es ein starkes spirituelles Gefühl, den Gebetsruf zu erleben, zumal in Deutschland. Vonseiten örtlicher christlicher Mitveranstalter wurde auf die abrahamische Geschwisterschaft verwiesen und darauf, dass Christen und Muslime auf unterschiedliche Weise zu dem einen und selben Gott beteten.
Aufregung verursachte die Aktion „Ich höre deinen Ruf“ in Berlin-Neukölln, wo sich zum ersten lauten Gebetsruf der Dar as-Salam Moschee (Neuköllner Begegnungsstätte, NBS) am 3. April trotz Kontaktsperre und gegen die ausdrücklichen Versuche des Moscheevereins, es zu verhindern, etwa 300 Menschen vor der Moschee versammelten. Das Abstandsgebot wurde nicht eingehalten. Viele Muslime feierten die Premiere mit Staunen und Begeisterung, brachen in „Allahu akbar“-Rufe und Gebete aus, Handys wurden gezückt.5 Die Aktion wurde schließlich durch die Polizei im Einvernehmen mit dem Imam vorzeitig beendet. Die Bekanntgabe der Moschee am 4. April drückte die Hoffnung „auf verantwortungsvolleres Verhalten in naher Zukunft“ aus (im arabischen Text abweichend: „Wir hoffen, dass wir den Adhan schon sehr bald erneut ausrufen werden“). Es gab öffentliche Kritik an der gemeinsamen Aktion von NBS und evangelischer Kirche, u. a. aus den Berliner Fraktionen von SPD, CDU und AfD, dass die christliche Gemeinde überhaupt mit der NBS zusammenarbeitet. Die Erwähnung der NBS im Verfassungsschutzbericht 2017 wurde erfolgreich gerichtlich angefochten, die Beobachtung jedoch nicht untersagt. Es gibt Anzeichen für Verbindungen der NBS zur islamistischen Muslimbruderschaft.6
Der islamische Gebetsruf, arab. Adhan (mu’adhdhin = Muezzin), türk. Ezan,7 ist nur sehr oberflächlich mit dem kirchlichen Glockengeläut vergleichbar. Fünfmal am Tag von Sonnenaufgang bis in die Nacht ruft er den Kern und den Anspruch des islamischen Glaubens in Gestalt des Glaubensbekenntnisses auf Arabisch über das Stadtgebiet aus und ruft damit zum islamischen Pflichtgebet auf. Er hat in seiner Hauptform folgenden Wortlaut: Allah ist größer (oder: am größten, Allahu akbar) (4x) – Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Allah gibt (2x) – Ich bezeuge, dass Muhammad Allahs Gesandter ist (2x) – Auf zum Gebet! (2x) – Auf zum Erfolg (oder: Heil)! (2x) – Allah ist größer (2x) – Es gibt keinen Gott außer Allah.
Der Adhan hat mithin keine „neutrale“ Form (wie selbstverständlich alle Gebete nicht „neutral“ sind), sondern eine klare Botschaft, die auch als Aufforderung verstanden werden kann. Insofern geht es inhaltlich nicht zuletzt um einen Deutungsanspruch. „Allahu akbar“ (Gott ist schlechthin größer) ist ein das Gebet von Muslimen ständig begleitender Ausruf, der auch im Alltag vielfach als Ausruf des Erstaunens oder Erschreckens, der Bewunderung, aber auch als Schlachtruf vorkommt und in Bezug auf Gott die Überbietung aller Komparative und Superlative und damit absolute Unvergleichlichkeit vermittelt. Verbunden mit den Aussagen des Glaubensbekenntnisses (Negation) grenzt der Adhan den islamischen Glauben von anderen Religionen ab, insbesondere auch vom Christentum, das nach islamischer Auffassung Gott fälschlich einen „Teilhaber“ zur Seite stellt (schirk).8
Das Glockengeläut christlicher Kirchen unterscheidet sich vor allem dadurch, dass es kein Teil des Gebets ist und keine inhaltliche Botschaft proklamiert. Kirchenglocken laden – wenn es sich nicht ohnehin um Profangeläut handelt (Stundenschlag, Notfall, Alarm) – zu einem Gottesdienst oder zum Gebet ein.9 Das Glockengeläut kann auch für Nichtchristen ein Anstoß für einen Moment der Stille oder der Besinnung, auch des Gebets sein. Der Muezzin ruft zu einem Gebet nur für Muslime. Nichtmuslime können es als eine erzwungene Teilnahme an einer gottesdienstlichen Handlung empfinden (negative Religionsfreiheit). Dabei ist auch an die Menschen zu denken, die aus islamisch geprägten Ländern kommen, sich selbst aber nicht oder nicht mehr religiös verstehen – und teilweise leidvolle biografische Erfahrungen mit dem Gebetsruf verbinden.
Nun ging es bei den aktuellen Aktionen nicht so sehr um liturgische Fragen und theologische Gehalte, sondern um ein gesellschaftliches Zeichen der Solidarität. Die Organisatoren mögen dies in ihren Statements zum Ausdruck gebracht haben, aber man kann bezweifeln, ob das an der Basis überall angekommen ist. Gemeinsamer Ruf zum Gebet? Ein Zeichen der Solidarität? Der Imam der Berliner Moschee verkündete in seiner Videoansprache nicht ohne Stolz, dies sei ein „historischer Moment“, dass der Adhan „zum ersten Mal in der Geschichte“ über Berlin erschalle, und er verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, dass der Gebetsruf auch nach diesen „außergewöhnlichen Umständen“ zu hören sein werde.10 In den vielfachen (arabischen) Reaktionen auf den Straßen und im Netz wurde Dankbarkeit geäußert, es wurde Gott gepriesen, es war aber durchaus auch ein Triumphgefühl zu spüren, dass jetzt vielleicht ganz Deutschland vom Islam erreicht werde. Es sei ein Anfang gemacht, der über die Corona-Pandemie hinaus für Deutschland und Europa Wirkung zeigen solle. Manche Äußerung klang weniger nach Solidarität als vielmehr nach Punktsieg für die Verankerung des islamischen Bekenntnisses im öffentlichen Leben.
Es ist schwer einzusehen, wie der islamische Gebetsruf als solcher eine Verbundenheit von Christen, Muslimen und Angehörigen anderer Religionen ausdrücken soll. Juden, Buddhisten, Hindus, Bahai und andere haben zudem nichts Vergleichbares, dennoch ist die Solidarität mit ihnen keine geringere oder weniger ausgeprägt als die mit Muslimen. Auf der anderen Seite hat der lautsprecherverstärkte Gebetsruf, wie er heute zu hören ist, selbst in islamischen Ländern keine lange historische Tradition (anders als das Glockenläuten in unseren Breiten), gehört aber etwa zum Forderungskatalog der Islamischen Charta des Zentralrats der Muslime in Deutschland (ZMD) von 2002.11
So gesehen stellt sich der Eindruck ein, dass eine politisch durchaus brisante und womöglich nach der Pandemie kaum revidierbare Weichenstellung sozusagen zwischen Tür und Angel vorgenommen wird. Langfristig ist dies kein Gewinn für die Solidarität in der Gesellschaft, die einen Anspruch darauf hat, dass das richtige und wichtige Anliegen nicht im Windschatten der Krise, sondern „in einem möglichst breiten Konsens nach einer Debatte und nach der Abwägung aller vernünftigen Argumente“ entschieden wird.12
Friedmann Eißler
Anmerkungen
1 Vgl. https://twitter.com/Tarek_Bae/status/1241132857533349896 (Abruf der Internetseiten: 14.4.2020).
2 Darunter Flensburg, Kiel, Rendsburg, Münster, Bad Meinberg, Wuppertal, Gladbeck, Dinslaken, Braunschweig, Goslar, Germersheim, Wiesbaden, Rüsselsheim, Bad Schwalbach und Maulbronn.
3 Vgl. www.causeur.fr/le-muezzin-et-les-cloches-175121.
4 Vgl. www.trtdeutsch.com/news-inland/solidarisch-im-ausnahmezustand-moschee-startet-lauten-gebetsruf-1473216. TRT ist mehr oder weniger direkt dem türkischen Präsidenten unterstellt.
6 Vgl. Friedmann Eißler: Thesenanschlag in Berlin. Reformideen versus Dialog?, in: MdEZW 12/2017, 468f, sowie ders.: Islamische Verbände in Deutschland, EZW-Texte 260, Berlin 2019, 134-137.
7 Vgl. Friedmann Eißler: Islamischer Gebetsruf, in: MdEZW 1/2010, 25-27; ders.: Islamischer Gebetsruf in Gladbeck, in: MdEZW 6/2015, 227f.
8 Deutlich wird die enge Verknüpfung der Ablehnung des schirk und „Allahu akbar“ etwa in dem Koranvers Sure 17,111: „Und sag: (Alles) Lob gehört Allah, der sich keine Kinder genommen hat, und es gibt weder einen Teilhaber an seiner Herrschaft, noch benötigt er einen Beschützer vor Demütigung. Und verherrliche ihn doch als den Größten!“ (Den Schluss könnte man übersetzen: Mache ihn groß mit dem Ruf „Allahu akbar“.) Für diesen Hinweis danke ich Dr. Hanna N. Josua.
9 Auch wo feste Assoziationen von Glockengeläut und Gebetstexten vorhanden sind, wie in der katholischen und orthodoxen Tradition beim dreimal täglichen Läuten zum Angelus-Gebet, bleibt das Geläut als Einladung ein Signal ohne Textbotschaft, während das Gebet selbst im kirchlichen Raum oder im Privaten stattfindet.
10 Arabische Ansprache von Mohamed Taha Sabri am 3.4.2020 direkt vor Beginn, www.facebook.com/NBSev1/videos/537102890522232.
11 Nach § 20 der Islamischen Charta sieht es der ZMD als seine Aufgabe an, den in Deutschland lebenden Muslimen „eine würdige muslimische Lebensweise im Rahmen des Grundgesetzes und des geltenden Rechts zu ermöglichen“. Der vierte von zehn Punkten: „Erlaubnis des lautsprechverstärkten Gebetsrufs, Respektierung islamischer Bekleidungsvorschriften in Schulen und Behörden.“ Zur Bedeutung der Charta und ihrer Relevanz bis heute s. Eißler: Islamische Verbände in Deutschland (s. Fußnote 6), 119-122.
12 So Chefredakteur Lothar Leuschen am 11.4.2020 in einem Kommentar in der Westdeutschen Zeitung.