Das Abenteuer der Grenzerfahrung
Mitte April 2011 fanden die „3. Münchner Erfahrungstage“ statt, die der emeritierte Soziologe Kurt Weis (TU München) zum Thema „Das Abenteuer der Grenzerfahrung in unterschiedlichen Bewusstseinskulturen“ in Eigenverantwortung organisiert hatte (www.amiando.com/Grenzerfahrung.html). 19 Referenten führten vom Mittelalter bis in die nahe Zukunft, von Europa und Lateinamerika bis Indien. Die Einleitung Franz-Theo Gottwalds (Vorstand der Schweisfurth-Stiftung, München) und der Vortrag des Städtedesigners Klaus Jahn bildeten einen zeitkritischen Rahmen mit Fragen nach den Grenzen von Wachstum und technischer Machbarkeit sowie Forderungen nach neuem Denken und Verhalten.Durch Grenzerfahrungen und den Umgang damit werden Veränderungen der Denk- und Verhaltensmuster möglich, so die These. Wie aber kann man Grenzen erkennen und dann überschreiten? Die Referate umkreisten unterschiedliche Praktiken: Atem- und Körperübungen, rituellen Genuss von Drogen, religiöse Berichte von Mystikern. Mehrfach wurde auf Meister Eckhart und Berninis Statue der Teresa von Avila Bezug genommen. Bemerkenswert waren die Ausführungen der Psychotherapeutin Michaela Özelsel über Sufitum und Derwisch-Tanz als „Urform des Gebets in Bewegung“ oder der Vortrag Harald Walachs (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) über „Spiritualität und Innere Erfahrung“ von Hugo de Balma bis heute.Einen Schwerpunkt bildeten Referate zu östlichen Wegen der Grenzerfahrung. Der Theologe, Yoga- und Zen-Lehrer Christian Hackbarth-Johnson stellte in einem Referat über „Die Stufen unseres Bewusstseins“ Modelle aus Yoga und Buddhismus vor. Ein zweites Referat widmete er dem französischen Benediktiner-Missonar Henri Le Saux (Swami Abhishiktananda, 1910-1973), der trotz vieler innerer und äußerer Konflikte hinduistischen Lehren folgte, zum Mystiker wurde und als Pionier des interreligiösen Dialogs gilt. Für Sebastian Chembakam (Sadhu Videhe) wurde Le Saux zum zweiten Guru nach Christus. Der indische Bettelmönch, der aus einer katholischen Familie stammt und in Klinischer Psychologie promoviert hat, versuchte bei den Erfahrungstagen, den Einklang von Evangelium und Advaita-Lehren, bei denen er Ramana Maharshi folgt, plausibel zu machen. Es wirkt gleichwohl vereinfachend, wenn er Selbstaussagen Jesu wie „Ich und der Vater sind eins“ (Joh 10,30) zum Ziel einer christlichen Grenzerfahrung erklärt und diese mit der im Advaita angestrebten Einheit von menschlichem infinitem Bewusstsein und Gott (Atman und Brahman) gleichsetzt. Schamanistische Methoden fanden besondere Beachtung, etwa das Trommeln bei Bruce Werber, vor allem aber die psychoaktiven „Meisterpflanzen des oberen Amazonas“. Der Psychologe Frank Pfitzner war bis 2010 Leiter des Therapeutenteams im Therapiezentrum Takiwasi in Peru. Er stellte fundiert dar, wie mithilfe indigener Heiler und ihrer Lieder und Rituale rund um den Sud aus der Liane Ayahuasca Drogensüchtige aus der Abhängigkeit gelöst werden. Der kultische Aspekt der Indianer-Religion, in der die Pflanzengeister als mächtige Wesen verehrt werden, spielt eine ebenso große Rolle wie der pharmazeutische. Daher warnte Pfitzner davor, sich über die Traditionen hinwegzusetzen und die Heilpflanze für den Konsum zu missbrauchen, um sich einen „Tripp“ zu gönnen. Werde jedoch Ayahuasca im richtigen Kontext verabreicht, könne jeder eine Initiation in tiefere Dimensionen erleben. Hier schloss der Bericht von Kurt Weis über eigene Experimente mit Ayahuasca an, die ihn binnen dreier Nächte durchs Inferno zum höchsten Glücksbewusstsein gebracht hätten. – Es könnte sein, dass der Stoff bald weitere Verbreitung findet, als den Indios am Amazonas lieb sein kann. So beschreibt etwa auch der britische Rock-Musiker Sting religiöse Visionen nach dem Genuss von Ayahuasca (Interview im Film „2012: Time For Change“).Nach dem Ende der Tagung bleibt zu fragen: Wie machbar ist Mystik? Dass auf dem Weg nach innen eine Grenzüberschreitung geschehen kann, hin zu mystischen Erfahrungen oder Samadhi-Erlebnissen, bezeugen einige der Wissenschaftler. Nur wird vielleicht etwas rasch aufgrund ähnlicher Hirnzustände auf die Identität eines durch Übungen oder den Konsum von Psychedelika veränderten Bewusstseins mit dem Gnadengeschenk einer Unio mystica im religiösen Sinn geschlussfolgert.
Angelika Koller, München