Das Attentat auf Shinzo Abe
Hintergründe, Motive, Reaktionen
Am 8. Juli 2022 wurde Shinzo Abe, ehemaliger Premierminister Japans (1954 – 2022, im Amt bis 2020), von dem 41-jährigen mutmaßlichen Täter Tetsuya Yamagami mit einer selbstgebauten Waffe auf offener Straße ermordet. Dieses Verbrechen hat nicht nur die japanische Gesellschaft, die als eine der sichersten der Welt gilt, geschockt, sondern auch weit über Japan hinaus tiefe Betroffenheit ausgelöst. Neben den kriminologischen und politischen Hintergründen spielt auch die weltanschauliche Dimension eine bedeutende Rolle, da die Motivlage des mutmaßlichen Täters in Zusammenhang mit der von Sun Myung Moon (1920 – 2012) gegründeten Familienföderation für Weltfrieden und Vereinigung („Vereinigungskirche“) steht.1
Als Motiv für sein Attentat gibt der mutmaßliche Täter an, dass er aus Hass auf die Religionsgemeinschaft gehandelt habe und außerdem von „Armutsängsten“ getrieben gewesen sei. Seine Mutter, seit 1998 Mitglied der Vereinigungskirche, habe dieser im Laufe der Jahre ca. 100 Millionen Yen gespendet (etwa 710 000 Euro). Für diese Spenden habe sie Haus und Grund der Familie verkauft. Da sie die Universitätsgebühren für ihren Sohn nicht mehr zahlen konnte, habe er das Studium abbrechen müssen und sei seither arbeitslos. Nachdem die Mutter 2002 Privatinsolvenz angemeldet hatte, wurde ihr von der Vereinigungskirche knapp die Hälfte des Geldes zurückgezahlt.
Der mutmaßliche Attentäter wirft in einem an einen Kritiker der Vereinigungskirche gerichteten Brief der eigenen Mutter vor, aufgrund der Spenden die Familie ruiniert zu haben. Er sei „verbittert“ gegenüber der Vereinigungskirche. Da er nicht an Führungspersonen der Gemeinschaft selbst herankomme, habe er sich Abe ausgesucht, den er als „einen der einflussreichsten Sympathisanten der Vereinigungskirche“ bezeichnete. Zur Untersuchung der Schuldfähigkeit und eventueller psychopathologischer Hintergründe ist Yamagami gerichtlich zunächst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden.
Die weltanschauliche Motivlage und der Konnex zur Vereinigungskirche werden breit rezipiert. Ich möchte hier drei Kontexte herausgreifen.
Diskussion um die Verflechtungen neureligiöser Gruppierungen mit der Politik
Im Nachgang des Attentats flammt erneut eine Diskussion auf, die in der japanischen Politik eine lange Geschichte hat: Es geht um den Einfluss religiöser Gruppen auf die Politik und umgekehrt um die Nutzung politischer Größen zur Legitimierung sowie zum Image- und Seriositätsgewinn religiöser Gemeinschaften. Es ist in Japan nicht ungewöhnlich, dass Anhänger von Religionsgemeinschaften bei Wahlen gezielt für bestimmte Parteien und Kandidaten mobilisiert werden. Dabei stehen vor allem drei Gemeinschaften im Fokus: die staatsnahe Shinto-Religion, die dem rechtsnationalistischen Flügel der Liberaldemokratischen Partei (LDP) nahesteht; die buddhistische Neureligion Soka Gakkai, in welcher die – sich allerdings um Distanz bemühende – Komeito-Partei wurzelt; schließlich die Vereinigungskirche, die in einer losen Verbindung zum konservativen Flügel der LDP (zu dem auch Shinzo Abe gehörte) steht.
Der letztgenannte Bezug hat Wurzeln in Politik und Geschichte: Neben den theologischen Lehren (wie etwa der heilsnotwendigen Verbindung der Mitglieder mit der göttlichen Blutlinie der „Himmlischen Eltern“ Sun Myun und Hak Ja Han Moon) waren und sind die Grundpfeiler der Vereinigungskirche der klassische Wert der Familie, das Ziel der Wiedervereinigung Koreas und der ausgeprägte Antikommunismus. Gerade mit dieser Einstellung war die Religionsgemeinschaft in Japan zu Beginn ihrer Missionstätigkeit (ab 1958) hoch willkommen, und Nobusuke Kishi, Abes Großvater und damaliger Ministerpräsident (1957 – 1960), pflegte enge Verbindungen zu Moon. Dass die Vereinigungskirche neben der Pflege politischer Kontakte diverse wirtschaftliche Unternehmen betreibt und unterstützt (darunter Immobilien- und Baufirmen, chemische Industrie, Automobilindustrie und -zulieferer, Rüstungsindustrie oder ein Großhandel für Meeresfrüchte), wird in der jetzigen Diskussion erneut aufgegriffen.
Solche Verbindungen haben eine weitere Bedeutung: Einige neureligiöse Gemeinschaften nutzen Auftritte mit bekannten Persönlichkeiten zur Legitimierung und zum Seriositätsgewinn. Vorzugsweise geschieht dies durch eine der Mutterorganisation nahestehende, einem gemeinnützigen Zweck verpflichtete Organisation. Dafür gibt es eine Vielzahl an Beispielen: von den sogenannten „Celebrities“ bei Scientology-nahen Organisationen wie der Kommissionfür Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte(KVPM) oder Sag nein zu Drogen über ehemalige Staatspräsidenten oder Minister bei den Shincheonji-nahen Organisationen International Peace Youth Group (IPYG) oder We are One bis hin zur Vereinigungskirche: Erst im vergangenen Jahr 2021 gab es anlässlich der World Summits und der „Rally of Hope“ der Universal Peace Federation (UPF), einer der Vereinigungskirche nahestehenden Friedensorganisation, Grußvideobotschaften u. a. von José Mauel Barroso, Donald Trump und eben auch Shinzo Abe. Dieser dankte Moons Witwe und jetzigen Leiterin der Vereinigungskirche Hak Ja Han „für ihren rastlosen Einsatz, Dispute in der Welt zu lösen, vor allem in Verbindung mit der friedlichen Wiedervereinigung der koreanischen Halbinsel“.
Es gibt unterschiedliche Einschätzungen zu solchen „nahestehenden Organisationen“ neureligiöser Bewegungen: Die einen kritisieren sie als Fassadenorganisationen, deren eigentlicher Zweck es sei, die Seriosität und Legitimation der Gruppierung zu stärken. Die anderen betonen die primär friedensethische Arbeit, die unabhängig von jeglicher religiösen Zugehörigkeit geschehe. Dass personelle Verflechtungen und inhaltliche Nähe existieren, etwa durch dieselben Gründer, ist jedoch unumstritten. Es ist derzeit zu beobachten, dass diese Thematik in Japan aufgrund der Untersuchungen nach dem Attentat auf Shinzo Abe in den Fokus der medialen Diskussion rückt.
Reaktion der Vereinigungskirche
Recht schnell hat sich die Vereinigungskirche in einer Pressekonferenz in Tokio, die von Tomihiro Tanaka, dem Japan-Chef, geleitet wurde, zu den Hintergründen geäußert.2 Das Statement spricht der Familie des Mordopfers das Beileid aus und bestätigt dann, dass Shinzo Abe auf der UPF-Veranstaltung eine „kurze Bemerkung“ gemacht habe. Es wird Wert auf die Unabhängigkeit der UPF von der Vereinigungskirche gelegt, obwohl sie den gleichen Gründer hat.
Den Hauptteil des Statements nimmt die Beziehung des Attentäters, der selbst kein Mitglied sei, und seiner Mutter zur Vereinigungskirche ein. Sie sei Mitglied und nehme gelegentlich an kirchlichen Aktivitäten teil. Diese Aussage widerspricht hinsichtlich der Intensität der Beziehung dem, was sonst veröffentlicht worden ist und worauf die Höhe der Spenden hinweist. In Bezug auf diese Spenden schreibt die Vereinigungskirche: „[Dies] muss von der Polizei untersucht werden. Was auch immer er [der mutmaßliche Attentäter] beklagt, wir verurteilen Gewalt und Mord von ganzem Herzen.“ Schließlich werden die Medien gebeten, „ihrer Verpflichtung zu Genauigkeit, Unparteilichkeit und Objektivität“ nachzukommen.
Zwei Beobachtungen sind interessant. Zum einen war auffällig, dass japanische Medien bis zur Pressekonferenz der Vereinigungskirche sehr zurückhaltend mit dem religiösen Motiv des mutmaßlichen Täters umgegangen sind. Es hieß hier lediglich, dass ein „religiöses Tatmotiv dahinterstehen könne“; eine Gruppierung wurde nicht genannt. Die TAZ sprach sogar davon, dass „japanische Medien die Verbindung zur koreanischen Moon-Sekte vernebeln"3. Die Zurückhaltung der japanischen Medien ließe sich allerdings auch als Respekt vor dem Opfer oder als journalistische Sorgfalt interpretieren. Der Name des Täters und damit auch die Verbindungen der Mutter zur Vereinigungskirche wurden erst auf der Pressekonferenz bestätigt. Im Anschluss daran haben diverse Medien weitere Hintergründe zur Vereinigungskirche veröffentlicht.
Zum zweiten ist ein Blick darauf zu richten, wie Massimo Introvigne, der Leiter von CESNUR (Turin)4 in zwei Kommentaren reagiert.
Kritik am Einfluss einer „Anti-Kult“-Lobby
Der deutschsprachigen Presseerklärung der Vereinigungskirche war ein Artikel von Massimo Introvigne aus „Bitter Winter“, dem Online-Magazin von CESNUR, mit dem Titel „Abes Ermordung: Ein Hass-Verbrechen als Ergebnis der Sektenhetze?"5 beigegeben. Wenig später wurde von demselben Autor in der „Washington Times“, die 1982 von der Vereinigungskirche gegründet worden war, ein inhaltlich ähnlicher Artikel mit dem Titel „Abe’s killing: Blame the anti-cultists, not the Unification Church“ veröffentlicht.
In beiden Artikeln erklärt der italienische Religionswissenschaftler, dass für die Motivation des mutmaßlichen Attentäters, Abe zu ermorden, „in Wirklichkeit Anti-Kult-Kampagnen der Medien und gegen die Vereinigungskirche gerichtete Hass-Reden“ mitverantwortlich seien. Die Erklärung dazu ist schwer nachzuvollziehen. So stellt er die Frage, warum der Attentäter „erst jetzt handelte“, obwohl man aus „zuverlässiger Quelle erfahren habe“ (die Quelle selbst wird nicht genannt), dass bedeutende Spenden schon vor Jahren eingestellt wurden. Weiterhin konstatiert er, dass diejenigen, die den Verdacht äußern, Yamagami habe nicht in einem normalen Geisteszustand gehandelt, „möglicherweise nicht falsch liegen“. Es ist zu fragen, was diese Vermutung in einem religionswissenschaftlichen Aufsatz zu suchen hat.
Des Weiteren bezieht er sich auf „Anti-Kult-Gewalt“ und darauf, dass sich religiöse Gemeinschaften (er nennt hier die katholische Kirche, islamistische Terroristen und Aum Shinrikyo) der Gewalt schuldig machen könnten, sie aber ebenso auch zu Opfern werden könnten. Es folgt eine weitreichende Kritik an „den japanischen Medien“, deren „Berichterstattung überwiegend feindselig war und manchmal an Beleidigung grenzte“. Außerdem tadelt er „gierige Anwälte“, die „versuchten, Verwandte von denen, die an die Vereinigungskirche gespendet hatten, zu überreden, die Rückforderung des Geldes einzuklagen.
Ratlos macht ein PS unter dem deutschen Artikel. Dort heißt es: „So einfach scheint es für die Medien zu sein: Attentäter beruft sich bezüglich seines Motivs auf seinen Groll gegen eine missliebige Religionsgemeinschaft und schon wird diese und sogar das Opfer zum vermeintlichen Täter.“ Es ist Introvigne sicher zuzustimmen, wenn er dafür plädiert, beide Seiten zu sehen. Das kann jedoch nicht bedeuten, keine Kritik an umstrittenen Praktiken neureligiöser Gruppierungen mehr äußern zu dürfen oder hinter „den Medien“ den Einfluss einer „Anti-Kult-Lobby“ zu vermuten.
Fazit
Forensisch und kriminalistisch ist es wichtig und geboten, die Situation des Attentäters detailliert in den Blick zu nehmen und dessen Motivationslage in all ihren Facetten herauszuarbeiten. Zu schützen sind sowohl die Familien des Täters als auch die des Opfers, wobei es sich hier um eine Person des öffentlichen Lebens handelt und Verflechtungen politisch-religiöser Provenienz journalistisch erforscht werden sollen. Wer „den Medien“ vorwirft, sich durch eine „Anti-Kult-Lobby“ instrumentalisieren zu lassen, schmälert pauschal die Pressefreiheit als wichtige Instanz einer Demokratie. Es wäre zu wünschen, vonseiten der Vereinigungskirche nicht nur Verteidigungs- und Beschwichtigungsversuche, sondern auch selbstkritische Worte zu hören. Und schließlich sollte ein Augenmerk auf die populistische Verwendungen des Begriffs „Sekte“ gelegt werden. Dieser dient häufig auch dazu, Mitglieder einer neureligiösen Gruppierung zu diffamieren. Grundsätzlich ist allen Akteuren zu raten, Motivationen und Hintergründe transparent und offen zu kommunizieren. Wie wichtig dies in der weltanschaulichen Diskussion ist, dafür ist der Kontext des Attentats auf Shinzo Abe nur ein Beispiel.
Oliver Koch, 15.09.2022
Anmerkungen
1 Seit 2012 wird die Vereinigungskirche von Moons zweiter Ehefrau Hak Ja Han geleitet.
2 https://tinyurl.com/2f2tbk8n (Abruf der Internetseiten: 31.8.2022).
3 https://taz.de/Moegliches-Motiv-fuer-Attentat /!5864211.
4 CESNUR (italienisch Centro Studi sulle Nuove Religioni) ist eine internationale Vereinigung zum Studium neuer religiöser Bewegungen mit Sitz in Turin.
5 https://bitterwinter.org/shinzo-abes-assassination-an-anti-cult-hate-crime.