Haringke Fugmann

Das Dämonische und der Humor

Apokryphe Inspirationen für einen evangelischen Umgang mit den Phänomen Besessenheit

 

Der folgende Beitrag befasst sich im ersten Teil mit dem apokryphen Buch Tobit und der dort erzählten Geschichte vom Dämon Asmodai und der Jungfrau Sara. Im zweiten Teil werden anhand der gewonnenen Einsichten Anregungen für einen evangelischen Umgang mit dem Phänomen Besessenheit entfaltet.

Wenn es so etwas wie eine evangelische Perspektive auf das Phänomen Besessenheit geben sollte, dann müsste sie im Ansatz auf biblische Texte zurückgreifen. Die Exorzismen Jesu, mit denen wir es dabei zu tun haben, sind allerdings bereits Teil eines abendländischen hermeneutischen Zirkels, der erheblich von einer (ab)wertenden und dualistischen (Gott hier, der Teufel dort) Sichtweise von Besessenheit geprägt ist. Was wir also brauchen, ist ein biblischer Text, der außerhalb dieses üblichen Verstehenszirkels liegt und damit eine neue Perspektive ermöglicht. Im Folgenden beabsichtige ich daher aufzuzeigen, dass gerade das apokryphe Buch Tobit eröffnende Inspirationen im Umgang mit dem Dämonischen liefert.

I. Das apokryphe Buch Tobit und der Umgang mit dem Dämon

Als Entstehungszeit des Buches Tobit wird – obwohl es sich selbst früher verortet – in der Regel das 3./2. Jahrhundert v. Chr. angenommen. Helen Schüngel-Straumann votiert in ihrem Kommentar1 für die Zeit „um 200 v. Chr.“ (S. 39). Von der Gattung her gehört es zu den Lehrerzählungen, wobei es selbst noch weitere „eigenständige Gattungen (Hymnen, Erzählungen, weisheitlich geprägte Ermahnungen, historisierende Abschnitte usw.)“ enthält. Es ist wohl auf jeden Fall ein Beispiel einer „fiktiven Gattung“ (S. 38).

Es können mindestens vier theologische Bedeutungen des Tobitbuches in der abendländisch-christlichen Geschichte differenziert werden: (1.) Die Betonung der Barmherzigkeit, der Wohltätigkeit und anderer positiver Charakterzüge des Tobit. (2.) Das „Motiv der Heilung“ (des Tobit von seiner Blindheit) beziehungsweise der Befreiung Saras vom Dämon. (3.) Die vom Buch gezeichnete Moral (S. 45). So wird in der römisch-katholischen Moraltheologie vor allem der Hochzeitsnacht von Tobias und Sara große Aufmerksamkeit gewidmet, da sie als Vorbild für maßvolles und züchtiges Verhalten von Eheleuten vorgestellt wird. (4.) Die theologische Relevanz des Buches im Blick auf seine typologische Auslegung hin auf Christus, die ihren Ausdruck etwa in der Kunst fand: In der Kathedrale von Chartres etwa ist „am rechten Seitenportal (Nord) die ganze Tobiasgeschichte dargestellt ... als Typos für die Erlösung des Menschen durch Christus“ (S. 47).

Die Rahmengeschichte ist rasch zusammengefasst: Tobit lebt in der Stadt Ninive (in der Diaspora), wo er ein gutes Leben führt. Bei einem Verwandten in der Stadt Rages in Medien hinterlegt er gar einen größeren Geldbetrag. Wegen seiner Treue zum Gesetz des Mose und seiner Barmherzigkeit und unter veränderten politischen Umständen wird er von seinem Umfeld zunehmend angefeindet. Während er eine fromme Tat begeht, erblindet er unverschuldet durch Vogelkot.

Parallel zur Geschichte Tobits wird die Geschichte einer jungen Frau namens Sara erzählt. Sie ist die einzige Tochter ihres Vaters Raguël, lebt in Ekbatana und wird ebenfalls als fromm dargestellt. Ihr Glück und der Fortbestand ihrer Familie werden durch einen Dämon namens Asmodai bedroht, der bereits sieben Bräutigame Saras in der Hochzeitsnacht umgebracht hat – weshalb Sara noch immer keinen Erben geboren hat.

In Tob 3,16f erreicht die Erzählung insofern einen Höhepunkt, als hier das Schicksal Tobits und Saras miteinander verknüpft wird. Dort heißt es: „Das Gebet beider, Tobits und Saras, fand Gehör bei der Majestät des großen Rafael. Er wurde gesandt, um beide zu heilen: um Tobit von den weißen Flecken auf seinen Augen zu befreien und um Sara, die Tochter Raguëls, mit Tobits Sohn Tobias zu vermählen und den bösen Dämon Aschmodai zu fesseln.“2

So schickt Tobit nun seinen einzigen Sohn Tobias los, um das vor vielen Jahren in Medien verwahrte Geld zu holen. Als Reisegefährte wird der Engel Rafael angeworben, der aber bis zuletzt unerkannt bleibt. Auf dem Weg fängt Tobias des Nachts im Fluss Tigris einen großen Fisch, der ihn verschlingen will. Der Engel klärt ihn nun darüber auf, dass einige Innereien des Fisches (Herz und Leber) einen Dämon vertreiben und andere (Galle) eine Blindheit heilen könnten, woraufhin Tobias die entsprechenden Innereien verwahrt. Auf dem weiteren Weg kehren Tobias und Rafael im Elternhaus Saras ein. Die beiden – Tobias und Sara – sind füreinander bestimmt, wie wir erfahren, und der Ehevertrag wird zügig aufgesetzt. Indem sich Tobias an den Rat des Engels im Umgang mit den Innereien des Fisches hält, kann der Dämon vertrieben werden. Nachdem die Eheleute ein Gebet gesprochen haben, verbringen sie die Hochzeitsnacht ungestört. Als Braut und Bräutigam zu Tobit zurückkehren, heilt Tobias die Blindheit des Vaters mithilfe der Fischgalle. Nachdem die Hochzeit ein zweites Mal gefeiert wurde und der noch immer unerkannte Engel für seinen Dienst als Reisebegleiter entlohnt werden soll, gibt er sich als Rafael zu erkennen.

Der Konflikt: Der böse Dämon Asmodai und die Jungfrau Sara

Wenden wir uns nun dem Konflikt des Buches zu, der uns im Blick auf die Fragestellung am meisten interessiert, nämlich dem Konflikt rund um Sara und den Dämon Asmodai. Zunächst ist zu klären, dass es sich hierbei – um es mit heutiger römisch-katholischer Begrifflichkeit zu formulieren – nicht um einen Fall von „Besessenheit“, sondern um einen Fall von „Umsessenheit“ handelt, insofern als der Dämon nicht etwa Sara besetzt, sondern in ihrem Umfeld wirkt.

Der Name „Asmodai“ könnte aus dem Iranischen kommen und in etwa „Dämon der Wut“ bedeuten (S. 133). Wichtiger noch als die Klärung der Bedeutung des Namens ist allerdings ein Blick auf das Verhalten, das der Dämon zeigt. Dabei kommen zwei verschiedene Sichtweisen in den Blick:

(1.) Zunächst erfahren wir im Text (Tob 3,8), dass sich Asmodai wie ein Mörder verhält, der schon sieben Bräutigame Saras getötet hat. Fast könnte man den Eindruck gewinnen, als verhalte sich Asmodai wie ein rasend Eifersüchtiger, der seine Rivalen tötet. Dabei gibt es aus exegetischer Sicht im religionsgeschichtlichen Hintergrund der Antike Hinweise darauf, wie ein „Dämon durch den Sexualakt versucht, die Nachkommenschaft zu verderben. In anderen Fällen richtet sich der Dämon direkt gegen die Braut, die er für sich behalten will, weil er sie liebt, wie Tob 6,14 [Vers 15, Anm. d. Verf.] ausdrücklich gesagt war. Im Volksglauben wurde versucht, den Dämon zu täuschen, z. B. durch das Aufstellen von Puppen oder durch Verkleidungen“ (S. 133).

(2.) Zugleich erfahren wir von den Mägden Saras von einer noch ganz anderen Sichtweise: „Die Mägde sagten zu ihr: Begreifst du denn nicht, dass du deine eigenen Männer erwürgst?“ (Tob 3,8). Was im Text als Schmähung gegen Sara formuliert wird (S. 82), könnte sich aus einer distanzierteren Sicht auch als plausible Erklärung erweisen: Im Lichte heutiger neurologischer Erkenntnisse ist es zumindest denkbar, dass in Sara durch den hohen Stress (Erwartungsdruck, einen Nachkommen zur Welt zu bringen, Angst vor dem ersten Geschlechtsverkehr usw.) in den sieben Hochzeitsnächten ein „integrativer Bewusstseinsmodus“3 ausgelöst wurde, in dem sich ihr animalischerer, aggressiverer, vom limbischen System gesteuerter Selbsterhaltungstrieb durchsetzte, der den potenziellen Aggressor (Bräutigam) gewaltsam überwand, während zugleich ihr Erinnerungsvermögen dissoziiert wurde.

Wichtig ist hier der Hinweis, dass wir es mit einem antiken und dazu noch fiktiven Text zu tun haben, der sich kaum nachträglichen medizinisch-neurologischen Diagnosen erschließt. Andererseits wurden bei der Textproduktion sehr wahrscheinlich Motive aus dem Leben und Vorstellungen der damaligen Welt übernommen.

Dazu gehört – im Blick auf den religionsgeschichtlichen Hintergrund des Textes4 – auch das Motiv der „Frau als ‚Killer Wife‘“ (S. 82), wie es in der exegetischen Forschung bekannt ist: „Die todbringende Frau kommt zumeist nicht in der Bibel selbst, sondern mehr in der sog. Folklore bzw. in nachbiblischen Texten vor. Die Gefährlichkeit der Frau, im Englischen als ‚Killer Wife‘ bezeichnet …, besonders im Zusammenhang mit Eheschließung und erstem Sexualverkehr (Hochzeitsnacht), ist offensichtlich ein verbreitetes volkstümliches Motiv ... In diesem Volksglauben spiegelt sich das Wissen um die Überlegenheit der Frau, den Vorsprung, den sie in den Dingen des Lebens vor dem Mann hat, aber auch die uralte Angst des Mannes vor der weiblichen Sexualität, die Leben und Tod mit sich bringt ... Die biblischen Texte stellen jedoch ... klar: Ursache für den Tod der Männer ist nicht eine Frau“ (S. 83f).

Sara wird durch das gesamte Buch Tobit hindurch als mehr oder weniger passiv dargestellt. Sie – die Jungfrau, die kurz vor ihrem ersten Geschlechtsverkehr steht – passt damit hervorragend in die geschlechtsspezifische Rolle, die typischerweise vom Besessenheitsidiom einer Kultur für Frauen vorgegeben wird.5 Sie wird als begehrenswertes Opfer (das sich gar mit Selbstmordgedanken beschäftigt, vgl. Tob 3,10ff) gezeigt, welches lediglich durch das beherzte Handeln des Mannes Tobias (der dafür göttlich autorisiert ist!) gerettet wird.

Dass Sara gegen den ersten Augenschein sehr wohl eine aktive Rolle übernimmt, zeigt sich darin, was nicht über sie gesagt wird: Sie wehrt sich z. B. nicht dagegen, achtmal verheiratet zu werden. Auch eine stillschweigende Zustimmung – zur Hochzeit und zum (mit jedem Mal zunehmend wahrscheinlichen) Tod der Männer (Raguël geht auch bei Tobias davon aus, dass dieser die Nacht nicht überlebt, vgl. Tob 8,10) – ist schließlich eine aktive Tat. Vor sich selbst rechtfertigt sie dieses Verhalten mit ihrer Verpflichtung, einen Nachkommen zu gebären. Dennoch müssen wir davon ausgehen, dass sowohl das Begehren, das ihr von den sieben Männern und vom Dämon entgegengebracht wird, als auch die wahrscheinliche Aussicht, auch Tobias zu Grabe zu tragen, von ihr zumindest akzeptiert werden. Insofern ist der Vorwurf der Mägde, sie selbst trage eine gewisse Verantwortung für den Tod der Männer, nicht ganz aus der Luft gegriffen.

So muss man zu dem Fazit kommen: In der fiktiven Geschichte des Buches Tobit ist Sara – um es mit heutigen Worten zu formulieren – in einer desaströsen, von zu hohen Erwartungen überfrachteten Beziehung sowohl mit Asmodai als auch mit ihrem Vater gefangen; in einer „amour fou“, in einer selbst- und fremdzerstörerischen, pathologischen Vielecks-Beziehung zwischen Liebe, Begehren, Eifersucht, Pflichterfüllung, Schuld, Scham, Heimlichkeit, Sexualität und Tod, aus der sie selbst nicht entkommen kann – oder aus der sie selbst vielleicht gar nicht entkommen will.

Die Lösung: Die Vertreibung des Dämons

Die Lösung für Saras Beziehungskonflikt naht in Gestalt des Tobias, dessen himmlischer Begleiter Rafael („Gott hat geheilt“) ihm im Anschluss an den Angriff des Fisches im Fluss Tigris ein therapeutisches und ein exorzistisches Geheimnis offenbart. So wird in Tob 6 erzählt: „Und der Engel sagte zu Tobias: Schneide den Fisch auf, nimm Herz, Leber und Galle heraus und bewahre sie gut auf! Der junge Tobias tat, was ihm der Engel sagte. Dann brieten sie den Fisch und aßen ihn. Als sie weiterreisten ... fragte der junge Tobias den Engel: Asarja, lieber Bruder, wozu sollen die Leber, das Herz und die Galle des Fisches gut sein? Rafael antwortete: Wenn ein Mann oder eine Frau von einem Dämon ... gequält wird, soll man das Herz und die Leber des Fisches in Gegenwart dieses Menschen verbrennen; dann wird er von der Plage befreit. Und wenn jemand weiße Flecken in den Augen hat, soll man die Augen mit der Galle bestreichen; so wird er geheilt.“

Ein Fisch gefährdet Tobias‘ Leben, indem er ihn verschlingen will – so wie es einst ein großer Fisch war, der Jona verschlang. In humorvoller Weise dreht der Verfasser dieses Motiv um und lässt nun Tobias seinerseits den Fisch fangen und verspeisen. Dennoch haben wir es hier natürlich mit einem gefährlichen Fisch zu tun, der aus dem Abgrund stammt. Wir können also in diesem Fisch noch mehr sehen als nur ein harmloses Wassertier: Dieser Fisch ist mit dem Tod selbst assoziiert, mit einem Bereich der Schöpfung, in dem für Menschen kein Leben möglich ist und in dem allerlei Gefahren für den Menschen lauern. So gesehen handelt es sich bei diesem Fisch fast um ein dämonisches Wesen.

Nun verrät Rafael seinem Schützling, was es mit dem Fisch insgeheim noch auf sich hat. Dank dieser göttlichen Offenbarung weiß Tobias nun zwischen dem therapeutischen und dem dämonenvertreibenden Gebrauch der Fischinnereien zu unterscheiden (und wir wissen daher, dass der Verfasser zwischen Krankheit und dämonischer Belästigung differenziert!): Herz und Leber des Fisches vertreiben beim Verbrennen einen Dämon, die Galle hingegen heilt Augenleiden. Dabei spielt einerseits die „konkrete, profane Heilkunst der Antike“6 eine Rolle, in der „Tiergalle zur Heilung von Augenkrankheiten … bekannt war“ (S. 118). Damit kommt der profanen Heilkunst im Buch Tobit eine große Bedeutung zu (S. 117). Andererseits steht der in der Antike weit verbreitete magische Glaube im Hintergrund, wonach Dämonen durch schlecht riechende Substanzen in die Flucht geschlagen werden können, z. B. dass man Krankheitsdämonen durch solche Rituale vertreiben könne (S. 118). „Herz und Leber werden deswegen erwähnt, weil in diesen Organen nach alter Vorstellung die Lebenskraft besonders konzentriert ist“ (S. 134).

In alter magischer Denkweise könnte man also sagen: Der Dämon Asmodai wird schließlich verjagt und das Leben Saras gerettet, indem diejenigen Organe eines dämonischen Wasserwesens (!), in denen sich dessen Leben konzentriert, auf Feuerglut (!) geopfert werden. Ein Leben wird für ein anderes Leben gegeben. Der Tod eines (fast dämonischen) Tieres vertreibt einen (echten) Dämon. Wasser trifft auf Feuer. Hier haben wir es demnach mit einer typisch magischen, genauer gesagt sympathetischen und antipathetischen Funktionslogik zu tun.

Wichtig ist noch ein weiteres Detail: Der Verfasser verrät nicht, um welchen Fisch genau es sich handelt. Auch wenn in der Exegese verschiedene Fischarten erwogen wurden – Schüngel-Straumann etwa denkt mit anderen an einen Hecht (S. 116) – scheint das Fehlen weiterer Angaben m. E. Absicht zu sein: Da die Identität des (fiktiven!) Fisches nicht mehr zu ermitteln ist, ist weder der therapeutische noch der antidämonische Effekt reproduzierbar. Hinter der Erzählung verbirgt sich also kein naturwissenschaftlicher Impetus; es geht nicht darum, die Leserschaft über ein neues Heilverfahren zu unterrichten. Vielmehr sind die Therapie und die dämonenabwehrende Wirkung individuell auf die Situation von Tobit und Sara hin angelegt. Göttliche Heilung und Rettung werden als höchst individuell dargestellt.

Schließlich kommt es in Tobit 8 zur Schilderung der eigentlichen Hochzeitsnacht, in der Tobias den Dämon Asmodai vertreibt, indem er sich präzise an die Angaben Rafaels hält: „Nach der Mahlzeit führten sie Tobias zu Sara. Als er hineinging, erinnerte er sich an die Worte Rafaels; er nahm etwas Glut aus dem Räucherbecken, legte das Herz und die Leber des Fisches darauf und ließ sie verbrennen. Sobald der Dämon den Geruch spürte, floh er in den hintersten Winkel Ägyptens; dort wurde er von dem Engel gefesselt.“ Stellt man sich die geschilderte Szene bildlich vor, gibt es keinen Grund, an der buchstäblichen Wirksamkeit des Rituals zu zweifeln: Die halbverwesenden, eiweißreichen Fischinneren dürften in der kleinen Kammer auf der heißen Glut vermutlich einen beißenden Gestank verströmt haben. Das war selbst dem Dämon zu viel, sodass er nach Ägypten floh. Unschwer erkennt man in dieser Szene den Humor des Verfassers wieder.

Warum flieht der Dämon nach Ägypten? Auch darauf weiß die Exegese eine Antwort: „Der Süden Ägyptens und das dort angrenzende Äthiopien (im Alten Testament: das Land Kusch) ist das äußerste Ende der damals bekannten Welt im Süden, zudem ist die Wüste der Ort, wo Dämonen gemeinhin hausen“ (S. 133). Im Talmud gilt Ägypten gar als magisches Zentrum der antiken Welt (S. 133). Dort, in Ägypten also, wird Asmodai schließlich von Rafael gefesselt, was ihn endgültig ungefährlich macht und bannt.

Lässt man sich trotz des fiktionalen Charakters der Erzählung auf die Möglichkeit ein, dass es Sara selbst war, die – in einen „integrativen Bewusstseinsmodus“ versetzt (s. o.) – für den Tod der sieben vorherigen Bräutigame verantwortlich war, gäbe es noch eine weitere Interpretation: Sara wurde durch den furchtbaren Gestank in einen normalen Bewusstseinsmodus zurückversetzt, sie kam also wieder zur Besinnung. Immerhin weiß man heute um den starken Einfluss von Gerüchen auf das limbische System. Über Jahrhunderte hinweg wurde dieses Wissen praktisch genutzt, um Menschen in andere Bewusstseinszustände zu versetzen, etwa mithilfe des „Riechsalzes“ bei Ohnmachtsanfällen, das in Europa bekannt war. Sollten der fiktiven Geschichte rund um Sara also Erfahrungen tatsächlicher Dämonenvertreibungen zugrunde liegen, die durch das Verbrennen von Fischinnereien von Erfolg gekrönt waren, wäre das durchaus plausibel.

Dimensionen der Befreiung Saras

Sara, die in der Vergangenheit vom Dämon Asmodai gequält worden war und sieben Bräutigame in der Hochzeitsnacht verloren hatte, wird dank göttlicher Führung durch Tobias von ihrer Qual befreit. Dabei lassen sich verschiedene Ebenen der Befreiung differenzieren: Auf der Ebene einer wörtlich genommenen, mythischen Vorstellung wird Asmodai nach Ägypten vertrieben und dort gefesselt. Damit ist Sara frei. Auch auf der sozialen Ebene geschieht Befreiung: Raguël erkennt Tobias als wahren Sohn und Schwiegersohn an, da er Israelit ist. Durch die Hochzeit und die sich bald einstellende Schwangerschaft Saras sind die Nachkommenschaft der Familie und die Existenz des Volkes Israel in der Diaspora gesichert. Zudem verfügt Tobias nun (dank des vom Vater hinterlegten Geldbetrages) über beträchtlichen Reichtum. Der gute Ruf der Familie ist ebenfalls wiederhergestellt. Die Schmähungen der Mägde sind verstummt.

II. Inspirationen für einen evangelischen Umgang mit dem Phänomen Besessenheit

Welche Inspirationen gewinnen wir daraus für einen möglichen evangelischen Umgang mit dem Phänomen Besessenheit?

Drei Inspirationen meine ich identifizieren zu können: Das Buch Tobit macht deutlich, dass in der Auseinandersetzung mit Besessenheit eine gewisse (1.) weltanschauliche, (2.) diagnostische und (3.) methodische Offenheit ratsam ist. Zudem verweist es uns immer wieder darauf, dass ein humorvoller Umgang mit dem Bösen durchaus mit den Traditionen des jüdischen und christlichen Glaubens im Einklang steht.

Weltanschauliche Offenheit

Bedeutsam ist zunächst einmal der relativ offene weltanschauliche Hintergrund des Buches Tobit: Der Verfasser weiß zwar von Gott und Engeln, aber der Teufel und seine Gefolgschaft kommen nicht in den Blick. Zwar gibt es in der Welt gefährliche (beinahe dämonische) Lebewesen und böse Dämonen, aber diese sind rein innerweltliche, höchstens mythische Phänomene: Sie kommen (wie der Fisch) aus dem unheimlichen Wasser oder können (wie Asmodai) im hintersten Winkel Ägyptens gefesselt werden. Sie haben keine metaphysische Macht, keinen Einfluss etwa auf eine mögliche Existenz jenseits des Todes. Das Buch Tobit hat demnach kein enges dualistisch-metaphysisches, sondern ein relativ offenes, mythisches Weltbild, das für die Phänomene zwischen Himmel und Erde weiten Raum lässt.

Dieses offene Weltbild steht dem der neutestamentlichen Verfasser näher als dem (nach-)augustinischen:7 Im Neuen Testament kommen zwar der Teufel, böse Geister und allerlei weitere Mächte zwischen Himmel und Erde in den Blick, doch die konkrete Naherwartung der neutestamentlichen Verfasser bewahrt diese vor einem allzu engen dualistischen Weltbild. Man könnte ihr Verständnis der Phänomene zwischen Himmel und Erde in etwa folgendermaßen skizzieren: Ja, es gibt das Böse bzw. den Bösen; und ja, es bzw. er wirkt auch über das Diesseits hinaus. Aber es ist allein Gottes Sache, darüber am Ende der Zeit (welches unmittelbar bevorsteht) zu richten. Den Menschen steht es daher nicht zu, diesbezüglich ein vorzeitiges Urteil zu fällen; ihnen soll es darum gehen, sich in allen Dingen zu Gott zu wenden und die Dinge zwischen Himmel und Erde Gottes baldigem Eingreifen zu überlassen. Mit dem Erkalten der unmittelbaren, heißen Naherwartung in den ersten Jahrhunderten nach Christus und mit dem Bedürfnis nach weltanschaulicher Klarheit greift etwa bei Augustinus und in der Rezeption seines Denkens die Vorstellung eines enger gefassten metaphysischen Dualismus – Gott hier und der Teufel dort – Raum. Jetzt wird es im Blick auf das Phänomen Besessenheit umso wichtiger, eine genaue Zuordnung oder Definition der Macht, die von einem Menschen Besitz genommen hat, vornehmen zu können.

Für eine evangelische Perspektive auf das Thema Besessenheit, die sich in erster Linie der Heiligen Schrift verpflichtet weiß, sollte die weltanschauliche Offenheit der biblischen Verfasser eher Orientierung bieten als ein engeres dualistisches Weltbild späterer Zeiten. Das könnte für einen konkreten Umgang mit heutigen Phänomenen von Besessenheit bedeuten: Aus theologischen und seelsorgerischen Gründen sollte man davon Abstand nehmen, diejenige Macht, von der sich ein Mensch besessen glaubt, weltanschaulich allzu genau zu kategorisieren. Wichtiger als die Frage einer weltanschaulichen Einteilung ist der Verweis auf Gottes Güte und Erbarmen und auf Gottes befreiendes Wirken.

Diagnostische Offenheit

Eng verbunden mit der weltanschaulichen Offenheit ist – wie eben dargestellt – die diagnostische Offenheit hinsichtlich der Frage, um wen oder was genau es sich bei Dämonen handelt. Wie man zeigen kann, gibt es in der römisch-katholischen Exorzismus-Tradition eine lange Geschichte der zunehmenden Definition und damit Eingrenzung des Phänomens Besessenheit:8 Da die sichtbaren, körperlichen Zeichen einer vermuteten Besessenheit für sich genommen wenig aussagekräftig sind (sie könnten sowohl auf eine göttliche als auch auf eine dämonische/teuflische Besessenheit hinweisen), wurden schon früh innerseelische Hinweise zur Unterscheidung der Geister hinzugezogen, etwa die berühmte Abscheu vor religiösen Zeichen (Kreuz), Sakramenten und Sakramentalien (geweihten Hostien, Weihwasser), die bis heute zum filmischen Repertoire jedes mittelmäßigen religiösen Horrorfilms gehören.

Im Gegensatz dazu finden wir im Buch Tobit eine große diagnostische Offenheit vor, was die Frage angeht, um wen oder was es sich bei Asmodai handelt: Zunächst wird Asmodai einfach im Sinne einer „ersten Naivität“ (Paul Ricœur) als Dämon eingeführt: Er kann handeln (auf körperlicher Ebene), hat Gefühle (er liebt Sara), einen Geruchssinn und auch einige Geografiekenntnisse (zumindest weiß er, wo Ägypten liegt). Darüber hinaus wird vom Text selbst eine weitere Deutungsmöglichkeit eröffnet, die zwar vordergründig erst einmal der Dramaturgie der Erzählung dient, aber auch nicht explizit ausgeschlossen wird: Vielleicht ist es Sara selbst, die für die Strangulierung der Bräutigame verantwortlich ist. Wichtig ist hier die Erkenntnis: Beide Deutungsmöglichkeiten werden im Buch Tobit nebeneinander stehen gelassen. Schließlich wird noch ein weiterer Faktor angeführt, der für die Problematik, unter der Sara leidet, relevant ist: Sie soll einen Israeliten heiraten, der Familie einen legitimen Nachkommen schenken und die Existenz ihres Volkes in der Fremde sichern. Damit lastet ein hoher familiärer und sozialer Druck auf ihr. Somit ist es nicht verwunderlich, dass sich bei ihr ein Dämon zeigt – der, wie wir gesehen haben (s. o.), nach damaligen volkstümlichen Vorstellungen besonders gerne die Nachkommenschaft einer Familie verdirbt.

Das Buch Tobit leistet keine diagnostische Eingrenzung hinsichtlich der Frage nach dem Wesen, der Identität oder der Zugehörigkeit des Dämons. Genau das Gegenteil ist der Fall: Es werden sehr unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten angedeutet (ohne dass sie zueinander in Beziehung gesetzt werden) und für sich stehen gelassen. Eine solche diagnostische Offenheit in der Frage nach dem, wer oder was sich eines Menschen bemächtigt hat, könnte für eine heutige evangelische Sicht auf das Phänomen Besessenheit inspirierend sein. In ähnlicher Weise hat Paul Tillich9 vor einer zu engen Diagnostik gewarnt: Er riet davon ab, Geister zu psychologisieren, zu personifizieren oder zu verdinglichen, da dies in den Aberglauben führe. Gerade das Unbestimmbare zeichnet jene Phänomene aus, die Macht über Menschen gewinnen können, und eine Befreiung davon geschieht nicht über Diagnosen und Definitionen.

Für einen zeitgenössischen evangelischen Umgang mit Besessenheit könnte dies konkret bedeuten, dasjenige, womit man es im Einzelfall zu tun hat, nicht endgültig zu definieren. Soziale, familiäre (also systemische), archetypische (also kollektive), individualpsychologische, biografische und spirituelle Faktoren können dabei berücksichtigt und validiert werden. Der Versuchung, den Dämon endgültig zu „benennen“, sollte widerstanden werden: Seine Benennung verleiht ihm überhaupt erst seine Existenz (sie personifiziert ihn) und gibt ihm weitere Macht über einen Menschen.

Methodische Offenheit

Schließlich gilt es, der Frage nachzugehen, wie sich das Buch Tobit zur Frage des sachgemäßen Umgangs mit dem Dämon verhält. Hier können wir von einer gewissen methodischen Offenheit sprechen. Während es im römisch-katholischen Bereich seit Anfang des 17. Jahrhunderts mit der Einführung des Rituale Romanum zu einer zunehmenden liturgischen Vereinheitlichung des Exorzismusrituals kam, weiß das Buch Tobit – ebenso wie die neutestamentlichen Schriften – von keiner Standardmethode im Umgang mit Besessenheit. Vielmehr macht der Verfasser deutlich, dass sich Gott sehr individuell um Menschen kümmert: Die jeweils passende Maßnahme, um einen Menschen von einer Macht zu befreien, die ihn nicht er selbst sein lässt, fällt je nach Einzelfall unterschiedlich aus. Darum hat der Verfasser z. B. kein Interesse daran, die Leserschaft darüber aufzuklären, welchen Fisch genau Tobias ausgenommen hat. Ihm geht es nicht darum, dieses Wissen reproduzierbar und anwendbar zu machen, sondern darum, den Glauben an Gottes Güte zu stärken.

Auch für eine mögliche evangelische Perspektive für den Umgang mit dem Phänomen Besessenheit scheint mir eine solche methodische Offenheit angemessen zu sein. Mit anderen Worten: Es ist ernsthaft infrage zu stellen, ob es eine einzige und spezifische evangelische Standard-Liturgie zum Umgang mit Besessenheit überhaupt geben könnte. Vielmehr wäre von Fall zu Fall zu überlegen, wie einem Menschen, der sich selbst als besessen empfindet oder der von seinem Umfeld als besessen wahrgenommen wird, geholfen werden könnte, das Besessenheitsverhalten zu transformieren. Hierzu sind umfängliche Kenntnisse der Lebensumstände des Betroffenen nötig, gepaart mit reichlich seelsorgerischer Erfahrung und mit dem Wissen, dass professionelle psychologische Hilfe in solchen Fällen unerlässlich ist. Liturgisch gesehen kann es hilfreich sein, bereits bestehende Formen (wie Beichte oder Segen) auch auf diesem Gebiet anzuwenden.

III. Schluss

In welch hohem Maße unser kulturelles und unser evangelisches Verständnis dessen, was Besessenheit ist oder sein soll, von der römisch-katholischen Exorzismus-Tradition geprägt ist, wird uns erst bewusst, wenn wir uns aus einer Fremdperspektive mit dem Phänomen befassen. Durch die Auseinandersetzung mit einem apokryphen Text gewinnen wir eine solche fremde Sichtweise. Dabei stellen wir fest: Es gibt noch eine andere Weise des Umgangs mit dem Thema Besessenheit als eine weltanschauliche, diagnostische und methodische Eingrenzung. Auch mit einem öffnenden, entgrenzenden Ansatz kann das Phänomen theologisch und seelsorgerisch angegangen werden.

Am meisten überrascht uns dabei vielleicht die Erkenntnis, dass der Humor hier einen legitimen Ort hat: Wenn Tobias den gefährlichen Fisch aus dem Wasser verspeist, statt wie der Prophet Jona vom Fisch verschlungen zu werden, und wenn wir uns vorstellen, wie der böse Dämon Asmodai vor dem Gestank verbrannter Fischinnereien Reißaus nimmt und in den hintersten Winkel der Welt flüchtet, spüren wir etwas vom tiefsinnigen und hintergründigen Humor des Verfassers – und wir werden da­ran erinnert, dass das Böse nur dort Macht über Menschen hat, wo es ernst genommen wird. Der Humor ermöglicht eine Dis­tanzierung: keine Distanzierung von den Menschen, die Böses erleiden, sondern von der Macht, die das Böse über sie zu haben beansprucht.


Haringke Fugmann, Bayreuth


Anmerkungen

  1. Für das Folgende: Helen Schüngel-Straumann, Tobit, Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg i. Br. 2000. Die Seitenangaben in Klammern beziehen sich auf diesen Kommentar.
  2. Alle Stellen aus dem Buch Tobit zit. nach der Einheitsübersetzung.
  3. Kurz gefasst könnte man zum „integrativen Bewusstseinsmodus“ sagen: Aus anthropologischer Sicht zeigt sich, dass das, was Menschen als Besessenheit erleben, zunächst als normales neurologisches Muster zu verstehen ist: Es kann bei jedem Menschen durch bekannte Einflüsse (Hunger, Hitze, Kälte, Reizentzug, rhythmisches Trommeln etc.) ausgelöst werden und lässt sich neurologisch wahrscheinlich als „integrativer Bewusstseinsmodus“ beschreiben. Bei diesem werden zum einen bestimmte Gehirnfunktionen des lymbischen Systems in die Gehirnfunktionen der Großhirnrinde integriert (daher die Rede vom integrativen Bewusstseinsmodus), zum anderen werden bestimmte Gehirnfunktionen (z. B. das Zeitgefühl) dissoziiert. Als Resultat erleben sich die Betroffenen zeitweise nicht als „Herr im eigenen Haus“. Aus medizinischer Sicht ist dieser Bewusstseinsmodus relativ harmlos, da normal. Aus kultureller Sicht kommt als problematisierender Faktor hinzu, dass der Verlust der Selbstkontrolle in der westlichen Kultur als beängstigend gilt und höchst negativ besetzt ist – eine Interpretation und Ansicht, die von vielen nicht-westlichen Kulturen nicht grundsätzlich geteilt wird. Vgl. dazu Michael Winkelman, A Paradigm for Understanding Altered Consciousness: The Integrative Mode of Consciousness, in: Etzel Cardena/Michael Winkelman (Hg.), Altering Consciousness. Multidisciplinary Perspec­tives, Vol. 1: History, Culture, and the Humanities, Santa Barbara/Denver/Oxford 2011, 23-41. Für weitere Informationen: Haringke Fugmann/Harald Lamprecht, Besessenheit und Exorzismus aus evangelischer Sicht, Beiträge zur Erforschung religiöser und geistiger Strömungen, Bd. 10, München 2013, www.grin.com/de/e-book/233562/besessenheit-und-exorzismus-aus-evangelischer-sicht (zuletzt abgerufen am 6.5.2014).
  4. Für das Folgende wieder Helen Schüngel-Straumann, Tobit, a.a.O. (Fußnote 1).
  5. Vgl. dazu Haringke Fugmann/Harald Lamprecht, Besessenheit und Exorzismus, a.a.O. (Fußnote 3).
  6. Für das Folgende wieder Helen Schüngel-Straumann, Tobit, a.a.O. (Fußnote 1).
  7. Vgl. dazu Haringke Fugmann/Harald Lamprecht, Besessenheit und Exorzismus, a.a.O. (Fußnote 3).
  8. Vgl. Moshe Sluhovsky, Spirit Possession and Other Alterations of Consciousness in the Christian Western Tradition, in: Etzel Cardena/Michael Winkelman (Hg.), Altering Consciousness, a.a.O. (Fußnote 3), 73-88; Haringke Fugmann/Harald Lamprecht, Besessenheit und Exorzismus, a.a.O. (Fußnote 3).
  9. Vgl. Paul Tillich, The Relation of Religion and Health: Historical Considerations and Theoretical Questions, New York 1946, 348-384, hier zit. nach Michael Palmer (Hg.), Paul Tillich. Writings in the Philosophy of Culture. Kulturphilosophische Schriften, Berlin/New York, 1990, 209-238. Vgl. dazu Haringke Fugmann/Harald Lamprecht, Besessenheit und Exorzismus, a.a.O. (Fußnote 3).