Das Gemeindekonzept der „Willow Creek Community Church“
In den vergangenen 30 Jahren bildete sich insbesondere in den USA ein religiöses Phänomen besonderer Art heraus: „Megachurches“, „Mega“, weil diese Gemeinden wöchentlich bis zu 20 000 Besucher in ihren Gottesdiensten versammeln. Mittlerweile zählen die USA 1600 solcher Kirchen. Neben der „Saddleback Church“ in Kalifornien gehört die „Willow Creek Community Church“ bei Chicago zu den Megachurches, die auch über die US-amerikanischen Grenzen hinaus hohe Ausstrahlungskraft besitzen.
Seit Mitte der 1990er Jahre werden die Gemeindekonzepte der Willow Creek Community Church in Deutschland vonseiten der kirchlichen Praxis mit starkem Interesse verfolgt. Mit jährlich stattfindenden Kongressen und dem Vertrieb von Arbeitsmaterialien sollen bereits bestehenden Gemeinden grundlegende Impulse zur Veränderung der Gemeindestruktur vermittelt werden. Das eigens gegründete Netzwerk „Willownetz“ versteht sich als „Visionsgemeinschaft innovativer Menschen aus verschiedensten Kirchen und Gemeinden, die nach dem biblischen Auftrag Gemeinde bauen und dabei voneinander lernen wollen“.2 Gemeinden sowohl aus dem frei- als auch aus dem landeskirchlichen Bereich gehören dieser Visionsgemeinschaft an. Vorwiegend sind die Gemeinden in den westlichen Bundesländern angesiedelt. Verbände wie die Evangelische Allianz, der Arbeitskreis Missionarische Dienste (AMD) oder die Geistliche Gemeinde-Erneuerung (GGE) begegnen der Willow Creek Community Church ebenfalls mit großem Interesse.
Zur Geschichte
Vor zwei Jahren feierte die Willow Creek Community Church ihren 35. Geburtstag. Seit ihrer Gründung entwickelte sich in kürzester Zeit aus einer experimentellen gottesdienstlichen Veranstaltung im gemieteten Kinosaal ein professionell organisiertes Gemeindeleben mit eigenen Auditorien und Grundstücken. Dem eigentlichen Gründungsdatum geht der Aufbau einer florierenden Jugendarbeit in der South Park Church in Park Ridge bei Chicago voraus. Der damals erst 22-jährige Bill Hybels (geb. 1951) entwickelt mit einem Mitarbeiterstab aus den Reihen der Jugendlichen die Gottesdienstformate „Son City“ und „Son Village“, die nach relativ kurzer Zeit bis zu 1000 Jugendliche anziehen. Zeitgemäße Musik, Theaterstücke, Multimediashows und Themenpredigten sind methodische Kernpunkte, das ideelle Herzstück aber ist der Wunsch, kirchendistanzierte Jugendliche zu erreichen.
1975 verlässt Hybels die Gemeinde und weitet seine Tätigkeit auf den Kreis der Erwachsenen aus. Inspiriert wird er durch seinen Dozenten Gilbert Bilezikian am Trinity College Deerfield/Illinois, der die Darstellung der Jerusalemer Urgemeinde in Apg 2 mit steter Euphorie als optimale Version einer christlichen Gemeinde betont. Hybels mietet die Gemeinde stundenweise in Räume des Willow Creek Theater in South Barrington ein. Das Kino wird zum Namensgeber der Gemeindeneugründung. Bis 1981 finden hier die sonntäglichen Gottesdienste statt, die in Anlehnung an die Veranstaltungen von „Son City“ ebenfalls mit zeitgemäßen Elementen gestaltet werden und nun kirchendistanzierte Erwachsene ansprechen sollen. Bis 1978 erfährt die Gemeinde ein stetiges Wachstum. Aufgrund interner Konflikte, finanzieller Belastungen und fehlender Strukturen kommt es 1979 jedoch zu einer Krise, im Mund der Willow Creek Community Church „the great train wreck of ’79“ (Großer Schiffbruch von 79).3
Spätestens jedoch mit dem Einzug in das neu gebaute Gemeindehaus 1981 hat die Gemeinde die Krise überstanden. Die Veranstaltungsformate differenzieren sich aus in gruppenspezifische Angebote für Singles, Frauen, Kinder oder gemeindliche Dienste, zum Beispiel Seelsorgeangebote. Die Gottesdienste erleben einen Aufschwung. 1991 finden vier Wochenendgottesdienste für Kirchendistanzierte statt, 17 000 Besucher kommen.
Der nationale Bekanntheitsgrad der Willow Creek Community Church steigt, sodass Hybels als Gastredner auf Konferenzen auftritt und die Medien vermehrt über die neue Megachurch berichten. Aufgrund der steigenden Mitgliederzahlen führt die Gemeinde eine Umstrukturierung durch: Es wird auf Kleingruppen umgestellt, mehr Aufgaben auf ehrenamtliche Mitarbeiter verteilt. Im Dezember 1994 zählt die Willow Creek Community Church 1000 Kleingruppen, bis 2006 erhöht sich die Zahl auf 2300. Unterschieden sind sie in Jüngerschaftsgruppen, Gemeinschaftsgruppen, Dienstgruppen, offene Gruppen und Selbsthilfegruppen.4 Nicht ohne Grund wird davon gesprochen, dass die Megakirche „nicht Kleingruppen habe, sondern aus Kleingruppen bestehe“.5 Aus ihnen rekrutieren sich tausende ehrenamtliche Mitarbeiter, nur 280 Menschen sind hauptamtlich angestellt.
Ein Anbau vergrößert später die nutzbare Fläche des Gemeindezentrums um 2000 m2. Das Auditorium bietet mittlerweile ca. 7200 Besuchern Platz. Der Gemeindebau erstreckt sich auf einen imposanten Campus, der neben dem Veranstaltungssaal für die Gottesdienste eine Buchhandlung, eine Turnhalle sowie u. a. Unterrichts- und Konferenzräume, ein zentral angelegtes Atrium, ein Foyer mit Infoständen und einer Cappuccinobar sowie einen Parkplatz mit 3500 Stellplätzen beherbergt. Auf dem Gelände befindet sich zudem ein kleiner See, in dem Taufen stattfinden. Hybels beschreibt „das ‚große Zimmer‘ von Willow Creek“ als einen Ort, „an dem Menschen sich treffen, kennen lernen, entspannen und einfach ‚Teil der Familie‘ sein konnten.“6
Anliegen
Das nach außen erklärte Ziel der Gemeinde lautet: „Willow Creek exists to turn irreligious people into fully devoted followers of Jesus Christ.“7 Erreichen will die neue Gemeinde von Beginn an „unchurched Harry and Mary“, im Sprachgebrauch von Willow Creek also Menschen, die einem kirchlich sozialisierten Hintergrund entstammen, sich aber von der traditionellen Institution Kirche abgewendet haben. Kennzeichnend ist dabei im Missionsverfahren der Willow Creek Community Church, dass die (religiösen) Bedürfnisse und die ästhetischen Muster der Zielgruppe zum Ausgangspunkt für die Präsentation der Inhalte gemacht werden. Umgesetzt wird dies u. a. im „Seeker-Service“. Schon der erste Gottesdienst, zu dem die Willow Creek Community Church einlud8, trug den Titel „Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber nie zu fragen wagten“.9 Derzeit finden jedes Wochenende drei „sucherorientierte“ Gottesdienste statt, zu denen bis zu 25 000 Besucher kommen. Die Willow Creek Community Church bemüht sich dabei um eine qualitativ hochwertige Durchführung des Programms, denn sie ist „überzeugt, dass hervorragende Qualität Gott ehrt und Menschen inspiriert“.10 Entsprechend hoch ist der Antrieb, aber auch der Aufwand, den die Gemeinde betreibt, um Gottesdienst für Gottesdienst ein neues Programm aufzustellen. Ein Wochenende mit Gottesdiensten kostet die Gemeinde ungefähr 50 000 US-Dollar.11
Nach innen stellt sich die Gemeinde die Aufgabe, „eine nach biblischem Vorbild funktionierende Gemeinschaft [zu] sein“.12 Sie versteht sich als autonome Ortsgemeinde. Ihre Aktivität wird durch das Bestreben legitimiert, dem christlichen Glauben mithilfe und in der Gemeinschaft von Christen Ausdruck zu verleihen, nicht durch die Verbundenheit mit einer der institutionellen (Groß-)Kirchen. Kirche wird übereinstimmend mit evangelikalen Glaubensüberzeugungen verstanden als eine Gemeinschaft derer, die den Kreuzestod Jesu Christi als Erlösungstat für sich persönlich verstehen. Die Mitglieder nehmen aktiv am Gemeindeleben teil, erkennen die Bibel als Autorität an und bringen sich mit ihren Talenten und Gaben ein. Eine institutionelle Kirche oder gar eine passive Kirchenmitgliedschaft ist hier nicht denkbar, da Kirche überall dort ist, wo ihre Gläubigen sind. Sie wird somit nicht als Institution verstanden, sondern als Organismus, dessen Lebendigkeit durch die Aktivität seiner Glieder bestimmt wird. Daher finanziert sich die Gemeinde selbstständig durch die Spenden ihrer Mitglieder.13 Der Jahresetat beträgt dabei gut 23 Mio US-Dollar.14
Das biblische Vorbild von Apg 2 impliziert für das Gemeindeleben offene und vertrauensvolle Beziehungen, Gebet, Anbetung, Abendmahl, das Teilen von Mitteln und Ressourcen sowie den Einsatz der eigenen Gaben.15 Entschließt sich ein „(Be-)Sucher“, Gemeindemitglied zu werden, bekräftigt er dies mit einer Selbstverpflichtung zur Gemeindemitgliedschaft, auf die in der Regel die Glaubenstaufe folgt. Nach ca. drei Jahren wird die Mitgliedschaft noch einmal überprüft. Ihre Ernsthaftigkeit und ihr Reifegrad werden anhand von fünf Kategorien, den sogenannten „5 G’s“16 – Gnade (grace), geistliches Wachstum (growth), Gruppe (group), Gaben (gifts), gute Haushalterschaft (good stewardship) – bestimmt. Zielpunkt der gesamten Gemeindevision ist damit die Eingliederung der Mitglieder in ein Sozialsystem, das klaren theologischen Grundsätzen folgt. Als Treffen der Gemeindemitglieder fungiert der werktags stattfindende „Believer-Service“.
Mit der Gründung der „Willow Creek Association“ (WCA) 1992 weitet die Willow Creek Community Church ihre Arbeit international aus. Sie richtet Kongresse aus, gibt Arbeitsmaterialien heraus und schafft Gelegenheiten zum Austausch der Gemeinden und Einzelpersonen über die US-amerikanischen Grenzen hinaus. Heute zählt die WCA über 11 000 Partnergemeinden, davon 330 in Deutschland.
Betrachtet man nun die Rezeption des Konzepts der Willow Creek Community Church in der deutschen Kirchenlandschaft, so fällt die hohe Teilnehmerzahl an den Leitungskongressen (11 000) im Vergleich mit anderen Kongressformaten (Gemeinde-Kongress 5900, Jugend-Kongress 5200, Promiseland-Kongress 4300) auf. Die Deutschen scheinen besonders in der Leiterschaftstheorie der Willow Creek Community Church neue Perspektiven für sich zu entdecken.
In der „Gemeindechronik“ „Gemeinde neu entdeckt. Die Geschichte von Willow Creek“ entwirft Hybels das Profil eines Leiters: „Leiter müssen eine Vision vermitteln, sie müssen die Berufung der Gemeinde auf den Punkt bringen können, eine Strategie entwickeln, Werte untermauern, Ergebnisse bewerten und Menschen dazu ermutigen, gemeinsam das Reich Gottes voranzubringen.“17 Damit wird den Leitern eine zentrale Rolle zugewiesen, an ihnen hängt das Schicksal einer Gemeinde bzw. einer zur Gemeinde gehörenden Kleingruppe. Sie werden von den Lehrern unterschieden, deren primäre Aufgabe die Erbauung der Gemeinde ist. Für die Leitungsverantwortung macht sich die Willow Creek Community Church Methoden und Strukturen aus dem säkularen Management zunutze und schult auch Außenstehende in ihren Konzepten. Am jährlichen „Leadership Summit“ in Chicago nehmen ca. 100 000 Personen teil, darunter 2001 auch der badische Landesbischof Ulrich Fischer. Seit dem Jahr 2000 gab es sieben Leiterschaftskongresse in Deutschland.
Rezeption in Deutschland
Hierzulande fand das Konzept der Willow Creek Community Church Eingang in die Gemeindearbeit von Klaus Douglass, 1989 bis 2009 Pfarrer in der Andreasgemeinde in Niederhöchstadt bei Frankfurt. Während seiner dortigen Amtszeit veranstaltete er Glaubenskurse und etablierte eine Hauskreisarbeit mit 40 Gruppen. 2005 wurde der „GoSpecial“-Gottesdienst eingeführt, der sich konzeptionell an die Seeker-Services in Chicago anlehnt. Douglass beendete seinen Dienst in einer Gemeinde, die 2400 Gemeindeglieder, 18 hauptamtliche und 300 ehrenamtliche Mitarbeiter zählte und das eigene Netzwerk „AndreasNetz“ gebildet hatte.
In Greifswald findet seit 2002 ein Gottesdienstformat unter dem Namen „Greifbar“ statt, dessen Theaterstücke, zeitgemäße Musik und lebensnahe Predigten an Elemente des sucherorientierten Gottesdienstes der Willow Creek Community Church erinnern. Weitere Verbindungen zu der amerikanischen Großkirche stellen ein Gottesdienst für die Kerngemeinde („Greifbar-Plus“), ein spezielles Programm für Kinder („Greifini“), Glaubenskurse, Kleingruppen und die Orientierung an gabenorientierter Mitarbeit dar.18 Maßgeblich beteiligt am Aufbau des Projekts ist Michael Herbst, Professor für Praktische Theologie, der die Kongresse der Willow Creek Community Church in Deutschland durch Vorträge unterstützt. Seit April 2011 wird „Greifbar“ als unselbstständiges Werk der Pommerschen Evangelischen Kirche geführt und markiert damit im Geiste der Willow Creek Community Church eine gewisse Eigenständigkeit von der institutionellen Kirche.
Es fällt auf, dass die Willow Creek Community Church vornehmlich Einfluss auf den protestantischen Raum in Deutschland hat. Die katholischen Gemeinden partizipieren nur in verschwindend geringem Umfang an den Konzepten der amerikanischen Megachurch. Mittlerweile wird die Konzeption auch im wissenschaftlich-theologischen Bereich diskutiert. Das Fachwörterbuch RGG4 deklariert sie als „[ä]ußerst wirksam für den europäischen Gemeindeaufbau“.19
Kritische Würdigung
Ohne Zweifel trägt das Konzept in Deutschland dazu bei, dass sich Menschen wieder neu für Glauben interessieren und im kirchlichen Kontext eine Beheimatung finden. Hauptamtliche Mitarbeiter der Kirche werden für ihren Dienst inspiriert und motiviert. Kirchgemeinden erfahren einen Aufschwung und neues Interesse, es werden sogar neue Gemeinden gegründet. Trotz der voranschreitenden und euphorischen Veränderungen ist das Konzept auf seine Kehrseite hin zu prüfen.
Die genauen Vorstellungen über den Unterschied zwischen Suchenden und ernsthaften Gemeindemitgliedern, wie sie z. B. mit den „5 G’s“ beschrieben werden, neigen zum Plakativen. Dies wird weder der Realität einer pluralen Gesellschaft noch der Brüchigkeit eines (Glaubens-)Lebens gerecht. Hier wird der Eindruck erweckt, dass Glaube messbar sei und man nur genug für den eigenen Glauben tun müsse, damit „es funktioniert“. Dies kann Gemeindemitglieder enorm unter Druck setzen. Dem Idealbild des „perfekten Christen“ muss sich am Ende jeder fügen: „Es gibt eine klare, auf Wachstum und Nachfolge ausgerichtete Vision und genaue Vorstellungen, welche Wege dahin führen.“20 Mit dieser Tendenz geht auch die Konzeption der Programme, Listen und Zielvorgaben einher. Neben den „5 G’s“ stehen beispielhaft die „7-Schritte-Strategie“ für die Freundschaftsevangelisation oder die „10 Werte, die eine Bewegung kennzeichnen“.21 Die Verfasstheit US-amerikanischer Gemeinden als „intentional communities“, bei der sich jede Gemeinde selbst durch eine profilierte Formulierung ihrer Ziele eine Identität gibt, mag dies wohl erfordern, schließlich gibt es keinen vorhandenen Katalog bestehender Grundüberzeugungen, wie es mit den Katechismen und Bekenntnisschriften in den protestantischen Landeskirchen Deutschlands der Fall ist. Dennoch erwecken die strategisch ausgerichteten Punktelisten den Eindruck der Machbarkeit des Glaubens. Zu vermuten ist dahinter auch der Einfluss marktwirtschaftlicher Elemente. Für die äußerliche Strukturierung und Profilierung der Gemeinde mag es sinnvoll sein, Strategien und Strukturen zu etablieren, nicht aber für Angelegenheiten des Glaubens. Denn Glaube ist „ein Geschehen ..., das von Gott her den Menschen zuteil wird“, weshalb der Glaube nicht „wie ein Besitz oder eine Eigenschaft betrachtet werden“ kann.22
Ein solch fester theologischer Rahmen leitet folglich nur wenig dazu an, selbst und mit anderen auf die Suche nach einer eigenen Form des Glaubenslebens zu gehen. Es „geht nicht um eine gemeinsame Suche, sondern um Gefolgschaft auf einem vorgezeichneten Weg“.23 Deutlich wird dies auch an der geforderten Glaubenstaufe, die ggf. als Wiedertaufe vollzogen wird. Damit distanziert sich die Willow Creek Community Church von theologischen Auffassungen, die von anderen Kirchen praktiziert und von der ökumenischen Bewegung anerkannt werden.24 Das Eingehen auf die inhaltlichen und ästhetischen Anknüpfungspunkte in der Lebenswelt von „unchurched Harry and Mary“ erscheint damit in einem anderen Licht. Was als Interesse am Gegenüber auftritt, ist im Kern lediglich ein „Sprungbrett“, um eigene Gedankengüter und Deutungsmuster anzubringen, nicht aber, um sich in einen echten Dialog zu begeben. Betoniert wird dieser Sachverhalt durch die zentrale Rolle der Leiter und durch hierarchische Strukturen der Ämter von Ältestenrat und Seniorpastor, die unter sich weitere Personen mit Leiterverantwortlichkeit in einem geringeren Wirkusradius versammeln. Die Gemeindeglieder werden dazu verführt, wichtige (Lehr-)Entscheidungen den Leitern zu überlassen. Auf Dauer dürfte dies zu einer Überforderung der Leitungspersonen und einer Unmündigkeit der Gemeindemitglieder führen.
Die Willow Creek Community Church ist eng mit ihrem Hauptpastor Bill Hybels verbunden. Er scheint wie der Mittelpunkt eines konzentrisch angelegten Gemeindesystems. Die Gemeinde wurde auf seine Initiative hin gegründet, er wurde recht schnell ihr Seniorpastor. Unter seiner Leitung entwickelte sich die frühere „Kinogemeinde“ zu einer der einflussreichsten Megachurches im nationalen und internationalen Bereich. Nach 30 Jahren gab er 2006 sein Amt an Gene Appel ab, der jedoch 2008 zurücktrat. Übergangsweise übernahm Hybels das Amt wieder und hat es bis heute inne. Seinen Fußstapfen scheint bisher niemand gewachsen zu sein.
Daraus ergibt sich die Frage, wie sich die Willow Creek Community Church weiterentwickeln wird, wenn Hybels definitiv nicht mehr Hauptpastor sein kann – und ob sie tatsächlich Bestand haben wird. Die Beständigkeit der Gemeinde ist allerdings nicht nur durch die Zentrierung auf die Person des Bill Hybels gefährdet. Aufgrund des Prinzips der autonomen Ortsgemeinde entbehrt sie des tragenden Eingebundenseins in die Tradition und Institution einer bestehenden (Groß-)Kirche. Traditionelle und konstitutive Elemente der Christenheit wie z. B. die Feier des Abendmahls stehen im Vergleich zu Gottesdiensten mit Erlebnisfaktor eher im Hintergrund. Dennoch dürfte die Willow Creek Community Church in der US-amerikanischen evangelikalen Community zumindest ideell die Rolle einer Großkirche übernehmen und sie damit in einem größeren Ganzen verankern. Inwieweit dies trägt, wird sich jedoch erst in den kommenden Jahren oder Jahrzehnten zeigen.
Die Willow Creek Community Church hat Teile der deutschen Kirchenlandschaft nachhaltig geprägt. Ihr größter Verdienst liegt darin, dass sowohl Gemeindemitglieder als auch Hauptamtliche neue Perspektiven für ihren Dienst gewonnen haben. Stets wird aber geboten sein, die Inhalte und Programme der Willow Creek Community Church kritisch auf die Zweiseitigkeit der Medaille von strategischem Konzept und geistlicher (Un-)Mündigkeit hin zu befragen, um einer unangemessenen Übertragung wirtschaftlicher Methoden auf das geistliche Leben vorzubeugen.
Karin Walther, Leipzig
Anmerkungen
1 Diesem Bericht liegt eine im Februar 2012 an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig entstandene Hausarbeit mit dem Titel „Das Kirchenverständnis der Willow Creek Community Church. Eine Analyse mit kritischer Reflexion“ zugrunde. Für die Publikation wurde sie gekürzt und überarbeitet.
2 www.willowcreek.de (die in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten wurden zuletzt abgerufen am 7.11.2012).
3 Bill Hybels/Lynne Hybels, Gemeinde neu entdeckt. Die Geschichte von Willow Creek, Übersetzung: Annette Schalk, Aßlar 22006, 128.
4 Vgl. ebd., 192.
5 Wilfried Plock, Die Willow Creek Community Church. Eine differenzierte Beurteilung, in: Gemeindegründung 51, 3/1997, 17.
6 Bill Hybels/Lynne Hybels, Gemeinde neu entdeckt, a.a.O., 153.
7 www.willowcreek.org/aboutwillow/what-willow-believes .
8 Datum: 12.10.1975.
9 Bill Hybels/Lynne Hybels, Gemeinde neu entdeckt, a.a.O., 86.
10 Ebd., 290.
11 Markus Bräuer, Hallelujah in Gottes eigenem Land. Rundfunkvortrag im Deutschlandfunk am 18. September 2011, Online-Veröffentlichung: https://rundfunk.evangelisch.de/kirche-im-radio/deutschlandfunk/am-sonntagmorgen/am-sonntagmorgen-halleluja-gottes-eigenem-land- .
12 Bill Hybels/Lynne Hybels, Gemeinde neu entdeckt, a.a.O., 194.
13 Dies ist natürlich auch deshalb notwendig, weil es in den USA keine Kirchensteuer gibt.
14 Beate Hofmann, Kirche XXL. Von der Megachurch zur Emerging Church. Religiöse Phänomene in der US-amerikanischen Kirchenlandschaft, in: DtPfrBl 107 (2007), 469.
15 Vgl. Bill Hybels/Lynne Hybels, Gemeinde neu entdeckt, a.a.O., 67.
16 Ebd., 301-305.
17 Ebd., 293. Hybels hält weitere Charakteristika von Leitern fest: „1. Leiter haben die Fähigkeit, eine Vision zu vermitteln. 2. Leiter haben die Fähigkeit, Menschen zusammenzubringen. 3. Leiter haben die Fähigkeit, andere Menschen zu inspirieren und zu motivieren. 4. Leiter können die Notwendigkeit positiver Veränderungen erkennen – und sie dann herbeiführen. 5. Leiter etablieren zentrale Werte. 6. Leiter setzen vorhandene Mittel wirksam ein. 7. Leiter haben die Fähigkeit, „Entropie“ (hier im Sinne von negativer Veränderung) zu erkennen. 8. Leiter lieben es, Leitungsstrukturen zu schaffen.“ Vgl. ebd., 231-235.
18 www.greifbar.de .
19 Christian Möller, Art. Gemeindeaufbau, in: RGG4 Bd. 3, Tübingen 2000, 624.
20 Beate Hofmann/Doris Denzler, (K)ein Programm für die Volkskirche. 30 Jahre Willow Creek, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (NELKB) 10/2005, 320.
21 Bill Hybels/Lynne Hybels, Gemeinde neu entdeckt, a.a.O., 277-295.
22 Wilfried Härle, Dogmatik, Berlin 32007, 571.
23 Beate Hofmann/Doris Denzler, (K)ein Programm für die Volkskirche, a.a.O., 320.
24 „Die Taufe ist eine unwiederholbare Handlung. Jegliche Praxis, die als ‚Wieder-Taufe‘ ausgelegt werden könnte, muß vermieden werden“ (Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen: „Taufe, Eucharistie und Amt“, Frankfurt a. M./Paderborn 1982, 14).