José Antonio Marina

Das Gottesgutachten. Religion für Atheisten, Zweifler und Gläubige

José Antonio Marina, Das Gottesgutachten. Religion für Atheisten, Zweifler und Gläubige, aus dem Spanischen übersetzt von Wilfried Hof, Wissenschaftliche Buchgesellschaft / Primus-Verlag, Darmstadt 2005, 222 Seiten, 24,90 Euro.


Einen Blick „von außen“ auf Religion bietet der renommierte spanische Philosoph Marina und breitet (im ersten Teil: „Ablehnung der Theologie“) vor seinem Leser eine breite Palette von halb philosophischen, halb religionswissenschaftlichen Einsichten zu Religionen, religionspsychologischen Erkenntnissen und religionsphänomenologischen Vergleichen aus. „Die Religion ist eine Erfindung, die von der sichtbaren Welt ausgehend die vorgebliche Hälfte des Symbols, der zerbrochenen Münze, zu finden sucht“ (26). Den Religionen sei gemeinsam die Suche nach dem Glück, dem erfüllten Leben, nach der Unsterblichkeit (Gilgamesch). Außerdem haben sie ordnende Funktion und rufen nach Gerechtigkeit und nach einer Ethik, müssen sich dann aber selbst der Ethik unterwerfen und mit ihr kollidieren, obwohl sie sie selbst auf den Plan gerufen haben: sie werden zum „muttermörderischen Abkömmling“ (39). Mit dieser Formulierung will Marina die Durkheimsche These von der Integrationsfunktion der Religion fortschreiben und attestiert der Religion das große Projekt der drei Funktionen Erklären, Erretten, Ordnen. Weiter geht es mit grundlegenden Einsichten: die Religion sei affektiv veranlagt, der religiöse Mensch „macht alle Dinge zu Spuren und Sinnbildern und erschafft sich aus grandiosen Allegorien eine zweite Welt“ (44). Entsprechend der Offenbarungsgeschichte der Religionen unterscheidet Marina nach Offenbarungen aus der Natur, aus dem Inneren des Menschen und von Offenbarungsmittlern. Bei allen Versuchen des Systematisierens bieten Religionen sich als Kunstwerke aus den unterschiedlichsten Elementen dar.

Mit einer gewissen Beharrlichkeit steht Marinas Buch unter der skeptizistischen Vorgabe der Dichotomie von Glaube und Vernunft, Religion und Wissenschaft, Übernatürlichem und Natürlichem, (metaphysischer) Spekulation und Empirie. Es existierten zwei Kreise: „ein sinnlich orientierter, allgemeiner, logischer, natürlicher, wissenschaftlicher Kreis und ein geistig orientierter, privater, überlogischer, übernatürlicher, theologischer. Und bisher ist noch kein Psychiater aufgetaucht, der uns von solcher Schizophrenie befreien könnte“ (70f). Oder auch: der „faktische“, „profane“ und der „heilige Kreis“. Dieses nicht völlig unintelligente, aber doch etwas in die Jahre gekommene Klischee wird an Zitaten von Thomas von Aquin, Papst Paul VI., Rudolf Otto, William James etc. entwickelt. Das Wort „Wissenschaft“ wird, offenbar auf dem Hintergrund des englischen Sprachgebrauchs von „science“, grundsätzlich als Erfahrungswissenschaft ohne die seriöse Möglichkeit der Überschreitung von Sinneswahrnehmung (und ihrer Analyse) benutzt und damit an immer neuen Facetten eines Gegensatzpaares Wissenschaft – Religion gearbeitet. „Wissenschaftler, die über Religion reden, sind lediglich Personen, die über Religion reden und außerdem zufällig Wissenschaftler sind“ (97).

Im zweiten Teil („Bestätigende Theologie“, 107ff) entwickelt Marina einen Begriff von Realität und der sich darauf beziehenden Wissenschaft, um nachträglich das in Teil I benutzte Gegensatzpaar zu erläutern. Seine Denkexperimente führen ihn weiter über das Korrespondenzpaar Existenz-Essenz zur ästhetischen Wahrnehmungswelt der japanischen Haiku-Dichtung und der ihr verbundenen Zen-Kultur, allerdings auch in ihrer Stilisierung und Brechung durch den Missionar D. T. Suzuki. Und schließlich gelangt er zur These „Gott ist Aktion“ (148). Schöpferische Intelligenz, das „erfinderische Bewusstsein des Existierens“ sind die Stichworte, von denen aus Marina zur zentralen Stellung des Handelns in seinem Denkweg kommt. Ethik ist es, die auch die Religionen domestizieren kann. Marina bindet diese Argumentation mit seiner Wertschätzung der kreativen Intelligenz zusammen, „die mit Werten, Gefühlen, Lebensprojekten zu tun hat“ (174). Als eine willkommene Bestätigung des Projekts Weltethos kann sein Unterfangen interpretiert werden, im Blitzverfahren das Vorkommen der Goldenen Regel in den diversen religiösen Urkunden nachzuweisen (170), auch wenn dies nicht unbedingt zum Stützpfeiler seiner Argumentation wird. Religionen haben die Chance, sich als „ethische Religionen“ in ein Stadium der zweiten Generation zu begeben, in welchem sie, obwohl dem Bereich der Vernunft-Intelligenz nicht zugänglich, für die Realität relevant werden – so lautet die abschließende Empfehlung des zusammenfassenden „Gutachtens“.

Marinas Essay ist mit Temperament geschrieben, lässt mitunter jedoch den Leser, der geordnete Gedankengänge schätzt, am Wegesrand liegen. Das Buch wechselt zwischen der Verfolgung philosophischer Gedanken, der Aufnahme von Einsichten aus der Religionswissenschaft und der faszinierten Zitation von Literaturen, die zu beidem nicht so ganz zu gehören scheinen, so etwa der längere Exkurs zur Wirklichkeitswahrnehmung des Zen. Der Ideenreichtum und die erfrischend leichte Feder haben ihren Charme, auch wenn die Hauptidee – etwas lapidar gesagt: Ethik statt Dogmatik – nicht so völlig neu ist.


Ulrich Dehn