Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart
Mathias Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, Verlag C. H. Beck, München 2009, 606 Seiten, 39,90 Euro.
Um es gleich vorweg zu sagen: Es ist ein herausragendes Buch, das auf Jahre den Standard markieren wird, hinter den die Diskussion über ein ebenso aktuelles wie häufig allzu plakativ verhandeltes Thema nicht mehr wird zurückgehen können.
Was ist die Scharia? Worauf basiert sie, wie hat sie sich entwickelt? Nicht nur auf diese Fragen gibt der Verfasser, Professor für Rechtswissenschaften, Richter und Islamwissenschaftler und einer der renommiertesten Kenner der Materie, eine profunde Antwort. Wer allerdings so etwas wie eine gültige Auflistung von Schariaregelungen und ihren religiösen Begründungen sucht, wird eher enttäuscht sein. Denn Rohe legt zum einen Wert darauf, die islamischen Rechtsvorstellungen nicht primär aus der religiösen Heilsbotschaft des Islam abzuleiten, sondern die juristische Begrifflichkeit und ihre geschichtliche Entfaltung zum Ausgangspunkt zu nehmen. In dieser Hinsicht geht Rohe methodisch einen anderen Weg als etwa Tilman Nagel, der als erster eine grundlegende deutsche Einführung in das Thema gegeben hat (Das islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001). In der Unterscheidung zwischen der Scharia als dem von Gott gewiesenen, ewig gültigen Weg und dem fiqh (Rechtswissenschaft) als der menschlichen Bemühung, die angemessene Anwendung der Quellen jeweils zeit- und ortsbezogen zu formulieren, widmet sich das Buch daher dem zweiten Bereich. Zum andern sollen neben dem Blick auf die klassischen Grundlagen des islamischen Rechts die modernen Entwicklungen gebührend berücksichtigt werden, Vergangenheit und Gegenwart also gleichwertigen Platz erhalten.
Das hat eine Anlage des Buches in vier Teilen zur Folge. Der erste Teil setzt für einen geschichtlichen Überblick über die wesentlichen Grundlagen des islamischen Rechts mit der Entstehung des islamischen Staates ein. Es werden die Rechtsquellen (Koran, Sunna, Konsens, Analogieschluss) und die Methoden der Rechtsfindung (usul al-fiqh) sowie die Regelungen des klassischen Rechts nach Themen geordnet vorgestellt (z. B. Ehe- und Familienrecht, Erbrecht, Vertrags- und Wirtschaftsrecht, Gesellschaftsrecht, Strafrecht, Völkerrecht). Im zweiten Teil steht die Weiterentwicklung im Zeichen der innerislamischen Reformbewegungen seit dem 19. Jahrhundert im Mittelpunkt. Besondere Berücksichtigung finden die methodischen Ansätze und ihre Ergebnisse im modernen islamischen Recht, die mit vielen Anwendungsbeispielen veranschaulicht werden. Zwischen kritikloser Übernahme der klassischen Regelungen (taqlid), der Unterscheidung von interpretationsfesten und interpretationsbedürftigen Normen und den Möglichkeiten des eigenständigen Raisonnements (idschtihad) tut sich in der Anwendungspraxis ein weites Feld auf. Die zunehmende relative Durchlässigkeit der Rechtsschulgrenzen im Blick auf die Rechtsnormen erweitert das Spektrum des juristischen „Patchwork“ zusätzlich. Vor diesem Hintergrund werden wiederum inhaltliche Kernbereiche des modernen islamischen Rechts dargestellt, mit exemplarischen Vertiefungen zur Ehescheidung und zur Apostasiefrage. Auch auf das wachsende Interesse am islamischen Wirtschaften (Islamic Banking) wird hingewiesen. Der dritte Teil wendet sich regionalen Entwicklungen zu: In Indien als ehemals muslimisch beherrschtem Territorium, Kanada als klassischem Einwanderungsland und schließlich Deutschland (mit Ausblick auf andere europäische Länder) führten und führen die unterschiedlichen Ausgangssituationen zu jeweils eigenen Formen des Umgangs mit islamrechtlichen Fragestellungen in der Diaspora. Schließlich spricht der Verfasser die Gefahren einer Re-Islamisierung des Rechts an, die tendenziell vielerorts zu beobachten ist, betont aber zugleich die Dynamik und die Vielgestaltigkeit des islamischen Rechts, die durchaus auch Raum bieten für relativ flexible Interpretationen im Rahmen der westlichen Gesellschaft(en). Der Verfasser legt grundsätzlich eine positive Haltung gegenüber seinem Forschungsgegenstand an den Tag. Er hebt die Tendenzen zu einer („überraschend weitgehenden“) faktischen Trennung zwischen Staat und Religion innerhalb der islamischen Welt hervor (14). Andererseits mahnt er deutlich „die weitere Entwicklung einer islamischen Theologie im unverzichtbaren europäischen Rechtsrahmen“ an (390). Islamistischen Positionen wird eine Absage erteilt. Unter „Europäischem Islam“ wäre dennoch nicht eine westlich aufoktroyierte Lebensart, sondern positiv eine Form des Islam zu verstehen, die die denkbaren Interpretationsspielarten des islamischen Rechts auf die Palette begrenzt, die sich im Rahmen der europäischen Verfassungsordnungen bewegt (391).
Man kann am Ende fragen, ob der Autor der elementaren Verwobenheit von Recht und Theologie im Islam in ausreichendem Maße gerecht wird, wenn er den Diesseitsbezug und das Kriterium der Rechtsdurchsetzung im Rahmen menschlicher Ordnungs- und Sanktionsmechanismen zum methodischen Ausgangspunkt macht. Diese Entscheidung begründet die Konzentration des Buches auf den Teil der Scharia, der die Fragen des zwischenmenschlichen Umgangs zum Gegenstand hat (mu’amalat). Dagegen treten die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch betreffenden Vorschriften (‘ibadat) ganz in den Hintergrund. Vielleicht hängt damit zusammen, dass bestimmte theologische Aspekte eher unterbelichtet bleiben. Ein Beispiel hierfür wäre die nach Meinung des Rezensenten zu einseitig und zu positiv geratene Einschätzung des Dschihad (258-261).
Es bleibt festzuhalten: Der Autor ist wie kein anderer in der juristischen und in der islamkundlichen Materie bewandert und hat von daher ein Grundlagenwerk vorgelegt, das mit hohem wissenschaftlichem Anspruch ein unüberschaubar großes Terrain dennoch gut lesbar vor Augen führt. Ein Drittel des Buches nehmen Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Glossar, Register sowie die inhaltliche Gliederung eines hanafitischen Rechtswerkes aus dem 11. Jahrhundert ein, wodurch der Nutzen als Nachschlagewerk noch einmal erhöht wird.
Friedmann Eißler