Das Minarettverbot in der Schweiz
Es kommt äußerst selten vor, dass die Schweiz im Ausland die Schlagzeilen beherrscht – am 29. November 2009 war es jedoch so weit, und das mit einem wahren Paukenschlag: Mit 57,5 Prozent hatten die Stimmberechtigten eine Verfassungsinitiative zugunsten eines Bauverbots für Minarette angenommen. Das Ergebnis überraschte inner- wie außerhalb der Schweiz, zumal die Prognosen im Vorfeld der Abstimmung von einer ablehnenden Mehrheit ausgegangen waren. Bemerkenswert war darüber hinaus, dass die Initiative vor allem in ländlichen Regionen die Stimmenden überzeugen konnte, während sie in den Kantonen Genf und Basel-Stadt sowie in der Stadt Zürich abgelehnt wurde.
Seitdem wird zum Teil in einer äußerst gereizten Tonlage über die Ursachen und Konsequenzen des Verdikts diskutiert. So stellt sich beispielsweise die Frage, ob der sofort in Kraft getretene Verfassungsartikel nicht gegen die auch in der Schweizer Bundesverfassung garantierte Religionsfreiheit und das Diskriminierungsverbot verstößt und vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg Bestand haben wird, sofern dort gegen das Minarettverbot geklagt werden sollte.
Schon die Plakate der Initiativbefürworter hatten die Gemüter erhitzt, zeigten sie doch raketenartige Minarette, die aus einer Schweizer Fahne wachsen, sowie eine schwarz verhüllte, finster dreinblickende Muslima.1 In mehreren Städten, darunter Basel und Genf, wurde das Aufhängen des – übrigens von einem Deutschen gestalteten – Plakats auf öffentlichem Grund verboten, was parallel zur Diskussion um das Minarettverbot eine hitzige Debatte um das Plakatverbot nach sich zog und den Initianten so eine kostenlose und höchst effiziente Plattform bot. Die Aktionen und Argumente der Initiativgegner, darunter fast alle Parteien, kamen dagegen etwas kleinlaut und ausgesprochen lustlos daher, dies in der irrigen Annahme, der Schweizer Souverän werde schon Vernunft walten lassen und dem Ansinnen eines Minarettverbots eine Abfuhr erteilen.
Doch wer sind die Initianten, die an ihren Erfolg wohl selbst nicht geglaubt hatten und deshalb am Abstimmungsabend fast etwas perplex zur Kenntnis nehmen durften, dass sie gewonnen hatten? Hinter der Initiative steht ein sogenanntes „Egerkinger Komitee“, benannt nach einem kleinen Ort im Kanton Solothurn. Dieses Komitee vereint Minarettgegner aus Wangen bei Olten (Kanton Solothurn), Langenthal (Kanton Bern) und Wil (Kanton St. Gallen). In den drei Orten stand vor rund vier Jahren die Frage eines Minarettbaus an, was Einsprachen sowie teilweise landesweit geführte, schon damals höchst kontroverse Diskussionen nach sich zog. Dem Komitee gehören außerdem die Nationalräte Ulrich Schlüer und Walter Wobmann an, beide Mitglieder der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP). Zum eigentlichen Initiativkomitee zählten neben Schlüer und Wobmann weitere SVP-Parlamentarier sowie zwei Mitglieder der „Eidgenössisch-Demokratischen Union“ (EDU). Diese Kleinpartei wurde 1975 von rechtsgerichteten Politikern gegründet und ist heute ausgesprochen evangelikal-biblizistisch ausgerichtet.
Am 8. Juli 2008 reichte das „Egerkinger Komitee“ die für eine Initiative nötigen Unterschriften bei der Bundeskanzlei ein. Rückblickend schrieb es dazu: „Die Unterschriftensammlung nahm einen Verlauf, wie er für Volksinitiativen eigentlich nicht charakteristisch ist. Das Initiativkomitee hat relativ wenige Aktionen zur Unterschriftensammlung organisiert. Trotzdem liefen Tag für Tag aus allen Regionen der Schweiz Unterschriften ein, gesammelt von Einzelpersonen, welche sich durch den Text der Initiative spontan motiviert fühlten, die Unterschriftensammlung zu unterstützen. Mehr als die Hälfte der eingereichten Unterschriften sind in dieser Form beim Initiativkomitee eingetroffen.“2 Begründet wurde das Begehren damit, dass „das Minarett als Bauwerk ... keinen religiösen Charakter“ habe. „Es wird weder im Koran noch in andern heiligen Schriften des Islam auch nur erwähnt. Das Minarett ist vielmehr Symbol jenes religiös-politischen Macht- und Herrschaftsanspruches, der im Namen behaupteter Religionsfreiheit Grundrechte anderer – insbesondere die Gleichheit aller vor dem Gesetz – bestreitet, womit dieser Anspruch in Widerspruch steht zu Verfassung und Rechtsordnung der Schweiz. Wer – wie das im Islam Tatsache ist – die Religion über den Staat stellt, religiösen Anweisungen also höhere Geltung zuordnet als der im Rechtsstaat demokratisch geschaffenen Rechtsordnung, gerät in der Schweiz unweigerlich in Widerspruch zur Bundesverfassung. Diesem Widerspruch kann nicht ausgewichen werden. Das Minarett ist das äusserliche Symbol dieses religiös-politischen Machtanspruchs, der verfassungsmässige Grundrechte in Frage stellt. Mit dem von der Initiative verlangten Verbot von Minaretten wird erreicht, dass der in der Verfassung niedergelegten Gesellschafts- und Rechtsordnung uneingeschränkte Gültigkeit (sic!) in der Schweiz garantiert bleibt. Nicht angetastet wird durch die Initiative die Glaubensfreiheit, die als Grundrecht jedem Menschen in der Verfassung garantiert ist.“3
Diese Argumentation verriet bereits, dass es um weit mehr ging als einfach nur um Minarette. In Wahrheit war den Initianten an einem Signal gegen die angeblich schleichende „Islamisierung“ der Schweiz gelegen. Das Minarett hatte also lediglich als Symbol für diffuse Bedrohungsgefühle herzuhalten, die der Islam bei zahlreichen Schweizerinnen und Schweizern auszulösen scheint. Wie auch Analysen nach der Abstimmung ergaben, waren für eine Mehrheit zugunsten des Minarettverbots ganz unterschiedliche Phänomene ausschlaggebend: so etwa die Scharia, die Genitalverstümmelung junger Mädchen, die Burka, sicher auch die allabendlichen Nachrichtenbilder aus Pakistan, Afghanistan und dem Irak sowie die faktische Geiselnahme zweier Schweizer Geschäftsleute durch das Regime in Libyen und last but not least die Nachwirkungen des 11. September 2001. Offenbar haben auch und gerade junge Frauen der Initiative zugestimmt, dies nicht zuletzt aufgrund negativer Erfahrungen mit bzw. Vorbehalten gegenüber männlichen Muslimen.
Die Gemengelage wurde von den Initiativgegnern weder in ausreichendem Maße ernst noch wahrgenommen. Und dieser Vorwurf betrifft sowohl die Mitte- und Linksparteien als auch die beiden großen Landeskirchen, die sich für die Nein-Parole ausgesprochen hatten. Aus der Flut der mehr oder weniger klugen Analysen und Stellungnahmen der Abstimmungsverlierer4 ragt sicher die von Kurt Koch heraus. Der Basler Bischof und zum Zeitpunkt der Abstimmung noch amtierende Präsident der Schweizer Bischofskonferenz machte im Gespräch mit Radio Vatikan eine tiefe Identitätskrise des Christentums aus: „Die ganze Gesellschaft in Europa ist derart im Umbruch, dass die Identität der europäischen Länder ins Flottieren geraten ist. Und jetzt hat man eine Bedrohung gesehen, hat Angst vor der Islamisierung, so dass man plötzlich die eigene Identität sichern will, die man aber in normalen Zeiten gar nicht so sehr lebt und zum Tragen bringt. Deshalb muss jetzt auch klar gesehen werden, zu unserer christlichen Identität auch in einem weltanschauungsneutralen Staat wie der Schweiz zurückfinden. Nur wenn wir eine positive Identität haben, können wir auf andere zugehen. Wenn wir nur eine negative Identität haben, steht jede Begegnung unter einem schlechten Vorzeichen.“5
Auch die „Schweizerische Evangelische Allianz“ (SEA), die das Minarettverbot im Gegensatz zur ihr eigentlich nahestehenden EDU ablehnt, hat sich, wie das Abstimmungsergebnis zeigt, ganz offensichtlich kein Gehör verschaffen können. Bereits im März 2009 hatte sie eine Stellungnahme gegen die Initiative verabschiedet und publiziert, dies obwohl oder gerade weil das Anliegen „auch unter Christen, die der evangelischen Allianz nahe stehen, ein Anlass zu heftigen Diskussionen“ sei.6 Dass die Initiative gerade im evangelikalen Spektrum Anklang fand, zeigt ein Blick nach Adelboden im Berner Oberland: Hier gehört ein Drittel der Bevölkerung einer Freikirche an, und rund 80 Prozent der Stimmenden sagten Ja zum Minarettverbot.7 Der Adelbodener EDU-Abgeordnete Erwin Burn kritisierte denn auch, dass sowohl die SEA als auch die evangelisch-reformierten Landeskirchen den Draht zur Basis verloren hätten.8
Wie es nun weitergehen soll, weiß derzeit niemand so recht. Die unterlegenen Gegner der Initiative hoffen mehr oder weniger deutlich ausgesprochen auf ein Machtwort des Schweizer Bundesgerichts bzw. aus Straßburg, also auf eine faktische Ungültigkeitserklärung des Minarettverbots. Rezepte, wie dem offenbar tief sitzenden Misstrauen dem Islam gegenüber begegnet werden könnte, haben jedoch auch sie nicht. Ebenso ist im Moment nicht absehbar, wie die Annahme des Minarettverbots die Beziehungen zur islamischen Welt beeinflussen wird. Der Zürcher Psychiater und Psychoanalytiker Berthold Rothschild, der in den Minaretten „die Blitzableiter unseres Ohnmachtsgefühls“ angesichts der Heimatlosigkeit in einer globalisierten Welt sieht, hat wohl Recht, wenn er meint, es sei in der Schweiz nun „viel Arbeit“ nötig, und zwar „untereinander, von Citoyen zu Citoyen und von Ansässigen zu Zugewanderten“.9
Christian Ruch, Chur/Schweiz
Anmerkungen
1 Siehe www.minarette.ch/pdf/F4_Plakat.pdf.
2 www.minarette.ch/darum_geht_es.html.
3 Ebd.
4 Eine Zusammenstellung bietet www.kath.ch/index.php?&na=12,0,312,0,d&all.
5 www.oecumene.radiovaticana.org/ted/Articolo.asp?c=338423.
6 Minarette verbieten hilft Kirchen und Christen nicht. Die Schweizerische Evangelische Allianz zur Debatte um ein Minarettverbot (sea Dokumentation, stellungnahme nr. 92), 2009, 3, abrufbar unter www.each.ch.
7 Siehe dazu einen Beitrag des Schweizer Fernsehens: Evangelische Bastion in Adelboden, Schweiz aktuell, 2.12.2009, abrufbar unter http://videoportal.sf.tv.
8 Siehe ebd.
9 Neue Zürcher Zeitung (Schweizer Ausgabe), 9.12.2009, 23.