Michael Nüchtern

Das neue Interesse an Kirche

Die gefühlte und die tatsächliche religiöse Situation

Es ist noch gar nicht so lange her, da gab es, was die religiöse Situation in Deutschland betrifft, eine Art Common sense, der sich in folgenden Behauptungen ausdrückte:

1. Sog Sekten, freie Gemeinden und esoterische Zirkel erfreuen sich stetig wachsender Beliebtheit;

2. den großen Kirchen laufen die Mitglieder weg;

3. in all dem zeigt sich die abnehmende Bedeutung großer, religiöser Institutionen und

4. ein quasi naturhafter Prozess religiöser Individualisierung und Pluralisierung im Sinne der Dominanz eines „Marktmodells der Religion“1 und des Religiösen.

Für diese Behauptungen lassen sich auch heute noch mühelos Belege nennen. Sie sind nicht einfach falsch. Die Zahl der Kirchenaustritte z. B. ist nach wie vor hoch. Moscheen, Kopftuch und die Buddhastatuen in den Wohnzimmern zeigen: Deutschland ist religiös pluraler geworden. Aber der Blick auf die religiöse Landschaft in Deutschland ist verzerrt, wenn man ausschließlich diese Phänomene wahrnimmt und die Augen und die religionssoziologischen Theorien vor anderen verschließt. Die jeweils gefühlte religiöse Situation muss immer von der tatsächlichen unterschieden werden, denn sie ist komplexer als die Suggestivkraft von Schlagworten und Theorien uns glauben macht.

Die erstaunliche Lebendigkeit eines öffentlichen Christentums

Die Weihe der wiederaufgebauten Dresdner Frauenkirche am 30. Oktober 2005 fand vom ZDF übertragen als großes öffentliches Ereignis in Anwesenheit der Spitzen des Staates statt. Unzählige Bürgerinnen und Bürger, wenig bekannte und prominente, hatten ca. Zweidrittel der Baukosten von etwa 180 Millionen Euro gespendet. Die aus Ruinen erstandene Frauenkirche ist nicht einfach als Versammlungsort einer religiösen Gemeinschaft zu interpretieren, sondern als Verdichtung vielfachen Sinns. Es ist aber nun nicht so, dass der vielfache Sinn dem Sinngehalt der christlichen Kirche völlig fremd und äußerlich bleibt. Im Gegenteil: Es ist der Kultort der Kirche, der zugleich als kulturelles Symbol für die Nation fungiert. Nicht der Konsumtempel oder das Bankgebäude haben diese Funktion! Dieser Vorgang ist den vielfach beschriebenen Vorgängen eines „unsichtbar Werdens der Religion“ im Sinne von Thomas Luckmann konträr entgegengesetzt.

Emphatisch oder staunend ist der Wiederaufbau der Frauenkirche auch in den Medien interpretiert worden. Norbert Bolz schreibt zum Beispiel im Oktoberheft von „Chrismon“: Wir brauchen „Kultorte als Schauplätze des Sinns. Welcher Ort wäre hierfür besser geeignet als eine große (!), schöne (!) Kirche? Der Kölner Dom und die Dresdner Frauenkirche sind urbane Ikonen, mit denen die Religion Zeichen setzt gegen die triviale Ikonographie des Konsumismus; gegen den Markt als anonymen Architekten unserer Städte“. (10/2005, 58) In der „Süddeutschen Zeitung“ (31.10./1.11 2005, 15) deutet Franz Walter das Ereignis als eines der Symptome für ein „postindividualistisches Zeitalter“, das auch der Weltjugendtag in Köln, die öffentliche Bewegung und die Medienresonanz um den Tod des alten und die Weihe des neuen Papstes anzeigen könnten. Ebenso programmatisch wie vorsichtig heißt es: Es „scheint das Jahr 2005 einen Gezeitenwechsel im Verhältnis von Gesellschaft und Kirche zu markieren“.

Die genannten Events von Rom, Köln und Dresden sind nun nicht solche Gipfelerlebnisse, denen keine Veränderungen in der weiten Ebene des Alltäglichen in der Kirche entsprechen. Das Institut für Demoskopie Allensbach verzeichnet zu seiner Frage an die deutsche Bevölkerung ab 16 „Wie gut passt die Kirche in die heutige Zeit?“ auf einer Skala von 1 (passt überhaupt nicht) bis 10 (passt sehr gut) folgende Werte für die Evangelische Kirche:

1974: 5,4,

1992: 4,5,

2005: 5,6 (kontinuierlich ansteigend).

Die Umfrage „Perspektive – Deutschland“ von McKinsey berichtet, dass die Prozentzahl der Befragten zwischen 16 und 69 Jahren, die der Evangelischen Kirche „kein Vertrauen“ entgegenbringen, zwischen 2002 und 2004 von 15 Prozent auf 12 Prozent abgenommen habe. Im selben Zeitraum hat auch der Prozentsatz derjenigen, die einen Verbesserungsbedarf in der Evangelischen Kirche sehen, deutlich zugenommen, was man zusammengenommen durchaus als Abnahme einer Gleichgültigkeit gegenüber der Kirche deuten muss.

Kirche im Erbe

Auch die neueste Kirchenmitgliedschaftsstudie der EKD kann belegen, dass es trotz und neben aller Kirchendistanz, Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen eine im Grunde erstaunliche Konstanz der Kirchenbindung der Evangelischen gibt, die sich in der gestiegenen Taufbereitschaft seit 1972 zeigt. Dies passt nicht zu Theorien einer fortschreitenden Entchristlichung und einer absolutgesetzten Überzeugung vom „religiösen Supermarkt“. Diese übersehen das oft verborgene, aber doch immer wieder weckbare christliche Erbe.

Denn ist es wirklich so, dass die religiöse Landschaft durch den Begriff „Markt der Religionen“ zureichend beschrieben werden kann? Ich meine nein. Heute noch weniger als vor zehn Jahren flanieren einfach tatsächlich oder potentiell religiös Kauflustige über den religiösen Marktplatz und suchen sich ihre Angebote. In der religiösen Landschaft in Deutschland haben New Age, fernöstliche Spiritualität und Esoterik ihren Höhepunkt überschritten. Hingegen gibt es Anzeichen für eine weiterhin bestehende oder vielleicht sogar neue – irgendwie traditionale – kulturelle Christlichkeit, wie man es (14./15./16.5.2005) zu Pfingsten (!!) in einem Titel der „Süddeutschen Zeitung“ lesen konnte: „Kirchenaustritte, leere Gottesdienste? Trotzdem und mehr denn je gilt: Du wirst christlich bleiben, liebes Abendland!“ Diese Wirklichkeit einer unbestimmten kulturellen Christlichkeit haben die Theoretiker des religiösen Marktes übersehen. Religion muss nicht nur stets neu erworben werden, es gibt sie offenbar auch weiterhin im Erbe.

Die Evangelische Landeskirche in Baden hat 2002 beim SWI der EKD eine wissenschaftliche Untersuchung zu den Motiven des Kircheneintritts in Auftrag gegeben, die inzwischen publiziert ist2. Fast 1.100 Personen, die in den vergangenen Jahren in die Landeskirche eingetreten sind, wurden standardisiert telefonisch befragt.

Die Untersuchung zeigt zunächst ein deutlich unterschiedliches Profil bei den Übergetretenen einerseits und den Wiedereingetretenen sowie den Neueintritten andererseits. Die Eintretenden waren im Schnitt 50-jährig. Für sie spielen offensichtlich kaum äußere Veranlassungen für den Kircheneintritt eine Rolle. Sie haben nur zu einem geringen Teil vor ihrem Eintritt Gespräche mit anderen geführt, die sie als bedeutsam für den Entschluss zum Eintritt erachten. Ein innerer Prozess hat zum Wiedereintritt in die Kirche geführt, nicht die Begegnung mit irgendeinem evangelistischen Angebot. Der Grund, den die meisten angaben, warum sie wieder in die Kirche eintreten wollten, war das Motiv der Zugehörigkeit: Sie traten in die Kirche ein, weil sie wieder dazugehören wollten! Der persönliche Lebensbogen und dessen Verarbeitung gaben den Ausschlag zum Wiedereintritt in die Kirche. Der Kircheneintritt ist das Ergebnis einer biografischen Entwicklung, einer Innengeschichte.

Immerhin sind es zwischen 500.000 und 600.000 Menschen, die in den letzten zehn Jahren in eine der Kirchen der EKD eingetreten sind. Das sind weit mehr als die größten Freikirchen oder Sondergemeinschaften an Mitgliedern haben. Theorien der Individualisierung und Pluralisierung des Religiösen können diese Entscheidungen zum Kircheneintritt nur begrenzt erklären. Die Vorstellung eines Tauschprozesses gilt nur höchst modifiziert: Lediglich bei den im Zusammenhang einer sog. Amtshandlung Eintretenden bzw. Übertretenden kann man überlegen, ob hier ein Tauschverhalten bestimmend ist. Die Eingetretenen verbinden mit Kirche bestimmte von ihnen geteilte „Werte“. Sie bekennen sich zu einem Erbe, sie wollen nicht etwas erwerben. Die Kirche stellt sich für die Eintretenden als ein vielfach mit Sinn gefüllter Raum dar, zu dem sie eine starke Zugehörigkeit empfinden – ohne allerdings in gleicher Weise die Nötigung zu erleben, sich aktiv am Gemeindeleben zu beteiligen.

Schwindende Deutungskraft der Marktmetapher

Wenn sich die Metapher vom Markt der Religionen immer weniger als ausschließliche Deutung für die religiöse Situation eignet, muss man andere Begrifflichkeiten wählen, um die Wirklichkeit der religiösen Landschaft in Deutschland zutreffend zu Gesicht zu bekommen. Man hat, um den Platz des Christentums in der Moderne zu bestimmen, von seiner dreifachen Gestalt gesprochen.3 Christliches erscheint als

• kirchliches Christentum im Leben der Gemeinden und im Handeln der kirchlichen Institution. Es lebt darüber hinaus in anderer Form als eine Art

• öffentliches Christentum in vielfältigen kulturellen Zusammenhängen: von der Präsenz christlichen Traditionsgutes in der Sprache, in der Musik, in der bildenden Kunst und im Stadtbild über die Geltung bestimmter Werte und den staatlichen Schutz christlicher Feiertage bis hin zu öffentlichen Erwartungen an die Kirchen, z. B. in Situationen kollektiven Gedenkens mit religiösen Handlungsformen zu dienen. Christliches begegnet schließlich als

• individualisiertes Christentum, das in den unterschiedlichsten Gestalten privater Frömmigkeit oder Weltanschauung mit zumindest Fermenten christlicher Traditionen anzutreffen ist.

Die Begehung des Weihnachtsfestes kann als Beispiel dafür dienen, wie Christliches in der Kirche, in der Öffentlichkeit und in der Privatsphäre höchst different, aber doch auch nicht völlig beziehungslos voneinander wirksam ist.

Die Theorie der dreifachen Gestalt des Christentums in der Moderne mag im Detail umstritten sein. Sie darf nicht dazu missbraucht werden, die Gegenwart religiös zu verklären. Aber sie kann in zweierlei Weise zumindest als Hypothese nützlich sein:

– Sie kann zunächst Veränderungen der religiösen Landschaft anschaulich machen. Viele Beispiele lassen sich dafür bringen, dass in den letzten Jahrzehnten die Macht des öffentlichen Christentums schwächer geworden, aber gerade in letzter Zeit auch nicht völlig verschwunden, ja sogar belebt scheint. Die Sinnenfälligkeit eines privaten Christentums, das sich in häuslicher Andacht und christlicher Weltverantwortung zeigt, ist undeutlicher geworden und hat sich möglicherweise mehr mit religiösen Elementen aus anderen Kulturkreisen vermischt. Aber verschwunden ist diese Form keineswegs.

– Die Theorie der dreifachen Gestalt des Christentums kann zweitens eine Erklärungshypothese anbieten, warum bestimmte kirchliche Handlungsformen mehr Echo haben und lebendiger sind als andere. Die Theorie der dreifachen Gestalt des Christentums in der Moderne gibt eine Deutung für die weiter vorhandene oder sogar gestiegene Akzeptanz bestimmter kirchlicher Handlungsformen. Es sind solche, die in allen Gestalten des Christlichen lebendig und mit diesen verknüpft sind. Ich nenne beispielhaft die Kasualien, die Kirchenmusik und die Kirchenräume selbst, die im Protestantismus in den letzten zehn Jahren eine erstaunliche Renaissance der Wertschätzung und der Beachtung erlebt haben. Sie sind Kulturgut, offen für Formen privater Religiosität und zugleich Ausdruck kirchlichen Glaubenszeugnisses.

Das neue Interesse an Kirche, das Ereignisse des Jahres 2005 belegen können, beruht darauf, dass Kirche biografisch immer weniger als etwas wahrgenommen wird, von dem man sich „befreien“ muss. Dagegen scheint sie als Zeichen von kultureller Identität und Beheimatung genauso wahrgenommen zu werden wie als Verdichtung von Werten, dass das Leben mehr ist als Konsum und Entertainment.


Michael Nüchtern, Karlsruhe


Anmerkungen

1 Vgl. z.B. Hubert Knobloch, Die Verflüchtigung der Religion ins Religiöse, Vorwort zu Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a. M. 1993, 21; Hartmut Zinser, Der Markt der Religionen, München 1997.

2 Rainer Volz, Massenhaft unbekannt – Kircheneintritte, Kurzfassung Michael Nüchtern, hg. Ev. Oberkirchenrat Karlsruhe 2005.

3 Dietrich Rössler, Grundriss der praktischen Theologie, Berlin 21994, 90ff.