Franz Winter

Das Neue Testament, der Buddhismus und der „arische Mythos“

Die angebliche Abhängigkeit der neutestamentlichen Schriften vom Buddhismus ist seit dem 19. Jahrhundert ein kontrovers diskutierter Forschungsbereich. Zwar hat diese Diskussion ihren Höhepunkt längst überschritten, jedoch finden sich bis heute immer wieder Ansätze einer Wiederaufnahme. Im Rahmen dieses Beitrags soll eine der jüngsten „Beeinflussungstheorien“, die mit der Person des Indologen und Buddhismusforschers Christian Lindtner in Zusammenhang steht, vorgestellt und besprochen werden. Dabei eröffnet sich ein Lehrbeispiel für die Nähe zu Verschwörungstheorien und die Verkettung dieser Theoriebildungen mit einer Reihe von „Beweisen“, die wiederum zu „besonderen“ Geschichtskonstruktionen führen können. Im Falle Christian Lindtners ist insbesondere sein Engagement im Kontext des zeitgenössischen politischen Revisionismus anzusprechen, das in seinem Interesse für die Rekonstruktion einer besonderen Stellung des „arischen“ Volkes gründet. Dies hat wiederum eine bestimmte weltanschauliche Verbindung mit der vorgestellten „Beeinflussungs-These“, wie auszuführen sein wird. Zudem sollen in diesem Beitrag auch die Verwendung bestimmter Argumentationsfiguren aus diesem Gegenstandsbereich in der modernen Populäresoterik und – demgegenüber – moderne wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzungen mit der Thematik kurz vorgestellt werden.

Die Frage nach der Abhängigkeit der frühchristlichen Schriften vom Buddhismus ist ein Themenbereich, der mittlerweile schon ganze Bibliotheken füllen könnte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Teile des neutestamentlichen Schrifttums oder gar das ganze Corpus massiv unter buddhistischem „Einfluss“ entstanden hätten.1 Diese Diskussion war zu einem großen Teil von bestimmten Interessen geleitet und hatte einerseits im romantischen Ursprungsdenken und der Suche nach dem „einen“ Grund der Religionen ihren Hintergrund. Andererseits kann darin auch der Versuch einer Anbindung der westlichen religiösen Traditionen an die östliche Tradition gesehen werden, die als die eigentlich überlegene zu gelten habe. Diese Annahme verdankte sich u. a. dem massiven weltanschaulichen Impuls der Theosophie. Zwar wurde die Diskussion schon Anfang des 20. Jahrhunderts durch einige substantielle Bestandsaufnahmen beruhigt2, jedoch gibt es bis heute Versuche einer Wiederaufnahme, wie hier gezeigt werden soll.

Die Anbindung des Christentums an den Buddhismus in der modernen Populäresoterik

Versatzstücke dieser Diskussion sind gern verwendete Argumentationsfiguren in der modernen Populäresoterik. Die Anbindung des Christentums an den Buddhismus gilt dabei als „Klassiker“ eines Geheimwissens, das der Menschheit von einer verdogmatisierten Kirche durch allbekannte Täuschungsmanöver vorenthalten worden sei und das nun – endlich – allgemein zugänglich gemacht werden könnte. Die einschlägigen Veröffentlichungen erweisen sich dabei als Jagd nach Indizien, die stufenweise das Bild einer riesenhaften Verschwörung ergeben, die den buddhistischen Ursprung des Christentums verdeckt habe. Und sollten die Indizien nicht genügend Überzeugungskraft haben, so könnten gegebenenfalls auch Texte nachgereicht werden.

Ein bis heute immer wieder zitierter „Beweis“ für den „asiatischen“ Hintergrund des Neuen Testamentes ist das Buch La vie inconnue de Jésus-Christ (Das unbekannte Leben Jesu) des russischen Journalisten Nicolai Notovitch, das Ende des 19. Jahrhunderts in mehreren Auflagen und bald darauf in vielen Übersetzungen erschien.3 Darin wird unter Wiedergabe eines vermeintlichen Manuskriptfundes behauptet, dass Jesus sich in seiner Jugendzeit in Indien aufgehalten habe, wo er auch den Buddhismus kennen gelernt haben soll. Dieses Buch erlebte in den 80er Jahren ein Revival durch Veröffentlichungen der Journalisten Holger Kersten und Elmar R. Gruber.4 Beide präsentierten diese Fälschung als Beweis für einen Indienaufenthalt des jungen Jesus (samt Ausbildung durch buddhistische Mönche) und kombinierten diese These mit dem angeblichen Nachkreuzigungsaufenthalt Jesu in Kaschmir. Die Legende, dass Jesus in Kaschmir starb, geht wiederum auf den Begründer der islamischen Ahmadiyya-Bewegung, (Mīrza) Ghulam Ahmad (1835-1908), zurück.5 Die Beweisführung beruht in erster Linie auf der Identifikation Jesu mit der legendarischen islamischen Gestalt eines „Yuz Asaf“. Hinter dessen Lebensbeschreibung steht aber nichts anderes als eine aus verschiedenen Elementen und Traditionen zusammengesetzte und natürlich im Laufe der Zeit massiv veränderte Buddha-Biographie. Damit scheint es fast eine Ironie der Religionsgeschichte zu sein, dass im Hintergrund der von (Mīrza) Ghulam Ahmad mit Jesus identifizierten Gestalt der Buddha steht.6

In Europa wurde diese These seit den 70er Jahren insbesondere durch den Journalisten Andreas Faber-Kaiser und sein Buch Jesus lebte und starb in Kaschmir7 bekannt gemacht. In jüngster Zeit erfuhr sie eine Wiederbelebung durch die Veröffentlichungen der amerikanischen Journalistin Suzanne Olsson, die zudem sogar ihre eigene Genealogie auf Jesus zurückführt.8 Die relevanten Veröffentlichungen, insbesondere das Buch Jesus in Kashmir. The Lost Tomb, liegen bislang in Englisch vor; es ist zu vermuten, dass bald auch deutsche Übersetzungen erscheinen werden.

Zwei jüngere Ansätze einer wissenschaftlichen Beweisführung

Von der Übernahme und dem weiteren Ausbau bestimmter Argumentationsfiguren im Kontext der modernen Populäresoterik müssen diejenigen Versuche unterschieden werden, die – basierend auf einer historisch-kritischen Methodik – eine Beweisführung in diesen Fragestellungen anstreben. Zwei jüngere Beispiele sollen angeführt werden. Der kanadische Religionswissenschafter Roy C. Amore behauptete in seiner 1978 erschienenen Monographie Two Masters. One Message einen massiven buddhistischen Einfluss auf die so genannte Spruchquelle Q. Dies wird auch insbesondere anhand des 1893 aufgefundenen Gandhārī-Dhammapada, eines frühen buddhistischen Textes aus dem nordwestindischen/nordostiranischen Raum (frühestes Verbreitungsgebiet des Buddhismus in den Westen hinein) zu beweisen versucht. Zwar wurde dieser Ansatz innerhalb der Forschung nicht akzeptiert,9 er ist jedoch ein interessantes Beispiel für die Auseinandersetzung.

Der wichtigste Autor auf diesem Gebiet ist zweifellos der britische Indologe und Neutestamentler John Duncan M. Derrett, der seit Jahrzehnten – neben seinen zahlreichen und substantiellen Publikationen zum indischen Recht und zum neutestamentlichen Schrifttum – einschlägige Arbeiten veröffentlicht. Er hat in einer Reihe von Aufsätzen und Monographien, besonders in seinem jüngsten Buch The Bible and the Buddhists (Sardini 2000), die Präsenz von Analogien zwischen buddhistischen und frühchristlichen Texten herausgearbeitet, die er mit der ihm eigenen philologischen Akribie sammelt. Dabei hat man durchgehend den Eindruck, dass es ihm sehr stark darum geht, die Parallelen aufzuweisen, um damit sozusagen die Fragen zu stellen, nicht so sehr um definitive Antworten bezüglich der „Beeinflussung“ zu geben. Doch bietet er eine These an, die man als die Summa seines Interesses charakterisieren könnte: Seiner Meinung nach haben sich Buddhisten und Christen in derselben („Missions“-) Situation befunden, so dass es zu einer wechselseitigen Befruchtung kommen musste.10 Seine Arbeiten sind insgesamt sicher die methodisch wertvollsten und Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung.

Die Theorie Christian Lindtners

Die exponierteste Theoriebildung der letzten Jahre stellt jedoch zweifellos die mit der Person des Dänen Christian Lindtner (geb. 1949) verbundene „Christian Lindtner Theory of the Buddhist Origins of the New Testament Gospels“ (CLT) dar. Sie ist insofern ein interessanter Fall, als Christian Lindtner ein ausgewiesener, philologisch versierter Buddhismuskenner ist, dessen Arbeiten zum Philosophen Nagarjuna beispielsweise zu Standardreferenzwerken in dieser Disziplin zählen. Deshalb erwartet man zunächst eine wissenschaftlich anregende Auseinandersetzung mit der Thematik, wie sie etwa der schon erwähnte John Duncan M. Derrett vorführt. Die Überraschung ist umso größer: Christian Lindtner bietet einen Radikalansatz, den er auf der Website www.jesusisbuddha.com darstellt. Diese Internetseite, auf der Lindtner neben eigenen Artikeln Kommentare und Anmerkungen anderer Wissenschafter wiedergibt, ist eine englische Summa seines Ansatzes. Die umfangreichste monographische Veröffentlichung Lindtners stellt das schwedische Buch Hemligheten om Kristus. Nya testamentet är Buddhas testamente dar (Geheimnisse um Christus. Das Neue Testament ist Buddhas Testament).11

Was meint nun Christian Lindtner beweisen zu können? Auf der Eingangsseite der genannten Homepage bringt er den Ansatz auf den Punkt: „Die christlichen Evangelien sind Raubkopien der buddhistischen Evangelien. Gottes Wort ist daher ursprünglich Buddhas Wort.“12 Er geht also nicht nur von „Parallelen” oder fallweise zu diskutierenden Analogien aus, sondern von einer wortwörtlichen Übersetzung des gesamten Textes. Dabei ist Lindtner auch daran gelegen, seinem Konstrukt historische Glaubwürdigkeit zu geben. Seiner Meinung nach haben die Funde buddhistischer Texte im nordwestlichen Indien und im nordöstlichen Iran (Gegenden, die zu den frühesten Ausbreitungsgebieten des jungen Buddhismus zählen) die Möglichkeit eröffnet, die Wirkung dieser Texte auf den Westen zu beweisen.

Im Zentrum seiner Ausführungen steht die These, dass den neutestamentlichen Texten und insbesondere der so genannten Spruchquelle Q zwei direkt zu bestimmende buddhistische Quellen zugrunde liegen würden: das Mūlasarvāstivādavinaya, d.h. der Kanon der buddhistischen Mönchsordnung in der Fassung der buddhistischen Mūlasarvāstivāda-Schule, und das „Lotussutra“, einer der bekanntesten buddhistischen Mahāyāna-Texte überhaupt.13 Dieser Behauptung folgt eine „Beweiskette“ für die angeblich wörtlichen Übersetzungen, deren Methodik jedoch nicht durchschaubar ist: Je nach Bedarf wird philologisch-linguistisch, kulturgeschichtlich oder auch unter ausgiebiger Anwendung der Technik der Gematrie (d.h. des Umgangs mit Zahlenwerten von Worten und deren wechselweisen Entsprechungen) ein Bezug zwischen den jeweiligen „Übersetzungs“-Stücken behauptet. Dazu kommen Etymologisierungen, deren Argumentationsgänge nicht nachvollziehbar sind. So wird – um nur ein Beispiel zu nennen – der Titel christós u.a. mit dem altindischen Wort kshatriya (Krieger) in Verbindung gebracht, zumal gilt: „Solch ein kshatriya ist auch ein Gesalbter. So gibt das Griechische nicht nur den Klang, sondern auch den Sinn des Sanskrit ganz genau wieder“.14 Ein weiteres Beispiel soll den Umgang mit der Gematrie belegen. So kommt Lindtner zu dem Schluss, dass der berühmte Satz in Offb 13,18 („Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist 666“) eine „direkte Imitation des Titels der Hauptquelle des Neuen Testaments“15 sei; der buddhistische Text Saddharmapundarīkasūtra. „Pundarīka” (Sanskrit für „Lotus“) ergebe zahlenwertmäßig nämlich die Zahl 666, womit ein weiteres klassisches Rätsel der neutestamentlichen Forschung gelöst wäre.

Das Ergebnis seiner ausführlichen Nachweise ist eindeutig: Die neutestamentlichen Texte stellen im Endeffekt den Ausfluss buddhistischer Verbreitungsbemühungen in Palästina dar; Jesus ist keine historische Persönlichkeit, sondern eine aus buddhistischen Quellen gerierte mythische Figur und völlig ahistorisch zu verstehen.16 Insgesamt erscheinen der Ansatz und die Beweisführung durchgehend als äußerst bizarr und nicht nachvollziehbar. In einem Kommentar des Cambridger Indologen Burkhard Scherer zur „Methode” Lindtners ist zusammenfassend von „Unsinn” die Rede. Dabei kommt auch zur Sprache, dass Lindtner seine Interpretationen je nach Bedarf anwendet, sich einmal auf die Lautlehre, ein anderes Mal auf den angeblichen Wandel von Konsonanten, dann wieder auf andere Methoden beruft. Es sei nichts anderes als eine ständige, verkrampft wirkende „Hinein-Interpretation“.17

Eines der auffälligsten Züge der Ausführungen Lindtners ist der exzessive Gebrauch der Technik der Gematrie. Diese sehr alte Tradition hat ihre bekannteste Ausprägung in der Tradition der jüdischen Kabbala, die wiederum auf die europäische Religionsgeschichte einen bedeutenden Einfluss ausübte. In ihrer Transformation als „christliche Kabbala“ kann sie sogar als konstitutiv für die Entstehung bestimmter Argumentationsfiguren der westlichen Esoterik bezeichnet werden.18 Deren Übernahme führte mittelbar zur Herausbildung einer Tradition der Hermetischen Kabbalah. Bedeutender Vermittler war der Mitbegründer des Hermetic Order of the Golden Dawn, William Wynn Westcott (1848-1925), der mit einschlägigen Veröffentlichungen kabbalistische Ideen weiter ausbaute und verbreitete.19 Die unterschiedlichen Traditionen waren für okkulte Bewegungen wie den Hermetic Order of the Golden Dawn, die Thelema Society, die Builders of the Adytum, die Rosenkreuzer, neopagane Bewegungen usw. konstitutiv. Sie alle bedienen sich mehr oder weniger intensiv aus dem riesigen Fundus der „Zahlenmystik“. Mit dieser Vorprägung eignet sich natürlich die Gematrie hervorragend für die Aufdeckung diverser vermeintlicher Unwahrheiten.

Ein Strickwerk aus unzugänglichen Entdeckungen und Bezugnahmen ermöglicht so die Konstruktion einer phantastischen Neuorientierung im Hinblick auf die neutestamentlichen Schriften. In Wirklichkeit sollen also Buddhisten hinter den christlichen Evangelien stehen. Doch ergeben sich mit dieser Annahme bedeutende Konsequenzen, auf die nicht eingegangen wird. Heißt das nun, dass das Christentum „buddhistisch“ ist? Wenn man die zentralen Inhalte der beiden Religionen gegenüberstellt, bleibt das mehr als fraglich. Dann hätten also die vermeintlichen buddhistischen Missionare ihr eigentliches Ziel verfehlt und das Ergebnis, nämlich das Christentum, nicht vorhersehen können? Schon diese Fragen verweisen auf die große Problematik hinter Lindtners Ansatz. Und eine nähere Betrachtung des weltanschaulichen Umfelds, innerhalb dessen diese Theoriebildung eingeordnet ist, verweist zudem auf eine eindeutige Grundierung, wie nun auszuführen ist.

Im Netz der Verschwörungstheorien

Christian Lindtner gibt ein gutes Beispiel für einen Autor ab, der sich in dem Bestreben, „Neues“ aufzudecken, auch in anderen Bereichen für „verdeckte“ Wahrheiten engagiert. Die Infragestellung der Traditionen und der Nachweis eines „anderen“ Hintergrunds einer bislang allgemein anerkannten Wahrheit führen unter Umständen zu einer völligen Neuorientierung der Weltsicht. Wichtig ist bei Lindtner die explizite Vernetzung im Kontext einer zuweilen verschwörungstheoretisch inspirierten Sicht der Entwicklung des Christentums, die von der grundsätzlichen Ahistorizität Jesu ausgeht. Damit verbindet sich Lindtner beispielsweise mit dem Ansinnen des Autors Timothy Freke, der auf diesem Feld in jüngster Zeit ausführliche englische Publikationen vorlegte.20

Bei Lindtner ist zudem auch auf sein politisches Engagement im Kontext des Geschichtsrevisionismus hinzuweisen, das ihm bereits einige Schelte und massive Probleme in seiner universitären Karriere eingebracht hat. Großes mediales Aufsehen erregte er 1998 mit einem Artikel in der führenden dänischen Tageszeitung Berlingske Tidende unter dem Titel Holocaust i nyt lys („Der Holocaust in neuem Licht“).21 Darin finden sich einschlägige Ansichten über Judenverfolgungen zur Zeit des Nationalsozialismus und Verweise auf klassische revisionistische Literatur.22 Die darauf folgende Mediendebatte provozierte Lindtner zu weiteren Stellungnahmen.23

Nun kann dieses eindeutig revisionistische Anti-Holocaust-Engagement auch mit den vorgestellten Argumentationsgängen im Kontext der Beeinflussungstheorien in Verbindung gebracht werden. Dabei ist der größere weltanschauliche Rahmen in der Rekonstruktion des so genannten „arischen Mythos“ zu sehen, d. h. des Gedankens einer besonderen Auszeichnung der als „arisch“ bezeichneten Völker durch ihr Verhalten und ihre „Tugenden“.24 In einem Pamphlet mit dem Titel „Aryan Humanism“ rekonstruiert Lindtner die für die arischen Völker zu konstatierenden Besonderheiten (hohe Wertschätzung der „Tugend“, Weisheit als Ideal usw.).25

Deutlich wird auch, dass die These von der „Beeinflussung“ des Christentums durch den Buddhismus letztendlich auch hier begründet liegt. Dahinter steht folgender Gedankengang: Der Buddhismus ist eine in Indien entstandene „arische“ Religion und damit etwas besonders Gutes. Alles Gute im Christentum verdankt sich – nach der „Beeinflussungsthese“ – dem indischen und griechischen, also arischen Einfluss, und nicht den semitischen Wurzeln. Das „arische” Ideal von Religion ist darin zu sehen, dass sich „Religion” und „Wissenschaft” nicht widersprechen. Demgegenüber sei dies gerade in den „Verirrungen“ der semitischen Religionen nicht gegeben, die somit „schuld“ am „Aberglaube“-Anteil der Religionen seien. Mit so gearteten Argumentationsfiguren verankert sich Lindtner in einer schon lange geführten Diskussion um den eigentlich „arischen“ Charakter des Christentums. Dabei stand im Übrigen immer wieder auch die Person Jesu selbst im Mittelpunkt der Überlegungen.26 Bestimmte geistesgeschichtliche Voraussetzungen insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts führten in diesem Punkt zu einer Verschärfung der Positionierung, wobei als wichtigster Ahnvater der „Arisierung“ Jesu der Orientalist Paul de Lagarde (Pseudonym von Paul Bötticher, 1827-1891) angesehen werden kann.27

Vor diesem Hintergrund eines „arischen” Mythos muss nun auch die revisionistische Haltung Lindtners betrachtet werden. Dahinter steht folgende Überlegung: Der Holocaust steht im völligen Widerspruch zur These vom „arischen“ Mythos, weil die Ermordung unzähliger Juden schwerlich mit den angesprochenen besonderen „Tugenden“ der Arier in Einklang zu bringen ist. Deshalb ist nur ein Schluss zulässig: Den Holocaust hat es in Wirklichkeit nicht gegeben.28 Somit schließt sich der Argumentationskreis und schafft ein hermetisch geschlossenes Weltbild, in dem der „arische Mythos“ weiter besteht: Alles Gute ist arisch – wie eben im Zusammenhang mit dem Christentum seine „buddhistischen“ Wurzeln; der Holocaust ist eine Lüge, weil er sich mit den „arischen“ Tugenden nicht verträgt. Lindtners Geschichtssicht erscheint wie ein weiteres Glied in einer Verkettung vieler neuer Einsichten. Die Theorie, dass die christlichen Evangelien in Wahrheit buddhistisch seien, ist so nur ein Teil einer umfassenden Argumentationskette.


Franz Winter, Wien


Anmerkungen

1 Eine neuere Zusammenfassung dieser Theoriebildungen findet sich bei Perry Schmidt-Leukel, „Den Löwen brüllen hören“. Zur Hermeneutik eines christlichen Verständnisses der buddhistischen Heilsbotschaft (BÖT 23), Paderborn u.a. 1992, bes. 20-30.

2 V. a. Richard Garbe, Indien und das Christentum. Eine Untersuchung religionsgeschichtlicher Zusammenhänge, Tübingen 1914.

3 Vgl. dazu Norbert Klatt, Das Buch „Die Lücke im Leben Jesu“. Die Fälschung einer Quelle durch Nikolaus Notovitch, in: MD 11/1984, 346–348; ders., Jesus in Indien, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 39, 1987, 267-272; ders., Lebte Jesus in Indien? Eine religionsgeschichtliche Klärung, Göttingen 1988. Mit Notovitch hat sich auch ausführlich der Buddhologe Günther Grönbold auseinandergesetzt: Jesus in Indien. Das Ende einer Legende, München 1985.

4 Vgl. z.B. Holger Kersten, Jesus lebte in Indien. Sein geheimes Leben vor und nach der Kreuzigung, München 1983; Elmar R. Gruber / Holger Kersten, Jesus starb nicht am Kreuz. Die Botschaft des Turiner Grabtuchs, München 1998.

5 Er propagierte diese These in seiner Schrift „Masih Hindustan Mein“ (so das Urdu-Original; das Buch ist in seiner englischen Übersetzung „Jesus in India. Being an Account of Jesus’ Escape from Death on the Cross and of his Journey to India“ weit verbreitet).

6 Vgl. dazu Norbert Klatt, Wer ist Yuz Asaf?, in: MD 10/1984, 315f; ders., Zum „Jesus-Grab“ in Srinagar, in: MD 3/1985, 83f.

7 Es war zuerst auf Spanisch erschienen (Barcelona 1976) und bald in viele Sprachen übersetzt worden.

8 Ausführliche Informationen dazu bietet ihre Homepage: www.jesus-kashmir-tomb.com/.

9 Insgesamt zu diesem Ansatz vgl. die ausführliche Kritik von Perry Schmidt-Leukel, a.a.O., 24-29.

10 So deutlich bei John Duncan M. Derrett, The Buddhist Dimension of John, Numen 51, 2004, 182-210, 182.

11 Das dänische Original ist offensichtlich nicht erschienen.

12 Aus dem Englischen übersetzt.

13 Christian Lindtner, The Christian Lindtner Theory (CLT) of the Buddhist Origins of the New Testament Gospels. A New Introduction to the Body of Tathāgatas alias The New Testament, www.jesusisbuddha.com/CLT.html, Abschnitt „CLT“.

14 Zitat (aus dem Englischen übersetzt) aus Christian Lindtner, Q = MSV + SDP and other Buddhist Texts, www.jesusisbuddha.com/Q.html. Die Angleichung der Worte christos und kshatriya funktioniert allerdings nur unter Einbeziehung und dementsprechender Uminterpretation des griechischen Artikels ho.

15 Zitat (aus dem Englischen übersetzt) aus dem Artikel „A New Buddhist-Christian Parable”, der ursprünglich in der Zeitschrift The Revisionist 2 (1), 2004, 12-24, erschien. Eine Online-Fassung findet sich auf: vho.org/tr/2004/1/Lindtner12-24.html.

16 Vgl. die Zusammenfassung der Position Lindtners durch den Neutestamentler Robert H. Countess, The Christian Lindtner Theory [CLT] of the Buddhist Origins of the New Testament Gospels and Its Basic Problems from My Standpoint in NT Greek Text Studies, www.jesusisbuddha.com/countess.html.

17 Burkhard Scherer, The Secrets about Christian Lindtner – A Preliminary Response to the CLT, www.jesusisbuddha.com/scherer.html.

18 Vgl. Wouter J. Hanegraaff, New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, New York 1998, 395f.

20 V. a. sein Buch: Numbers: Their Occult Power and Mystic Virtue, 1890; vgl. die Kurzangaben bei Gordon Melton, Encyclopedia of Occultism and Parapsychology 2, 2001, 1662.

21 Vgl. v.a. die Bücher (beide gemeinsam mit Peter Gandy): The Jesus Mysteries: Was the „Original Jesus“ a Pagan God? (1999); Jesus and the Lost Goddess: The Secret Teachings of the Original Christians (2002). Timothy Freke sieht sich selbst in einer „gnostischen” Tradition, die er für die Moderne wiederzubeleben trachtet. Vgl. www.jesusneverexisted.com / und www.radikalkritik.de /, die ähnliche Thesen bezüglich der Ahistorizität Jesu vorbringen.

22 Eine deutsche Übersetzung und Dokumentation dieses Vorfalls findet sich in den (einschlägigen) Vierteljahresheften für freie Geschichtsforschung 4/1998, 291-298 (vho.org/VffG/1998/4/Lindtner4.html).

23 Der Tenor des Artikels ist, dass die Judenverfolgung kontrastiert werden müsse mit dem Umgang der Nationalsozialisten mit dem eigenen Volk, das ebenfalls gelitten hätte (Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung 4/1998, 291f). Zudem hätte die Deportation von Juden schon eine längere Tradition in deutschen Plänen (292); die Existenz von Gaskammern beispielsweise in Birkenau sei zu hinterfragen (292f); gängige Lehrmeinungen und „Verzerrungen“ seien zu korrigieren (4/1998, 293).

24 Insbesondere in den Viertelsjahresheften für freie Geschichtsforschung oder in dem Publikationsorgan The Revisionist.

25 Die nachfolgenden Ausführungen verdanken sich Impulsen eines Kontaktes mit Prof. Perry Schmidt-Leukel, Glasgow. Ihm sei herzlich für die Hinweise gedankt.

26 Der Text ist im Internet frei zugänglich: www.patriot.dk/aryan.html.

27 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Wolfgang Fenske, Wie Jesus zum Arier wurde. Auswirkungen der Entjudaisierung Christi im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Darmstadt 2005.

28 Ebd., bes. 81-83.

29 Diese Angaben beziehen sich auf den schon zitierten Text „Aryan Humanism“.