Das unterscheidend Christliche und der religiöse Pluralismus
Verbunden im gemeinsamen Glauben?
Alle Wege führen nach Rom – oder nach Wittenberg – oder nach Genf: Christen haben Erfahrung mit dem religiösen Pluralismus, mit dem christlichen Pluralismus jedenfalls. Aber zumindest für Katholiken hat das über lange Jahrhunderte nicht bedeutet, dass sie damit keine Schwierigkeiten gehabt hätten. Wenn andere andere christliche Wege gehen, führen die zum gleichen Ziel – oder letztlich doch in die Irre? Sind diese Wege religiös gleich viel wert? Sind es in diesem Sinne Heilswege? Sind die anderen Weggemeinschaften Kirche im Sinne der Kirche Jesu Christi, die alle Christen im Glaubensbekenntnis als die im Geist Jesu Christi Versammelten und ihm authentisch Nachfolgenden nennen?
Die klassische Antwort war eindeutig: außerhalb der Kirche kein Heil. Der berüchtigte Papst Bonifaz VIII. fügte in seiner Bulle „Unam sanctam“ ebenso eindeutig hinzu, niemand könne zum Heil kommen, der sich nicht dem römischen Papst unterwerfe. So war man in der katholischen Theologie tatsächlich lange der Auffassung, Evangelische könnten – wenn es mit theologisch rechten Dingen zugehe – nicht in den Himmel kommen, es sei denn, sie hegten doch ein verborgenes, eben nicht sichtbar zum Tragen gekommenes Bedürfnis, der wahren Papstkirche anzugehören. Erst im 20. Jahrhundert gerieten diese Selbstverständlichkeiten langsam in Bewegung. Man konnte sich auch katholischerseits immer weniger vorstellen, dass der gnädig liebende Gott, wie ihn die Bibel bezeugt, so kleinkariert sein sollte wie manche Normen des Kirchenrechts. Aber es fällt manchen „Spitzenkatholiken“ offenkundig immer noch schwer sich vorzustellen, dass etwa die vorbehaltlose Billigung des Verbots der Frauenpriesterweihe oder die Verdammung gleichgeschlechtlicher Liebe als widernatürlich nicht doch die unerlässliche Vorbedingung dafür sein müsste, dereinst Gottes ewig liebende Zuwendung zu erfahren.
Muss man das an der Spitze denn nicht so sehen, damit nicht religiöse Gleichgültigkeit um sich greift? Wenn es auch anders ginge, warum sollte man dann katholisch sein? Die Frage hat etwas Gequältes. Sie meint in gewisser Weise: Wenn es bequemere Wege zum Heil gäbe, mit weniger intellektueller und moralischer Zumutung verbunden, warum sollte man dann den offenkundig steileren katholischen Weg gehen? Wer – vielleicht ganz im Verborgenen – so denkt und glaubt, wird sich entscheiden müssen: den vermeintlich bequemeren Weg zu wählen oder darauf zu bestehen, dass eben doch nur der steilere zum Ziel führt und deshalb gegangen werden muss.
Viele Katholiken aber haben ihren Weg schätzen, ja lieben gelernt, ohne andere christliche Wege für bequemer zu halten oder ihnen eine allenfalls defizitäre Christusnachfolge zu unterstellen. Sie müssen sich nicht daran abarbeiten nachzuweisen, dass „die anderen“ in wesentlichen Glaubensfragen – so etwa in den ekklesiologischen Grundsatzfragen – Unrecht hätten. Sie können mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil einräumen, dass man in anderen „Kirchen“ Wege geführt wird, die Gottes unergründlich-weitherzigem Heilswillen entsprechen und dienen und zu ihm führen. Sie können das, auch wenn die „Spitzenkatholiken“ sich immer noch zieren, etwa die Kirchen der Reformation „Kirchen im eigentlichen Sinn“ zu nennen. Die Kirche im Sinne der „Communio Sanctorum“ ist über solche theologische Borniertheit ja längst hinweggegangen. Und sie konnte es, weil man sich auch den evangelischen Christen im Entscheidenden verbunden weiß: im gemeinsamen christlichen Glauben, wie er im Glaubensbekenntnis ausgesprochen wird. So kann man es getrost Gott und ein wenig auch der weiteren theologischen Klärung überlassen, was die verbleibenden Lehrdifferenzen zu bedeuten haben.Kann man so viel Gelassenheit auch im Blick auf andere religiöse Traditionen und Praktiken aufbringen, die unsere Lebenswelt in Europa seit drei Jahrzehnten mitbestimmen und – wie sich in Umfragen zeigt – zunehmend auch die gelebte Frömmigkeit im Bereich des europäischen Christentums beeinflussen?
Ein Blick auf die „religiöse Landschaft“
Der Religionsmonitor 2008 der „Bertelsmann Stiftung“ beobachtet innerhalb wie außerhalb kirchlicher Christlichkeit eine starke Tendenz zu einem religiösen Synkretismus und eine wachsende Neigung dazu, diese Entwicklung durchaus positiv einzuschätzen. In Deutschland stimmen etwa 22 Prozent der Befragten der Aussage zu: „Ich greife für mich selbst auf Lehren verschiedener religiöser Traditionen zurück“ (unter den Katholiken ebenfalls 22 Prozent; in den USA sogar 32 Prozent der Befragten).2 Auch für Katholiken und evangelische Christen scheint es relativ selbstverständlich, ihre eigene religiöse Überzeugung durch Vorstellungen und Praktiken zu „bereichern“, die nach den offiziellen Glaubensdoktrinen mit den eigenen Glaubensüberlieferungen zumindest in Spannung stehen.
Der Soziologe Armin Nassehi kommentiert: „Unabhängig vom Zentralitätstypus [der religiösen Kernidentität; J. W.] lässt sich feststellen, dass sich die erzählten und berichteten Formen von Religiosität in nur seltenen Fällen jenen eindeutigen konfessionellen beziehungsweise (welt-)religiösen Typen fügen, wie man dies womöglich erwarten und annehmen sollte. Ein erster Blick scheint dafür zu sprechen, dass die Probanden tatsächlich nur sehr vereinzelt im Sinne der intellektuellen und im Sinne einer konfessionellen Dimension jenem Bild entsprechen, das organisierte, also kirchlich gebundene Religiosität als Bild von sich hat. Im Klartext: Selbst wer sich explizit katholisch oder evangelisch identifiziert, kann im gleichen Atemzug Glaubensformen für plausibel halten, die der Systematik dieser Konfessionen nicht entsprechen. So kann sich ein katholischer Christ für Okkultes erwärmen, Wiedergeburt für plausibel halten oder esoterischen Ideen anhängen ... Was ... die Inkonsistenz der Entwürfe angeht, zieht sich dies durch die gesamte Gruppe der hoch religiösen wie der religiösen Interviewpartner, von den nicht religiösen ganz zu schweigen. Dies ist zu erwähnen, um einer Gefahr zu entgehen: der Gefahr einer intellektualistischen oder allzu formalen Interpretation von Religiosität. Denn trotz aller Inkonsistenzen zeichnen die Interviews ein reichhaltiges Bild von Transzendenzerfahrungen, die in der erwarteten Weise in einer Form von Authentizität vorgetragen werden, wie sie ... typisch für religiöse Kommunikation ist. Bei der Interpretation der Ergebnisse muss also berücksichtigt werden, dass die religiöse Landschaft der Bundesrepublik zwar keineswegs unabhängig von oder ungebunden an kirchliche Organisationen geprägt ist, dass aber die Kirchenmitgliedschaft ... das individuelle religiöse Erleben ... nicht eindeutig bestimmt.“3
Nassehi sieht die religiöse Landschaft also nicht von klaren Grenzziehungen bestimmt, sondern von vielfältigen „Grenzüberschreitungen“, die man oft gar nicht mehr als solche wahrnimmt, da sie dem eigenen wie dem publizistisch leicht zugänglichen religiösen Empfinden wie selbstverständlich zu entsprechen bzw. gar von ihm gefordert scheinen. Nur in der Perspektive offizieller Theologie und Kirchlichkeit, die den „organischen Zusammenhang“ von Glaubensüberzeugungen in den Blick rückt und urgiert, erscheinen – so Nassehi – die Befunde als defizitär. Aus der Sicht der Betroffenen selbst sprechen sie für einen durchaus positiv bewerteten größeren Reichtum an religiösen Selbstverständnis- und Artikulationsmöglichkeiten, für die Zugänglichkeit weiterer Möglichkeiten, die eigene Erfahrung authentisch auszudrücken.
Das gilt nicht nur für periphere Überlieferungsbestände, sondern für zentrale Aspekte im Verständnis des Göttlichen. So kann man zwar bei 60 Prozent der Westdeutschen ein theistisch-personalistisches Spiritualitätsmuster von hoher oder mittlerer Intensität erkennen. Zugleich aber lässt sich unter 36 Prozent der Katholiken, unter 30 Prozent der Protestanten und immerhin noch unter 20 Prozent der Konfessionslosen auch ein pantheistisches Muster von hoher und mittlerer Intensität feststellen.4 Auch unter kirchlich Gebundenen scheint eine Erfahrung des „Absoluten“, die eher mystisch-apersonale Züge aufweist, relativ weit verbreitet; und sie findet sich in erheblichem Umfang ebenso bei Menschen, die sich selbst nicht als religiös verstehen. Dass eine eher apersonale Erfahrung bzw. Deutung des Absoluten häufig mit fernöstlichen religiösen Überlieferungen assoziiert wird, liegt auf der Hand und zieht die Frage nach sich, ob und inwieweit die Berufung auf diese „religiösen Welten“ mit der Überzeugung verbunden ist, die eigenen religiösen Überlieferungen bzw. deren kirchliche Präsentation sei religiös defizitär.
Gleich-Gültigkeit?
Vor allem die letztgenannte Vermutung bzw. Unterstellung hat bei Kirchenleitungen wie in der Theologie Alarmreaktionen ausgelöst. Die ökumenisch zu Recht berüchtigte Erklärung „Dominus Iesus“ wollte ja hauptsächlich dem Eindruck wehren, der christliche Glaube sei ergänzungsbedürftig und werde in religiös sinnvoller Weise tatsächlich durch andere religiöse Traditionen bereichert. Papst Benedikt XVI. hatte schon als Kardinal und hat in seinem Pontifikat wiederholt vor einem religiösen Relativismus gewarnt, für den alle großen religiösen Traditionen im Kern gleich gültig und gleichwertig sind. Man kann theologisch der Auffassung sein, dass eine defensiv-abgrenzende Reaktion auf die dargestellten Trends und ihre religiöse Erfahrungsbasis kaum ausreichen wird. Es stellen sich gleichwohl kritische Fragen, die weder von den Apologeten multireligiöser Identitäten noch von den religionssoziologischen Interpreten noch von den „Kirchenleuten“ überhört werden sollten:
• Impliziert das gegenwärtig zweifellos zu beobachtende Zusammenwachsen religiöser Muster und Überlieferungen tatsächlich die Einschätzung, dass die wesentlichen religiösen Muster gleich gültig und gleichwertig sind, und leistet das der Vergleichgültigung geprägter religiöser Überzeugungen Vorschub?• Bedroht dieses Zusammenwachsen – dieser „Syn“-kretismus – tatsächlich die Identität des Christlichen?• Bedroht es die Identität des Christlichen an ihrem entscheidenden Punkt, dem biblischen Gottesverständnis?
Die erste Frage werde ich relativ kurz, die beiden anderen detaillierter und im Zusammenhang bearbeiten. Man wird zunächst für den interreligiösen Bereich eine ähnliche Tendenz feststellen wie zuvor für den christlich-ökumenischen: Angesichts weltweiter Herausforderungen durch einen vulgären Materialismus und einen globalisierten, Ressourcen zerstörenden Turbo-Kapitalismus scheinen die großen Weltreligionen zu einem Religionsbündnis für die Bewahrung der Schöpfung, für Frieden und Gerechtigkeit im Weltmaßstab geradezu verurteilt. Dabei wächst die Überzeugung, im Entscheidenden gehe es in den großen Weltreligionen um das Gleiche, wenn auch auf verschiedenen religiösen Wegen. Der religiös aufgeklärte Standpunkt scheint diesen Religionskonsens zu billigen und auf die Bereitschaft hinauszulaufen, von den jeweils anderen religiösen Traditionen zu lernen.
Man muss darauf hinweisen, dass dieser Standpunkt – konsequent weitergedacht – darauf hinausläuft, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten religiösen Tradition für einen biografischen Zufall zu halten, für den es keine substanziellen Argumente geben kann und auch nicht geben muss, da die verschiedenen religiösen Wege ja zum gleichen Ziel führen. Die hier gemachte Voraussetzung ist aber keineswegs verlässlich; sie ist angesichts der unübersehbaren Unterschiede in den religiösen Doktrinen und Praktiken auch nicht plausibel und nur mit weitreichenden, die jeweilige religiöse Identität auflösenden Uminterpretationen der Traditionen einigermaßen diskutabel zu machen. Die Analogie zur christlich-ökumenischen Diskussion trägt nur so weit, dass man christlicherseits die Überzeugung hegen darf, dass Menschen „guten Willens“ (Zweites Vatikanisches Konzil) in allen Religionen der göttlichen Vollendung ihres Lebens entgegengehen und dass die jeweiligen Religionen ihnen mit ihren Doktrinen und Praktiken dabei eine Hilfe sein können.
Die Heilsfrage muss also auch im interreligiösen Gespräch von christlicher Seite nicht „exklusivistisch“ beantwortet werden. Damit muss aber nicht die Überzeugung verbunden sein, alle Religionen seien im Blick auf das Ziel menschlichen Leben und auf die göttliche Wirklichkeit, bei der und durch die sie ihr Ziel erreichen, „gleich wahr“ oder „gleich gültig“ oder „gleichwertig“, sodass es im Wesentlichen gleich wäre, welcher man zustimmt und folgt. Man wird gute Gründe in der Sache finden müssen, eine bestimmte religiöse Überzeugung zu teilen; und diese guten Gründe können nicht nur im biografischen Zufall liegen. Gute Gründe sprechen dafür, dass etwas Relevantes dafürspricht, diesen und nicht jenen religiösen Weg zu gehen, diese und nicht jene religiöse Überzeugung zu hegen. Diese Gründe mögen auch dafürsprechen, dass man sich mit anderen Religionen in mancher oder vieler Hinsicht religiös verbunden weiß und deshalb die Zuversicht hegen darf, dass auch Gläubige dieser Traditionen zum Ziel ihres Menschseins beim Göttlichen kommen können. Aber man wird sich nicht zu dem Urteil ermächtigt wissen, diese Traditionen seien der eigenen gleichwertig. Woher sollte man das denn wissen können! Man wird immer nur die Überzeugung begründen können, dass der eigene Glaube so viele gute Gründe für sich hat, dass es rational ist, ihm anzuhängen und nicht anderen Glaubensweisen. Und man wird Gläubigen anderer Traditionen zubilligen, dass sie genau das Gleiche tun.Wenn die Gläubigen unterschiedlicher religiöser Überlieferungen das für den eigenen Glauben versuchen, so kann – das ist christliche Überzeugung – genau auf diesem Weg immer besser deutlich werden, worin wir uns religiös verbunden wissen dürfen und was uns trennt. Das Vorankommen auf diesem Weg ist das Gebotene, nicht die unbegründbare Überzeugung, wir glaubten alle substanziell das Gleiche.
Bedroht das Zusammenwachsen religiöser Überlieferungen die Identität des Christlichen?
Es ist kaum zu leugnen: Der Prozess des Zusammenwachsens der Kulturen und der religiösen Überlieferungen verändert auch das Christentum. Man muss darin nicht – wie Papst Benedikt XVI. – einseitig das Verhängnis der Auflösung einer ursprünglich und christlich normativen Verbindung biblischen Glaubens mit dem hellenistischen Denken sehen. Man kann darin eben auch die kreativ aufzunehmende Herausforderung zu neuen Inkulturationen des Christlichen sehen. Inkulturationen sind riskant; die frühe Kirchengeschichte zeigt, wie riskant sie sein und wie viele Abgrenzungen sie erfordern können. So wäre auch für die Gegenwart zu fragen: Welche Transformationen des Christentums würden seine Identität bedrohen? Und in welchen Transformationen könnte es sich erneuert wiedererkennen?
Diese Fragen werden heute vielfach im Blick auf das Verständnis des Göttlichen diskutiert und auf die Alternative „theistisch-personalistisch oder pan(en)theistisch“ gebracht. Ich halte diese Alternative, wie sie auch den meisten Umfragen zugrunde liegt, nicht für glücklich und möchte zeigen, dass der christliche Gottesglaube sich ihr nicht fügt. Aber angesichts des in den Umfragen aufscheinenden religiösen Megatrends „Weg vom Theismus und Personalismus“ scheint es mir sinnvoll zu sein, den Personalismus der Bibel und der christlichen Überlieferungen zu verteidigen. Ich werde mich also nicht auf die bequeme pluralistische These etwa John Hicks zurückziehen, personale und impersonale Redeweisen von Gott seien nur unterschiedliche kulturell-sprachlich geprägte Paradigmen, ein „dahinter“ liegendes, unendlich größeres Geheimnis auszudrücken.5 Ich ziehe mich nicht auf diese These zurück, weil hier offenkundig doch zu viel von dem „Dahinter“ gewusst wird, eben dies: Für das „Dahinter“ seien personale und impersonale Kategorien in gleicher Weise gültig. Ich übernehme die These auch deshalb nicht, weil mit ihr die gegenwärtig weit verbreitete religiöse Aversion gegen den Personalismus des Christentums nicht genau und kritisch genug wahrgenommen wäre.
Es ist ja tatsächlich so: Ein Gottesverhältnis im Sinne des Gegenüber-Seins Gottes, gar eines geschichtlichen Handelns dieser Gottes-Person, ist von der Alltagsreligiosität bis in den religionsphilosophischen Mainstream hinein fast schon zum Ungedanken geworden. Als Randbedingung ethischen Verhaltens kommt das Göttliche vielleicht noch infrage. Man zieht es auch in Betracht, wenn sich die „Sinnfrage“ stellt: Irgendwie müsste es einen größeren Zusammenhang geben, in den wir uns mit unseren begrenzten Einblicken auf eine widersprüchliche Welt einfügen und in dem wir uns aufgehoben wissen könnten. Irgendwie müsste die Zuversicht begründet sein, dass das Gute letztlich siegreich bleibt. Jedenfalls trüge es zu unserem seelischen Wohlbefinden bei, wenn wir Ressourcen für diese Zuversicht fänden.
Dieses tastende Auslangen nach einer höheren göttlichen Macht des guten Zusammenhangs erscheint dann zwar kompatibel mit meditativen Versenkungs- und Konzentrationspraktiken, aber kaum mit den herkömmlichen christlichen Praktiken des Betens oder des gottesdienstlichen Kultes, in denen offenkundig nicht ein Göttliches an der Peripherie irgendwie bedacht, sondern in denen Gott mir gegenüber oder in unserer Mitte – in der Mitte meines Lebens – als gegenwärtig angesehen und gefeiert oder als meine Entscheidung einfordernd wahrgenommen werden soll. So können viele mit diesen Praktiken wenig anfangen. Und die Schwierigkeiten, sich in ihnen auszudrücken, werden auch kirchlich Praktizierende kennen.
Gegenwartskompatibler ist der Peripherie- oder der Hintergrunds-Gott, auf den hin man hier und da – etwa in individuellen oder sozialen Krisensituationen – den geistig-geistlichen Blick zu weiten versucht, der aber nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Im Zentrum stehen ich und wir, stehen die religionsneutralen Geltungen des Marktes und der Kapitalverwertung, der Sicherung eines auskömmlichen, ja „erfüllten“ Lebens, das Engagement für gelingende Beziehungen. Diese unterschiedlichen Geltungen mögen sich „hart im Raum“ stoßen oder nebeneinander her gelten. Aber sie bestimmen weitgehend die Alltagswelt; und in ihnen bestimmt – lokalisiert – man sich mehr oder weniger autonom selbst.
Eine weitere „Einbettung“ solcher Geltungen wird mitunter gesucht. Sie sollte aber möglichst so aussehen, dass sie die innere Logik der Geltungen nicht infrage stellt, sondern allenfalls kompensiert oder gar „nach außen“ verlängert bis ins mehr oder weniger Unendliche hinein, sodass man sich tatsächlich eingebettet fühlen könnte: möglichst überraschungsfrei und gegen äußere Einflüsse gefeit, die bei der Verfolgung wirtschaftlicher oder selbsterfahrungsorientierter „Projekte“ in die Quere kommen könnten. In den unendlichen Fernen kann schon einmal undeutlich werden, worin man sich eingebettet glaubt: in die Natur, den Prozess der Evolution, in ein ewig oder bis auf Weiteres pulsierendes All oder in eine irgendwie alles aufbewahrende und verändernde liebende Macht. Der Gott der lebensweltlich-„metaphysischen“ Einbettung entspricht in seiner Physiognomie ziemlich genau einem Verständnis des Göttlichen, wie es sich in der Wechselbeziehung (vielleicht auch gegenseitigen Bestimmung) von Pantheismus und Deismus neuzeitlich-religionsgeschichtlich herausgebildet hat, eigentlich doch weniger dem Göttlichen, dem die religiöse Aufmerksamkeit in fernöstlichen Religionstraditionen gilt.
Die Verabsolutierung des Jetzt als des möglichst erfüllten Augenblicks, des Diesseits, das mit Gewinn zu beackern ist, weshalb man den Himmel den Spatzen überlassen darf (Sigmund Freud), die Verabsolutierung der erfüllenden Beziehung, die so oft scheitert und gerade deshalb im Mittelpunkt allen Strebens steht, die Verabsolutierung auch des eigenen und des gemeinschaftlichen Gewinns, die die Verluste bei den anderen nur relativ im Betracht zieht: All das verlangt ein Göttliches, das relativ bleibt; mit dem man etwas anfangen kann und anfangen will, wenn es die „offenen Flanken“ der Selbstverwirklichung nach außen absichert, wenn es das Außerhalb bis ins Unendliche hinein unschädlich zu machen geeignet ist. Es verlangt – allenfalls – nach dem Gott der Einbettung.
Ich habe eine Karikatur gezeichnet, die manche Züge postmodern-pluralistischen „Gottesglaubens“ überzeichnet und andere, ebenso kennzeichnende, weglässt. Und ich will mit dieser Karikatur niemandem zu nahetreten. Aber wenn meine Karikatur die religionsgeschichtliche Signatur der Gegenwart nicht ganz verzeichnet: Ist sie tatsächlich kompatibel mit biblisch-christlichem Gottesglauben, gleich gültig wie er und menschenkompatibler, sodass man diesen postmodernen Glaubenstypus womöglich als religiös fortgeschrittener auszeichnen müsste?
Ich halte wenig davon, die mehr oder weniger latente Religiosität, die hier erhoben wird, pauschal als widergöttlich abzuschreiben und den biblischen Gottesglauben als die Radikalkritik aller Religion dagegenzusetzen: Gott gegen die Götzen, gegen die mit Transzendenz-Aura ausgestatteten Mächte dieser Welt; Gott gegen die kontingenzbewältigenden Selbstverständlichkeiten einer Kapitalismus-imprägnierten Vernunft der diesseitsgewissen Selbstbehauptung. Thomas Ruster propagiert diese theologische Strategie auch religionspädagogisch. Sie ignoriert, dass biblischer Gottesglaube viel mit der Sehnsucht nach Geborgenheit, mit Trost angesichts des Scheiterns in dieser Welt, mit Kontingenzbewältigung zu tun hat. Aber eins hätte man schon von Karl Barth, von Luther, von Paulus, von der Bibel in vielen ihrer Überlieferungen zu lernen und in die harmonistische Einbettungs-Frömmigkeit hineinzukommunizieren: Biblischer Gottesglaube versucht je neu die Unterscheidung zwischen Gott und den Götzen. Er provoziert zu fragen, wohinein wir uns eingebettet glauben (möchten) und ob wir mit der Vorstellung des Eingebettetseins nicht nur religiös weichzeichnen, dass wir uns mit den Mächten arrangiert haben, die uns in der Hand haben. Autonomie und Selbstverwirklichung sind schöne Selbstbilder. Könnte es nicht sein, dass wir auch mit ihnen eher schönreden, wie wir uns manipulieren lassen, und die Folgen, die das nach sich ziehen muss, wie das Göttliche ja auch, an den Rand unserer Wahrnehmung verbannen?
Gegenüber einer deistisch-pantheistisch gestimmten Einbettungsfrömmigkeit ist der biblische Personalismus des Gottesglaubens ärgerlich konkret. Gott tritt den Menschen gegenüber mit einem Willen, in Menschen, deren Lebensinhalt und „Nahrung“ es ist, diesen guten Willen zu bezeugen und ihm auf der Spur zu bleiben; nach christlicher Überzeugung mit höchster Prägnanz und Konkretheit in Jesus, dem Christus. Am Weg Israels, am Gottesmenschen Jesus vor allem, ist zu identifizieren, was es heißt, den Weg in die Gottesherrschaft zu gehen, sich den Hunger nach Gottes Gerechtigkeit nicht abgewöhnen zu lassen und auf mehr zu hoffen als auf die Segnungen des Schicksals, des Marktes oder eines mystifizierten Naturprozesses. Biblischer Personalismus, das bedeutet: im Blick auf die Zeugen des guten Gotteswillens die Güte dieses Willens verantwortlich nachzuvollziehen sowie konkret und folgenreich zu unterscheiden, was mit diesem Willen vereinbar ist und was nicht, was in Gottes und der Menschen Zukunft führt und was oder wer sich an dieser Zukunft versündigt. Biblischer Personalismus heißt gewiss auch, sich nach der Hoffnung ausstrecken, dass Er (Sie) mich auffängt, mich und dich würdigt, nicht nur als Tropfen im Meer des Alls, sondern als mich und dich; mehr und nicht weniger als wir jetzt schon danach verlangen, gewürdigt zu werden und nicht nur als Brennstoff für den Raketenmotor der Evolution in Betracht zu kommen. Es bedeutet, aus dem Gottes-Geist der Würdigung zu leben, der Menschen aufstehen lässt und ihnen eine Zukunft gibt, die jetzt anfängt und gegen die Mächte der Missachtung bezeugt werden will.
Eher implizit und in Andeutungen war hier schon von all dem die Rede, was eine zunehmende Anzahl „religiös Interessierter“ als anstößig, zumindest als wenig identifikationsfähig erlebt, vom trinitarischen Gott der christlichen Überlieferung. Warum eigentlich sollte es anstößig sein? Weil es die religiöse Autonomie untergräbt und in religiöser Selbsterfahrung nicht einzuholen ist? Weil der Sinn eines „theistisch-personalistischen“ christlichen Gottesvokabulars so wenig zugänglich erscheint? Etwa auch deshalb, weil das Sich-Beziehen auf Gottes Transzendenz – auf seine Nicht-Identität mit Welt und Natur – als Entfernung, gar als Flucht aus der Immanenz und Welt-Diesseitigkeit erlebt wird? Warum ist die christlich-trinitarische Basisüberzeugung von der Lebens-Konkretheit des Unendlichen, von der Transzendenz-Immanenz Gottes so wenig im Blick? Warum ist so wenig im Blick, dass der Transzendenzbezug biblischen Gottesglaubens nicht zuletzt den Sinn hat, den Widerstand gegen das sehr konkret sich auswirkende Überrolltwerden von den Unheilsdynamiken dieser Welt – auch gegen das bedenkenlose Sich-Einbetten in das „Umgreifende“ – zu mobilisieren und ihm einen Horizont zu geben? Gottes Transzendenz-Immanenz: Weil Er nicht identisch ist mit den Mächten, denen wir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, müssen wir uns nicht mit diesen Mächten identifizieren. Gottes Transzendenz aber geschieht konkret, mitten in diesem Leben: in Jesus von Nazareth, der Gott unter denen lebt, die in der Weltimmanenz keinen Platz haben, nicht in sie „eingebettet“ sind. Sie geschieht durch den Heiligen Geist, der Menschen dazu inspiriert, sich mit Gottes gutem Willen zu identifizieren, ihn zu tun. Und wo Gottes guter Wille geschieht, da handelt dieser Gott mitten unter uns; da geschieht er – weil er ein liebender Wille ist – ganz konkret-mitmenschlich.
So etwa – gewiss auch ganz anders – könnte der Versuch ansetzen, Menschen ins Gespräch zu ziehen, die mit dem biblischen Gottespersonalismus nichts mehr anzufangen wissen. Sie sollten wenigstens wahrnehmen können, dass die Alternative zu einem vagen Deismus-Pantheismus nicht in jenem autoritär-archaischen Personalismus liegen muss, auf den man das biblische Gotteszeugnis so selbstverständlich festgelegt sieht. Und sie sollten sehen können, dass das biblische Gotteszeugnis auch postmodern-apersonale religiöse Optionen mit Fragen konfrontiert, die man ernst zu nehmen hätte, über die man nicht hinweggehen sollte, wenn man mit dem personal erfahrenen Gott der Bibel nicht auch dessen Einsatz für die unverlierbare Würde des Menschen für überholt halten will.
Gottes Transzendenz-Immanenz
Das entscheidend Christliche: der Glaube an einen Gott, der sich nicht heraushält, aber auch nicht vereinnahmt werden kann. Der in der Bibel bezeugte, sich bezeugende Gott „heißt“: Ich bin euch der, der ich euch sein will und sein werde (Ex 3,14); nicht der, den ihr brauchen könnt, um kirchliche oder „weltliche“ Herrschaftsansprüche zu legitimieren; nicht ein Gott, der sich einbauen lässt in menschlich-allzumenschliche Interessenlagen und Selbstbehauptungsstrategien; aber auch nicht der ganz ungreifbar Jenseitige, allenfalls in mystischer Versenkung Zugängliche und doch wieder ins Unendlich-Hintergründige sich Entziehende; auch nicht nur das Meer, dem wir ewig als Welle zugehören, sodass es letztlich ganz gleichgültig ist, wo und wie sich die Welle sanft aufwirft und wieder vergeht; auch nicht das unendlich positive Negativum zum unendlich negativen Positivum, zur Gegebenheit unserer unruhig-nichtigen Welt.
Der biblisch bezeugte Gott ist der unermesslich-unerschöpflich geheimnisvoll Liebende, der eben deshalb ganz konkret da sein, greifbar sein will, wie jeder Liebende, jede Liebende; das, was uns unendlich umgreift und berührt und ganz konkret widerfährt, herausfordert, überpersonal-personal. Das ist die Spannung, die für den biblischen Gottesglauben kennzeichnend ist und in ihm gehalten werden will. Christlich ist es die Spannung zwischen dem unendlich Umgreifenden, dem berührend-herausfordernden, Leben weckenden Pneuma und der Gottesgegenwart in der Sendung des Sohnes, Jesu von Nazareth, der die Gottesgegenwart zu den Ausgestoßenen trug und mit an sein Kreuz nahm, sie noch mitnahm in Sterben und Tod hinein, damit auch diese noch von Gottes Gegenwart durchdrungen seien.
Gottes Dasein, Gottes Präsenz ist dreieinig. Muss man es so sagen? Man darf es so sagen, dürfte es so sagen – in der gelassenen Glaubenszuversicht, dass noch viel zu wenig damit gesagt ist, aber auch nicht mehr gesagt werden muss. Gottes Präsenz ist unendlich „mehr“, „größer“, aber eben nicht weniger. Auf dieses Mehr hin mag man sich öffnen lassen, indem man sich dem Geheimnis der Immanenz-Transzendenz Gottes öffnet; der Gegenwart eines Gottes, der als der unendlich Größere und Umgreifende in der unendlich dichten Präsenz des in einem Menschenleben unendlich herausfordernden und ermutigenden, Geist-erfüllten Wortes da ist.
Und was ist mit „den anderen“, die es nicht so sagen, die es anders sagen? Aus unserer Sicht sagen sie „weniger“ vom Göttlichen, als gesagt werden könnte, um sich dem Geheimnis des immer noch unendlich größeren Gottes zu öffnen. Wir sind überzeugt, dass wir hier mehr zu sagen haben, nicht im Sinne der theologischen Vielwisserei, sondern im Sinne eines Mehr, das die Glaubenden für Gottes Unendlichkeit öffnen kann. Wären wir nicht von diesem Gottes unendlich größerer Wahrheit dienenden Mehr überzeugt, hätten wir keine guten Gründe, Christen zu sein und zu bleiben.
Aber wir wissen nicht darüber Bescheid, ob – und gegebenenfalls wie – diejenigen, die es anders sagen und glauben, ihrerseits einen unerlässlichen Dienst für die Öffnung der Menschen auf Gottes unendliches Mehr hin leisten. Wir mögen es mitunter ahnen. Und es ist das Glück des interreligiösen Gesprächs, wenn sich solche Ahnungen konkretisieren, wenn sie mitunter zur Herausforderung werden, den eigenen Blick zu weiten und religiös zu lernen. Es besteht aber keine Notwendigkeit, „den anderen“ Gleichwertigkeit zuzubilligen, solange wir sie nicht abwerten; solange wir nicht irgendwie doch überzeugt sind, man dürfe ihre Wege nicht gehen, weil sie ins Unheil führen. Auch ihre Wege können in Gottes Wahrheit und Vollendung hineinführen; und wir erfahren mehr über unseren Weg, wenn wir ihre Wege kennenlernen. Wir erfahren mehr über unseren Dienst an der Öffnung der Menschen auf Gottes unendliche Wahrheit hin, wenn wir ihren Dienst besser kennen und schätzen lernen. Würden wir ihnen auch noch zubilligen, religiös gleichwertige Wege zu gehen, die zum gleichen Ziel führen, würden wir uns ein Urteil anmaßen, das uns nicht zusteht.
Wir sind – wenn es denn so ist – zu der Überzeugung gelangt, dass die christliche Überlieferung das Bereitwerden der Menschen für Gottes Präsenz und Gottes Selbstvergegenwärtigung unter den Menschen authentisch bezeugt – freilich auch zu der leidvollen Gewissheit, dass die christlichen Kirchen diese Zeugnisse nicht selten schrecklich missbraucht und verbogen haben. Für die Authentizität anderer Zeugnistraditionen können Christen nicht einstehen, solange sie sich nicht auch da noch zu diesen Traditionen bekennen, wo sie christlichen Überzeugungen widersprechen. Man kann die Authentizität dieser Traditionen für möglich halten, solange man es für möglich halten kann, dass ihr Widerspruch auf mangelndem Verständnis des Christlichen beruht. Für möglich halten heißt aber nicht, davon ausgehen, dass es so ist. Wir können nur von dem ausgehen, was sich uns als Gottes-Überzeugung erschlossen hat – und uns für den Reichtum der Zeugnisse öffnen, mit denen uns andere religiöse Traditionen beschenken und herausfordern. Unsere Zuversicht darf es sein, dass auch wir in der Begegnung mit diesen Zeugnissen geöffnet werden für den je größeren Gott, von dem wir auch dann noch viel zu klein denken und sprechen, wenn wir uns auf den Bahnen halten, die uns die biblischen Überlieferungen vorzeichnen.
Jürgen Werbick, Münster
Anmerkungen
1 Der Beitrag basiert auf einem Vortrag, gehalten am 13.5.2010 im Zentrum Weltanschauungen auf dem 2. Ökumenischen Kirchentag, München.
2 Bertelsmann Stiftung (Hg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, Zahlenmaterial auf der dort beigefügten CD.
3 Armin Nassehi, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in: Bertelsmann Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 117.
4 Vgl. Karl Gabriel, Religiöser Pluralismus, in: Religionsmonitor 2008, a.a.O., 82. Im Vergleich zu den 60 Prozent Westdeutschen, die ein theistisches Spiritualitätsmuster von mittlerer oder hoher Intensität aufweisen, sind es unter den Ostdeutschen nur 24 Prozent, und eine hohe Intensität theistischer Frömmigkeit ist sogar nur unter 3 Prozent der Befragten zu finden.
5 Vgl. John Hick, Religion. Die menschlichen Antworten auf die Frage nach Leben und Tod, München 1996, 274-320.