Das Vermächtnis des Dalai Lama. Ein Gott zum Anfassen
Erich Follath, Das Vermächtnis des Dalai Lama. Ein Gott zum Anfassen, Collection Rolf Heyne, München 2007, 320 Seiten, 19,90 Euro.
Der Autor, ein Spiegel-Redakteur, hat seit 20 Jahren Tibet, die buddhistischen Pilgerstätten in Indien und den Dalai Lama mehrfach besucht. Follaths Buch gehört weder in die Kategorie Beweihräucherungsliteratur noch in die der Hassliteratur; es hebt sich wohltuend von der Masse der euphorischen bzw. stigmatisierenden Texte ab und wirft einen Blick kritischer Sympathie auf den obersten Repräsentanten des tibetischen Buddhismus und seine Entourage. Die tragische Geschichte der Tibeter, die immer mehr zu einer Minderheit im eigenen Land werden, muss seit 50 Jahren als gnadenloser Prozess der Sinisierung beschrieben werden, dessen brutaler Höhepunkt die Zerstörungswut der sog. revolutionären Garden war. Da in den Schulen nur noch chinesisch unterrichtet wird, beherrscht die junge Generation nicht mehr die Sprache der Vorfahren. Das ist beabsichtigt und macht auch die Verständigung mit Exiltibetern schwierig bis unmöglich. Der „kulturelle Genozid“ treibt mitunter seltsame Blüten. Zwar wird die Hauptstadt Lhasa, in der meistens bittere Kälte herrscht, zusehends in eine gesichtslose Betonwüste verschandelt, aber um den Touristen südländisches Flair vorzugaukeln, haben die Chinesen besonders robuste Palmen aufgestellt. Sie sind aus Plastik und werden wie die schrillen Karaoke-Bars nachts bunt angestrahlt.
In Dharamsala, dem „Little Lhasa“ genannten indischen Exil des Dalai Lama, herrscht eine „spirituellere“ Atmosphäre. Hier tagt das demokratisch gewählte Exil-Parlament. Tibetische Flüchtlinge suchen und erhalten meist auch Unterstützung vom Büro des Dalai Lama. Westliche Interessierte, Romantiker, Esoteriker, Althippies und Hollywood-Größen beschäftigen sich mehr oder weniger ernsthaft mit buddhistischen Praktiken und Lehren bzw. mit dem, was sie darunter verstehen. Auf dem Jahrmarkt der religiösen Billigangebote wird jeder Wunsch erfüllt. Nicht selten muss der Dalai Lama als Projektionsfläche für Hoffungen und Träume herhalten. Er scheint mit den Erwartungen zu spielen, schlüpft in verschiedene Rollen und hinterlässt ein nach landläufigen Vorstellungen widersprüchliches Bild. Einmal ist er intellektueller Gesprächspartner, dann okkulter Zeremonienmeister, der ein Staatsorakel befragt. Er übt den Spagat zwischen Dämonenglaube und Neurowissenschaft. Banalitäten folgen auf philosophischen Tiefsinn. Gegen den Widerstand der eigenen rebellischen Jugend verteidigt er das Prinzip der Gewaltlosigkeit und obwohl er eine pazifistische Politik vertritt, ist er in den Augen der chinesischen Regierung ein gefährlicher Umstürzler. Er schätzt seine Vorgänger im Amt, aber ironisiert zugleich das Modell der Tulkus, der bewusst reinkarnierten Würdenträger, zumindest was seine Person betrifft. Die Aufforderung zur Toleranz steht in Kontrast zur dogmatischen Verurteilung des Shugden Kults.
Follaths Stärke ist die Aktualität der Berichterstattung. Der Autor ermöglicht Einblicke in die real existierenden Verhältnisse von „big and little Lhasa“ im Jahr 2007 und schildert eine facettenreiche Persönlichkeit, die sich nicht zuletzt durch Selbstkritik auszeichnet. So war sich der Dalai Lama nicht zu schade, die Audienz und das Empfehlungsschreiben für Shoko Asahara, den Gründer der terroristischen Aum Shinrikyo, nachträglich als großen Fehler zu bezeichnen. Auch die teilweise barbarischen Zustände im tibetischen Feudalsystem werden nicht bagatellisiert. Zugleich räumt Follath mit Vorurteilen beispielsweise gegenüber dem umstrittenen Kalachakraritual auf und zeigt die reflektierte Einstellung des Dalai Lama zu Themen wie Konversion, Divergenzen sowie Konvergenzen zwischen Christentum und Buddhismus und die Zukunft des tibetischen Tradierungssystems.
Im kommentierten Literaturverzeichnis wählt Follath anschauliche Bilder für die bizarren Tiraden der Trimondis: „Wahre Renegaten joggen nicht, sie laufen Amok.“ Das Ehepaar Victor und Victoria Trimondi hat vielfache Häutungen hinter sich. Nach der Phase der Mao-Begeisterung rollten sie dem Dalai Lama den roten Teppich aus, um ihm schließlich „weltexklusiv“ eine buddhokratische Verschwörung zu unterstellen. Die Standardwerke der eigentlichen Buddhismusforschung darf man im Literaturverzeichnis nicht erwarten und man findet sie auch nicht. Die Verweise auf Hans Wolfgang Schumann reichen nicht aus. So fehlen in Bezug auf die tibetische Variante des Buddhismus z. B.: Karl-Heinz Golzio / Pietro Bandini, Die vierzehn Wiedergeburten des Dalai Lama, München 1997; Regina und Michael von Brück, Die Welt des tibetischen Buddhismus, München 1996; Michael von Brück, Religion und Politik im Tibetischen Buddhismus, München 1999. Und noch immer unerreicht: Perry Schmidt-Leukel, Den Löwen brüllen hören. Zur Hermeneutik des christlichen Verständnisses der buddhistischen Heilsbotschaft, Paderborn 1992.
Harald Baer, Hamm