„Das Ziel der Schöpfung ist der Schalom Gottes“ Zum Tod von Hansjörg Hemminger (1948 – 2022)
Am 16. Juni 2022 verstarb der Weltanschauungsexperte und promovierte und habilitierte Verhaltensbiologe Hansjörg Hemminger unerwartet im Alter von 73 Jahren in seinem Wohnort Baiersbronn im Nordschwarzwald. Während der Zeit seiner beruflichen Tätigkeit im Dienst der evangelischen Kirche – und auch in seinem Ruhestand – hat er das Arbeitsfeld Weltanschauungsfragen in den christlichen Kirchen des deutschsprachigen Bereiches maßgeblich mitgeprägt und mitgestaltet. Er war ein profilierter Experte für die Begegnung und Auseinandersetzung mit religiös-weltanschaulichen Gruppen und Strömungen und besaß eine besondere Darstellungs- und Elementarisierungskompetenz. Selbstbewusst und mit großem Geschick kommunizierte er mit der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Zugleich war er im Kontakt mit zahlreichen Menschen, die seinen Rat in existenziellen weltanschaulichen Konflikten suchten. Seine Einschätzungen als kirchlicher Weltanschauungsbeauftragter fanden große Resonanz, weit über den kirchlichen Bereich hinaus. Seine christliche Prägung hatte er in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg erfahren. Sie war verbunden mit einer wertschätzenden Haltung gegenüber erwecklichen und pietistischen Strömungen. Als engagierter Christ praktizierte er eine wache Zeitgenossenschaft und artikulierte das Zentrum des christlichen Glaubens nicht selten präziser als manche Theologinnen und Theologen.
Hemminger wurde 1948 in Rottweil geboren, studierte nach dem Abitur an der Eberhard Karls Universität in Tübingen und der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau Biologie im Haupt- und Psychologie im Nebenfach. An der Universität Freiburg promovierte er im Fach Biologie mit einer Arbeit über „Zentralnervöse Datenverarbeitung beim Farbensehen des Menschen“ und habilitierte sich in Freiburg 1983 – nach einem Forschungsaufenthalt in Denver / Colorado – im Bereich der Verhaltensbiologie des Menschen.
Zum 1. September 1985 trat er als Naturwissenschaftler in den Dienst der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) ein und war als Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) – mit Dienstsitz in Stuttgart – für den Themenbereich „Theologische und ethische Probleme im Zusammenhang mit Naturwissenschaft, Technik und Psychologie“ verantwortlich. Im Rahmen dieser Aufgabenstellung entwickelte er eine umfangreiche Publikations- und Vortragstätigkeit. Er schrieb Aufsätze, EZW-Texte, Monografien, betätigte sich als Herausgeber von Büchern zu aktuellen weltanschaulichen Fragen in renommierten Verlagen. Die zentralen Themen gehen aus den Titeln seiner Schriften und Bücher hervor: u. a. „Das Wirklichkeitsverständnis der Naturwissenschaft“ (1986), „Die Rückkehr der Zauberer. New-Age. Eine Kritik“ (1987), „Der Markt des Übersinnlichen“ (1990), „Fundamentalismus in der verweltlichten Kultur“ (1991), „Religiöses Erlebnis – religiöse Erfahrung – religiöse Wahrheit“ (1993), „Was ist eine Sekte?“ (1995), „Eine Erfolgspersönlichkeit entwickeln?“ (1996). Als die Stelle des Leiters bzw. der Leiterin der EZW in Stuttgart vakant war, wurde er mit der kommissarischen Leitung beauftragt. Hemminger gehörte von 1996 bis 1998 als Sachverständiger der Enquete-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des 13. Deutschen Bundestages an. Wegen des Umzugs der Dienststelle von Stuttgart nach Berlin beendete er seinen Dienst bei der EZW zum 1. September 1996.
Es war für ihn selbst, ebenso für seine Weggefährtinnen und Weggefährten eine glückliche Fügung, dass er seine Tätigkeit als kirchlicher Beauftragter für Weltanschauungsfragen bei der Evangelischen Landeskirche in Württemberg fortsetzen konnte, bis zu seiner Pensionierung im Dezember 2013. Seine Tätigkeit im Arbeitsfeld Weltanschauungsfragen ging weiter, auch die Mitarbeit bei Veröffentlichungen der EZW. Unter anderem schrieb er in dieser Zeit: „Grundwissen Religionspsychologie. Ein Handbuch für Studium und Praxis“ (2003), das aus einer Lehrtätigkeit hervorgegangen war, „Wachsen mit weniger. Konzepte für die Evangelische Kirche von morgen“ (2006, zusammen mit Wolfgang Hemminger), „Und Gott schuf Darwins Welt. Schöpfung und Evolution, Kreationismus und intelligentes Design“ (2009). 28 Jahre war er gleichermaßen im Gespräch mit Repräsentanten religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften und Strömungen, ebenso auch mit Menschen, die religiöse und weltanschauliche Gruppen und Angebote als vereinnahmend, verletzend und krankmachend erfuhren. Für seine profilierten Stellungnahmen hat er viel Zuwendung und Zustimmung erfahren. Er erlebte aber auch pointierten Widerspruch, musste herabsetzende Kritik aushalten und Klugheit und Standfestigkeit in Auseinandersetzungen zeigen.
Seit 2007 war er Mitglied der Arbeitsgemeinschaft Evolutionsbiologie zur Aufklärung über das interdisziplinäre Konzept der Evolution. Er engagierte sich in der Karl-Heim-Gesellschaft, die sich der Frage widmet, was wissenschaftliches Denken und christlicher Glaube einander zu sagen haben, u. a. als Kuratoriumsmitglied. Er wirkte als Gast und Vertreter der Evangelischen Kirche in Württemberg im Ausschuss Religiöse Gemeinschaften der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) mit, die das „Handbuch Weltanschauungen, Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen“ (2015) herausgibt.
Weltanschauliche Themen beschäftigten ihn auch im Ruhestand. 2016 erschien sein Buch zur evangelikalen Bewegung. 2021 befasste er sich mit der Entwicklungsgeschichte der Religion aus der Perspektive der Evolutionsbiologie und veröffentlichte in englischer Sprache das Buch „Evolutionary Processes in the Natural History of Religion“. Seine letzte Publikation ist auch eine Rückkehr zu Forschungsinteressen aus frühen Freiburger Zeiten.
Wer sich mit Zeitströmungen und Weltanschauungsfragen befasst, begibt sich auf ein weites Feld. Hemmingers Kreativität im Schreiben hat ihn immer wieder zurückgeführt zu den Grundsatzfragen (natur)wissenschaftlicher Welterkenntnis und zur Artikulation christlicher Identität im Umgang mit anderen religiösen und nichtreligiösen Wahrheitsansprüchen. Die Breitenwirkung seiner Texte und Auftritte ist eindrucksvoll und im kirchlichen Kontext des Arbeitsfeldes Weltanschauungsfragen beispiellos. Die Vielfalt seiner Themen war auch für Kolleginnen und Kollegen immer wieder überraschend. Er konnte auch auf Abstand gehen zur direkten Erörterung der großen Fragen von Wissenschaft und Religion. 1991 publizierte er den Roman „Geistervogel“, 2019 war er Mitautor des Reiseführers „querwegs im Nordschwarzwald. 48 Orte, von denen Sie wahrscheinlich noch nichts wussten“.
Hemminger wusste zu unterscheiden zwischen dem, was er als Wissenschaftler sagte und dem, was er als urteilsfähiger Christ ins Gespräch einbrachte. Gegen einen ideologischen Wissenschaftsglauben, wie er beispielsweise im sogenannten „neuen Atheismus“ vertreten wird, hat er sich pointiert positioniert und sich mit ihm befasst, bevor Debatten darüber in den Fokus der Öffentlichkeit traten. Den verschiedenen Spielarten des Kreationismus hielt er entgegen, dass das biblische Zeugnis von der Schöpfung missverstanden wird, wenn man meint, ihm ein irrtumsfreies Informationswissen zur Welterschaffung entnehmen zu können. Im deutschsprachigen Bereich gab es meines Erachtens niemanden, der sich aus naturwissenschaftlicher und aus theologischer Perspektive so intensiv mit kreationistischen Bewegungen auseinandersetzte wie er.
Mit großem Respekt und mit Dankbarkeit blicken seine Weggefährtinnen und Weggefährten auf das, was er hinterlassen hat. In seinen Texten wies er darauf hin, wie die Welt im Lichte vernünftigen Nachdenkens und im Horizont christlicher Hoffnung anzuschauen ist: ohne Beschwörungsformeln, ohne den Rückzug in eine heile Welt, mit dem Glauben an jenes Geheimnis, das der Grund der Zuversicht, des Vertrauens und der Hoffnung auf Schalom ist. Das Zitat, das über dieser Erinnerung an Hansjörg Hemminger steht, stammt aus dem Buch „Jenseits der Weltbilder“, das er 1991 zusammen mit dem Physiker Wolfgang Hemminger geschrieben hat. Die sich anschließenden Sätze beenden den Gedankengang des Buches und legen das Thema der Ruhe Gottes am siebten Schöpfungstag aus. „Diese Verheißung“ der Teilhabe an Gottes Schalom „interessiert uns nicht als Schlußstein eines religiösen Weltgebäudes, sondern als Verheißung für unser eigenes Leben. Auch unser Schicksal soll in den Gottesfrieden einmünden, auf den die ganze Schöpfung zustrebt.“ Unser Mitgefühl gehört seiner Ehefrau Josefine und seinen Kindern und deren Familien.
Reinhard Hempelmann, Berlin, 13.07.2022