Rüdiger Braun

Die gespaltene Republik: Die Wahl in der Türkei 2023

Gesellschaft

Die gespaltene Republik: Die Wahl in der Türkei 2023

Im hundertsten Jahr ihres Bestehens hätte man der Türkei eine etwas weniger sorgenvolle Lage gewünscht: wirtschaftliche Stagnation, galoppierende Inflation, wachsende Arbeitslosigkeit und ein nach einem über 50 000 Todesopfer fordernden Erdbeben im Südosten des Landes zutiefst überfordertes staatliches Krisenmanagement. All das steht einer ausgelassenen Feier der 1923 nach einem mehrjährigen Befreiungskrieg und unzähligen Opfern errungenen Unabhängigkeit entgegen. Am 29. Oktober 1923 rief der Anführer der türkischen Nationalbewegung, Mustafa Kemal Atatürk, die Republik aus, nur knapp ein Jahr, nachdem im November 1922 das osmanische Sultanat aufgehoben und der letzte Sultan Mehmed VI. des Landes verwiesen worden war.

100 Jahre später hegte ein beträchtlicher Teil des türkischen Volkes die Hoffnung, die von Atatürk ebenfalls 1923 gegründete und ausdrücklich säkular ausgerichtete Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) würde – unterstützt von einem von ihrem Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu angeführten Parteienbündnis – nach Jahrzehnten in der Opposition die Geschicke des Landes wieder in die Hand nehmen dürfen. Diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Doch angesichts der nach zwei Jahrzehnten AKP-Herrschaft in der Türkei nahezu vollständig gleichgeschalteten, regierungshörigen Medienlandschaft, die den Wahlkampf des Amtsinhabers Erdoğan nach Kräften unterstützt und den seines Kontrahenten mehr oder weniger ignoriert hat, ist es mehr als ein Achtungserfolg der vom Aleviten Kılıçdaroğlu angeführten Oppositionsallianz, bei den Präsidentschaftswahlen nahezu die Hälfte der Wählerstimmen (48 %) auf sich vereint zu haben.

Noch kurz vor der Wahl hatte der in Deutschland lebende türkische Oppositionelle Can Dündar auf einen Sieg der Allianz gehofft und zu träumen gewagt, dass bereits am 29. Oktober 2023, zum 100. Jahrestag der türkischen Republik, „die Trümmer der Erdoğan-Herrschaft beseitigt sein“1 würden. Ein Großteil der 1,5 Millionen wahlberechtigten Deutschtürken in Deutschland hingegen dachte und träumte anders und votierte, ganz ähnlich wie bereits 2017 – damals waren es 65 %, diesmal 67 % –, für eine Fortsetzung der Herrschaft Erdoğans.

Das liegt zum einen an den von ihnen konsumierten, nahezu vollständig von der Regierung kontrollierten türkischen Medien. Diese verschafften dem Amtsinhaber den größeren Bekanntheitsgrad und damit einen Wettbewerbsvorteil. Es liegt zum anderen am Nimbus Erdoğans als aufrechter Anwalt der (nicht nur türkischen) Muslime und als Vater der „neuen Türkei“ (Yeni Türkiye). Mag dieser Nimbus auch mittlerweile angekratzt sein, gilt Erdoğan immer noch als der starke Mann der Türkei, dem es zu Beginn des neuen Millenniums – nach Jahrzehnten wiederholter Machtübernahmen durch das Militär (Militärputsche 1960, 1970, 1980, 1997) – gelang, islamische Tradition und moderne Demokratie (zumindest temporär) miteinander zu versöhnen und die Türkei mit höchst ambitionierten Infrastrukturprojekten (u. a. dem größten Flughafen der Welt) zu modernisieren. Den Auswirkungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Misere des Landes nicht ausgesetzt, sehen viele türkeistämmige Deutsche Erdoğan als einen der Ihren, als einen, der sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet hat, sich von der republikanisch-kemalistischen Elite nicht unterkriegen lässt und nun mit den Mächtigen der Welt, den USA, China und Russland, auf Augenhöhe zu kommunizieren in der Lage ist.

Die Unterstützer der AKP in der Türkei selbst dürften, anders als deren deutsche Parteigänger, die Verschlechterung des Lebensstandards durchaus am eigenen Leibe gespürt haben. Doch sehen sie die Schuld dafür nicht bei Erdoğan, sondern machen die vermeintlichen Feinde der Türkei verantwortlich, „den Westen, die PKK, die Gülen-Gemeinde, so wie es ihnen die Regierungspropaganda über Jahre hinweg eingebläut hat“2. Wie sonst, fragen sie sich, hätte der von Erdoğan 2003 ins Werk gesetzte Aufbruch in die „neue Türkei“ eine solche Wendung nehmen können. Mitten in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise hatte die erst 2001 gegründete „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit im Parlament errungen und seither alle türkischen Parlamentswahlen gewonnen. Zu den wichtigsten, den Erfolg der AKP erst ermöglichenden Wählergruppen zähl(t)en Frauen, die aufgrund ihres Bekenntnisses zu einer mit dem Kopftuch unterstrichenen islamischen Lebensweise über Jahrzehnte hinweg durch eine zutiefst repressive Säkularisierungspolitik akademisch wie politisch ausgegrenzt waren. Mit dem Sieg der AKP 2002 stand ihnen nun die Möglichkeit offen, mit Kopftuch an der Universität zu studieren oder als Abgeordnete im Parlament vereidigt zu werden. Nur zehn Jahre nach dem Erdrutschsieg der AKP hatte sich im Zuge eines Wirtschaftsaufschwungs das Bruttoinlandsprodukt des Landes mehr als verdreifacht und der „anatolische Tiger“ genannte muslimisch-konservative Mittelstand der Türkei – mithilfe der Vergabe üppiger Staatsaufträge – den Beweis dafür erbracht, dass sich islamischer Glaube und ökonomischer Fortschritt, Tradition und Moderne spannungsfrei miteinander versöhnen lassen

Die Wende setzte im Frühsommer 2013 mit der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste in Istanbul ein, die eine junge, kosmopolitisch orientierte Generation zur Erhaltung eines beliebten Parks im Herzen der Stadt organisiert hatte. Der gescheiterte Putschversuch der Armee am 15. Juli 2016 war dann das Fanal zu einer nachhaltigen Aushöhlung der demokratischen Strukturen des Landes: Nur ein Jahr später ersetzte Erdoğan nach einem Verfassungsreferendum die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung durch ein vollständig auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem, das ihn – als Staats-, Regierungs- und Parteichef in Personalunion – mit nahezu unbegrenzten Machtbefugnissen ausstattet. Es genügt ein Fingerzeig, um Polizei und Staatsanwaltschaft in Bewegung zu setzen, gegen Kritiker, Künstler, Lehrer, Ärzte, Rechtsanwälte, Journalisten und Studenten vorzugehen.

Vor allem die Studenten sind es, welche die Einlösung von Erdoğans seit Beginn des Millenniums in unzähligen Wahlkampfreden gegebenem Versprechen erschweren, eine neue „fromme Generation“ (dindar nesil) zu erziehen. Urbanisierung, Digitalisierung und Globalisierung haben die türkische Gesellschaft zumindest in den großen Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel stärker geprägt als die frommen Pläne des Regierungschefs. Allerdings sind in der türkischen Provinz – die in dem riesigen Flächenland immer noch den Großteil der Bevölkerung beherbergt – die Vorbehalte gegenüber der globalisierten Moderne nach wie vor groß. Als „Schwarztürke“, also als Türke aus der Provinz, hat sich Erdoğan in seinem Wahlkampf wiederholt in ausnehmend destruktiv-diskriminierender Rhetorik über die städtischen „Weißtürken“ und deren am degenerierten Westen (LGBTQ+, Gender, Wokeness usw.) ausgerichtete religionsdistanzierte Weltanschauung ausgelassen. Mit seiner Beschwörung eines Kulturkampfes zwischen islamischer Moral hier und laizistisch-atheistischer Dekadenz dort hat er die in der Türkei ohnehin schon bestehenden tiefen gesellschaftlichen Gräben noch weiter vertieft. Mahir Unal, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AKP, tat es ihm Ende Oktober 2022 gleich und stellte deren islamisch-konservative Wählerklientel als Verlierer der von Atatürk von oben herab dekretierten republikanischen Reformen dar. Diese hätten Sprache und Denkweise der Türken nachhaltig „zerstört“.3

Mit seiner kulturkämpferischen Rhetorik kehrt Erdoğan zu seinen parteipolitischen Anfängen in den 1980er Jahren zurück. Damals saß er der Refah-(Wohlfahrts-)Partei (RP) vor, einer aus der Milli Görüş („Nationale Weltsicht“)-Bewegung hervorgegangenen islamistischen Partei, die nach dem Vorbild von Necmettin Erbakan (1926–2011), dem Gründer von Milli Görüş, eine explizit islamische Wohlfahrtspolitik propagierte. Erbakan selbst hatte bis in die 1990er Jahre hinein ein in Teilen fundamentalistisches und antisemitisches Weltbild propagiert, musste seine politische Karriere jedoch 1997 auf Drängen des Militärs beenden. Spätestens mit dem Militärputsch von 1997 war für islamisch-konservative und islamistische, der Muslimbruderschaft nahestehende Politiker klar, dass eine zu gewichtige islamische Politik und Rhetorik alsbald das Militär auf den Plan rufen würde. Die 2001 gegründete, ebenfalls aus der Milli Görüş-Bewegung hervorgegangene und von Erdoğan in den Wahlkampf geführte AKP stellte sich in ihrer Rhetorik darauf ein und nahm aus pragmatisch-parteipolitischem Kalkül von allzu islamistisch geprägten Sprachbildern Abstand.

20 Jahre später, beim Wahlkampf zur historischen Präsidentschaftswahl im Mai 2023, war davon nichts mehr zu spüren. In einer Rede nur zwei Tage vor der Stichwahl zwischen Erdoğan und Kılıçdaroğlu am 28. Mai ging Erdoğan sogar so weit, seine Anhänger dazu einzuladen, den für ihn bereits feststehenden Sieg der AKP doch gleich zusammen mit der 1453 erfolgten Eroberung Konstantinopels durch Mehmet II. zu feiern: nicht vor dem Topkapı Sarayi in Istanbul, der einstigen Residenz der osmanischen Sultane (heute ein Museum), sondern direkt vor dem Amtssitz des Präsidenten in Ankara, dem 2011 bis 2014 mit einer Bausumme von knapp 500 Millionen auf einer Anhöhe erbauten, etwa eintausend Zimmer umfassenden (fast weltgrößten) Präsidentenpalast.4 Erdoğan will seine „neue Türkei“ nicht einfach als Fortsetzung der 2023 von Atatürk ausgerufenen Republik verstanden wissen. Er denkt in (neo-)osmanischen Kategorien und lässt seine Türkei sehr viel früher, mit dem Sieg über das byzantinische Konstantinopel und – wichtiger noch – mit der siegreichen Schlacht der türkischen, von Alp Arslan angeführten Seldschuken gegen den byzantinischen Kaiser Romanos IV. bei Manzikert (1071 u. Z.) beginnen. Die weit ausgreifende, gleichsam welthistorisch-religiöse Dimension, die Erdoğan nicht nur seinem Wahlkampf, sondern seiner gesamten Präsidentschaft gab, hat 52 % der türkischen Wähler nicht unbeeindruckt gelassen. Sie werden der Einladung Erdoğans zur Feier seiner bestätigten Präsidialherrschaft, zumindest in Gedanken, gerne folgen.

Der beachtliche Rest von 48 % wird zusammen mit dem inhaftierten Philanthropen Osman Kavala, dem Erdoğan die Organisation der Gezi-Park-Proteste 2013 und Verbindungen zur Open Society Foundation von George Soros zur Last legt, auf die nächste Wahl und auf die wenigen fehlenden Prozent zum Sieg der Opposition hoffen: „Wir haben“, so betonte Kavala kurz vor der Wahl, „eine starke politische Opposition mit einer tief verwurzelten Tradition…, die einen Übergang zu einem autoritären System verhindern wird, selbst wenn die Opposition bei den kommenden Wahlen noch nicht gewinnen sollte“5. Andere wie der Exilant Can Dündar sind zurückhaltender und fragen sich, wie Menschen, die über Jahre hinweg (nicht nur im Wahlkampf) ausgegrenzt, beleidigt und zu Feinden gemacht wurden, wieder zu Freunden werden können? Wie soll sich eine Gesellschaft je wieder „normalisieren“ können, „die daran gewöhnt ist, jeden Tag und jede Stunde mit der Stimme, dem Bild, dem aggressiven Stil, den Hassreden und den beleidigenden Worten des ‚einen Mannes‘ zu leben?“6 Wenn Erdoğan gewinnt, so glaubte Dündar mit vielen anderen Türken noch vor der Wahl, wird dieses Land nicht mehr zur Demokratie zurückkehren und Deutschland eine „neue Migrationsbewegung“ erleben. Umfragen scheinen ihm recht zu geben: Ihnen zufolge würden „fast drei Viertel der Türkinnen und Türken zwischen 18 und 25 Jahren das Land verlassen, wenn sie könnten“7. Erdoğans Sieg dürfte sie darin bestärken.

Rüdiger Braun, 03.07.2023
 

Anmerkungen

  1. Can Dündar: Wenn der Tag kommt, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.5.2023), 18f.
  2. Şebnem Arsu/Maximilian Popp/Özlem Topçu: Erschüttert, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.5.2023), 11.
  3. Elmas Topçu: Turkey. 20 years of Recep Tayyip Erdogan and the AKP, in: Qantara.de, 21.11.2022, 2, https://en.qantara.de/print/487392 (Abruf: 1.6.2023).
  4. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Cumhurbaşkanlığı_Külliyesi.
  5. Turkish activist Osman Kavala, „We have a strong political opposition“, in: Qantara.de, 9.5.2023, https://en.qantara.de/print/49936 (Abruf: 1.6.2023).
  6. Can Dündar: Wenn der Tag kommt, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.5.2023), 19; nachfolgende Zitation: ebd., 18.
  7. Şebnem Arsu/Maximilian Popp/Özlem Topçu: Erschüttert, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.5.2023), 10.