Tobias Vöge, Jakarta

Der „Peace Train“ rollt nach Europa

Die „Indonesian Conference on Religion and Peace“ im interreligiösen Dialog

Kaum ein anderes Land in der Welt bietet so viel Diversität und damit auch Potenzial für religiöse Reibungsfläche wie Indonesien. Der Inselstaat in Südostasien und Ozeanien steht mit über 270 Millionen Einwohnern hinsichtlich der Bevölkerungszahl global auf dem vierten Platz. Außerdem ist Indonesien mit einem Anteil von etwa 87% Muslimen der größte überwiegend islamisch geprägte Staat. Neben dem Islam sind Christentum, Hinduismus, Buddhismus und Konfuzianismus als legitime Religionen anerkannt. Durch die Staatsphilosophie Pancasila (Sanskrit für „fünf Säulen“) soll eine Religionswahlfreiheit im Rahmen der staatlicherseits als monotheistisch verstandenen Religionen gewährleistet werden. Neben dem Monotheismus bilden Humanität, Zusammenhalt des Landes, Demokratie und soziale Gerechtigkeit die weiteren Säulen.1

Durch seine große Fläche (ca. fünf mal größer als Deutschland) und die insulare Geographie (über 17.000 Inseln, davon etwa 6.000 bewohnt) gestaltet es sich als religionspolitische Herausforderung für die Gemeinschaften, eine einheitliche Lehre über die geographischen Grenzen hinweg zu gewährleisten. Da Religion überall anders gelebt werden kann, werden zum Teil auch Radikalisierungen begünstigt. So gilt etwa in der autonomen Provinz Aceh die konservativ-islamische Grundordnung der Scharia. Die Todesstrafe ist landesweit als legitimes Sanktionsmittel akzeptiert, wurde aber seit 2016 nicht mehr angewandt. Andere (öffentliche) körperliche Strafen finden in Aceh regelmäßig Anwendung.

Insgesamt erlebt Indonesien seit dem Sturz des Diktators Suharto im Jahr 1998 einen verstärkten Einfluss konservativer islamischer Bewegungen, der sich auch in der Politik widerspiegelt. Zuletzt verabschiedete die indonesische Regierung in diesem Sinne ein Gesetz, das ab 2025 den außerehelichen Geschlechtsverkehr strafbar machen soll.2 Es kommen außerdem immer wieder Diskriminierungen und Angriffe auf Minderheiten im Namen der Religion vor – teilweise vor den Augen oder sogar mit Hilfe des Staates.3

Umso wichtiger sind institutionelle, akademische und zivilgesellschaftliche Akteure, die extremistischen Tendenzen entgegenzuwirken und ein friedliches interreligiöses Zusammenleben zu ermöglichen suchen.4 Als eine der Institutionen auf diesem Gebiet fungiert die „Indonesian Conference on Religion and Peace“ (im Folgenden ICRP), bei welcher der Autor dieses Berichtes derzeit ein dreimonatiges Praktikum absolviert.

Die ICRP wurde im Jahr 2000 in der Hauptstadt Jakarta von Vertretern von Islam, Konfuzianismus, Hinduismus, Buddhismus, Christentum und Abdurrahman Wahid, dem vierten Präsidenten der Republik Indonesien, gegründet und stellt als nichtstaatliche Non-Profit-Organisation (NGO) einen wichtigen Gesprächspartner im interreligiösen Dialog dar.5 International gibt es verschiedene Projekte und Partnerschaften, zum Beispiel mit „Religions for Peace“ oder der „Asian Conference on Religion and Peace“. Bei größeren lokalen Konflikten vermittelt und berät die Institution – beispielsweise bei den aktuellen Spannungen rund um die zum Teil sogar verfolgte Ahmadiyya-Gemeinde.

Diese aus der islamischen Sunna hervorgegangene Gruppe ist auch in Deutschland mit etwa 40.000 Mitgliedern in 224 Gemeinden6 vertreten und wächst durch die Zuwanderung verfolgter Ahmadis stetig.7 Insbesondere in Indonesien duldet der Staat die Diskriminierung der Gruppe mit etwa 400.0008 lokalen Anhängern. Ein Treffen von ICRP und Ahmadiyya führte zu einer ersten Zusage von Unterstützung der Gemeinschaft durch die NGO. Aber auch bei komplexen Fragen von Seiten privater Personen – wie z.B. zu interreligiösen oder homosexuellen Hochzeiten – ist die ICRP für viele Menschen der erste Ansprechpartner. Homosexuelle Partnerschaften sind in den meisten Teilen Indonesiens zwar nicht gesetzlich verboten, werden aber von der Gesellschaft häufig nicht toleriert.

Zu den bekanntesten eigenen Programmen zählen eine interreligiöse Jugendleiterausbildung („Pelatihan Kepemimpinan Pemuda Lintas Agama“) und der sogenannte „Peace Train“. In beiden Aktivitäten werden etwa 30 interessierte junge Menschen aus verschiedenen Religionen und Arbeitsbereichen für Themen des interreligiösen Dialogs sensibilisiert und zu Multiplikatoren ausgebildet. Dies geschieht nicht nur durch Vorträge, Workshops und Diskussionen, sondern vor allem durch den Besuch verschiedener Gemeinschaften, teilweise mit Übernachtungen.9

Der Peace Train war eine Reaktion des ICRP-Direktors und Pastors Frangky Tampubolon auf die Instrumentalisierung religiöser Vorurteile im Wahlkampf um den Gouverneursposten in Jakarta 2017. Gemeinsam mit drei interreligiösen FriedensaktivistInnen wuchs die Idee zu einer gemeinsamen Reise für junge Menschen verschiedener religiöser und kultureller Hintergründe.10

Nachdem der Peace Train aufgrund der Pandemie im letzten Jahr nicht stattfinden konnte, ist dieses Jahr als 15. Auflage eine einwöchige Durchführung auf Sumatra geplant. Bei der Vorbereitung des Zuges in den Hafenstädten Lampung und Palembang im Süden der Insel Sumatra war der Autor des Berichts selbst beteiligt. Die Gastfreundschaft und die Diversität der besuchten Gemeinden waren enorm und ließen ihn mit zahlreichen neuen Eindrücken, Kontakten und Freundschaften wieder zurück nach Jakarta reisen. Die neunstündige Fahrt von Lampung nach Palembang mit einem gefühlt im Schritttempo fahrenden Zug bot genügend Zeit, um sich mit anderen Mitreisenden über die am Peace Train partizipierenden Gemeinden auszutauschen. Der Verfasser selbst besuchte u.a. Gemeinden von Lutheranern, Baptisten, Katholiken, Ahmadis, Mahayana-Buddhisten, Hindus und Vertretern des Konfuzianismus.

Für viele TeilnehmerInnen ist der Peace Train der erste Blick ins „Innere“ anderer Religionsgemeinschaften. Da die Frage nach der Religion häufig auch mit der Angst vor Identitätsverlust verbunden ist, müssen die Beteiligten teilweise persönliche Grenzen überwinden. So ist etwa die Vorstellung weit verbreitet, man verrate durch die Anwesenheit in einem fremden Gottesdienst seine eigene Religion. Die TeilnehmerInnen erfahren im Programm selbst, dass die bloße Kenntnis einer Religion noch nicht automatisch mit Missionierung verbunden sein muss.11

Neben den Inhalten und Erfahrungen an den Haltestationen (wörtlich und im übertragenen Sinne) können sich die TeilnehmerInnen auf der Reise untereinander vernetzen und es entstehen Freundschaften und Netzwerke. Die religiösen Gemeinschaften können sich ihrerseits präsentieren und durch ihre Gastfreundschaft Weltoffenheit demonstrieren. Außerdem erhalten sie durch mediale Präsenz Aufmerksamkeit, die zum Abbau von Vorurteilen führen kann.

2024 soll der Zug eine Neuerung erfahren: ICRP möchte mit dem Peace Train für einige Wochen nach Europa. Vorgesehen sind mehrere Stationen in den Niederlanden, Deutschland, der Schweiz und dem Vatikan. Hierzulande sind bisher Besuche in den Städten Osnabrück, Wuppertal und Stuttgart geplant. Dieses Jahr unterstützt die finnische Kirche mit ihrer internationalen „Finns Church Aid“ das Projekt. Für 2024 ist die Finanzierung noch nicht abschließend geklärt, jedoch laufen Gespräche mit möglichen Sponsoren.

Durch seinen Einfluss insbesondere auf junge Menschen setzt die Aktion bei den eingangs erwähnten sozio- und religionspolitischen Herausforderungen in der breiten indonesischen Gesellschaft an. ICRP setzt mit dem Peace Train ein Zeichen für religiöse Toleranz und vernetzt über religiöse und geographische Grenzen hinaus. Spürbare Ergebnisse zeigen sich unter anderem in der Medienwirksamkeit und den anschließenden friedensstiftenden Projekten der TeilnehmerInnen. Sie werden dazu motiviert, eigenständig aktiv zu werden, wobei die Initiatoren von ICRP auch nach dem Peace Train beratend zur Seite stehen.12 Nachfolgend seien nur zwei Beispiele genannt:

Motiviert durch den Peace Train 2018 organisierte die Christin Clara Okoka (damals 24) einen eigenen Peace-Train in ihrer Heimat in West-Papua. In diesem Teil Indonesiens sind Vorurteile in der breiten Bevölkerung gegenüber religiösen und ethnischen Minderheiten besonders groß. Durch schlechte Lebensbedingungen und durch das nur sporadisch vorhandene Internet fehlt die Möglichkeit eines Informationsaustauschs. Genau an dieser Stelle setzt ihr Projekt an und ermöglicht so erste interreligiöse und interkulturelle Kontaktaufnahmen.

Der mittlerweile 23-jährige Muslim Raihan Rafisanjani nahm ebenfalls im Jahr 2018 am Peace Train teil. Als ehemaliges Mitglied des sog. „Islamischen Staats“ in Syrien hat er einerseits selbst mit vielen Vorurteilen bei der Reintegration in Jakarta zu kämpfen. Andererseits besitzt er aber auch einen seltenen Erfahrungsschatz, den er als Sprecher in Schulen und bei dem interreligiösen Frieden gewidmeten Veranstaltungen eindrucksvoll teilt. Damit wirkt er vor allem der Radikalisierung junger IndonesierInnen und der (illegalen) IS-Propaganda in Indonesien entgegen.13

Da die Planungen für 2024 noch nicht abgeschlossen sind, stehen die Städte noch nicht endgültig fest. Interessierte LeserInnen, die mehr über das Projekt erfahren wollen, seien auf die News-Website der ICRP – www.kabardamai.id/category/peacetrain/ – verwiesen, auf der sich weitere Informationen und Berichte über die bisherigen Peace Trains sowie über die Möglichkeiten zur Teilnahme aus Gemeindesicht finden.14


Tobias Vöge, 09.03.2023

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Duile, Timo: Indonesiens religiöser Pluralismus im Kontext der „konservativen Wende“ und die Ansor-Erklärung für einen „Islam der Menschlichkeit“, Cibedo 4/2018, 156 und Sinn, Simone: Interreligiöser Dialog in Indonesien. Ein Einblick in das Engagement institutioneller, akademischer und zivilgesellschaftlicher Akteure, Cibedo 4/2018, 166.
  2. Vgl. Tagesschau: Bis zu ein Jahr Haft: Indonesien verbietet außerehelichen Sex, 6.12.2022, www.tagesschau.de/ausland/asien/indonesien-verbietet-ausserehelichen-sex-101.html. (Diese und alle weiteren Online-Quellen wurden zuletzt aufgerufen am 9.3.2023.)
  3. Vgl. Duile 156–158.
  4. Für einen Abriss zu anderen Akteuren neben der ICRP vgl. Sinn.
  5. Vgl. die offizielle Seite der ICRP: www.icrp-online.com/icrp/public/profil.
  6. Vgl. www.remid.de/info_zahlen/islam/.
  7. Vgl. Evangelischer Pressedienst: Ahmadiyya-Vorsitzender: Deutsche Gemeinde wächst wegen Verfolgung, Stuttgart 27.06.2022, www.evangelisch.de/inhalte/202761/27-06-2022/ahmadiyya-vorsitzender-deutsche-gemeinde-waechst-wegen-verfolgung.
  8. Vgl. The Association of religion data archives: www.thearda.com/world-religion/national-profiles?u=109c.
  9. Vgl. Affan, Heyder: Pengalaman anak-anak muda beda agama di Indonesia 'berjumpa agar tak saling benci' - 'Toleransi harus dialami dan dirasakan', BBC 21.06.2021, www.bbc.com/indonesia/indonesia-57239388.
  10. Vgl. Kunjana, Gora: Peace Train Indonesia, Merawat Kebinekaan di Era Pandemi, Jakarta 15.01.2021, www.investor.id/national/233879/peace-train-indonesia-merawat-kebinekaan-di-era-pandemi.
  11. Vgl. Affan und Rochman, Aman: Peace Train gets people of different faith to talk to one another, Malang 29.08.2018, www.thejakartapost.com/life/2018/08/29/peace-train-gets-people-of-different-faith-to-talk-to-one-another.html.
  12. Vgl. ebd.
  13. Vgl. ebd.
  14. Für bildliche Eindrücke sei der folgende Image-Film auf dem YouTube-Kanal der ICRP empfohlen: www.youtube.com/watch?v=NOlRoE5-dgw&t.