Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte
Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, Verlag C. H. Beck, München 2013, 256 Seiten, 14,95 Euro.
Als Antwort auf einen oftmals rigiden Islam, der mit den Prinzipien des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates nicht vereinbar ist, hält die Hamburger Professorin für Islamische Studien in ihrem vorliegenden Werk ein Plädoyer für die Möglichkeit eines Islam, der Moderne und Glaube miteinander zu verbinden mag. Der von ihr skizzierte Reformislam ist dabei keine uniforme Gruppe, sondern ein ganzes Bündel von Ansätzen, die sich zum Teil überlappen und aufeinander beziehen, zum anderen Teil voneinander kritisch absetzen. Gemeinsam ist den von Katajun Amirpur vorgestellten neuen Ansätzen muslimischer Theologie jedoch, dass sie beim Koran als der fundamentalen Offenbarung Gottes ansetzen. Dabei leugnen die Vertreter des Reformislam keineswegs das „Axiom der Göttlichkeit des Korans“ (11). In Abgrenzung zu fundamentalistischen Formen des Islam beharren sie aber darauf, „dass man den Koran auch anders lesen kann, wenn man möchte“ (9), nämlich in Einklang mit Menschenrechten und Demokratie. Damit ist klargestellt, dass Koranauslegung immer auf hermeneutischen Vorentscheidungen beruht, die offengelegt und reflektiert werden müssen. Vorwürfen, dass daraus nur ein „weichgespülter Islam“ (16) entstehen könne, begegnet die Autorin zum einen mit der Tatsache, dass in der Früh- und Blütezeit des Islam die Pluralität der Koranauslegung als selbstverständlich angesehen wurde, zum anderen mit dem nach einer theologischen Antwort suchenden Wunsch vieler Muslime nach der Vereinbarkeit von Islam und Moderne.
Dabei ist der Begriff Reformislam durchaus umstritten. Amirpur nimmt im Titel ihres Werkes daher den Begriff des „Islamic Newthinking“ auf, der vor allem im persisch-schiitischen Diskurs geläufig ist, an dem die von ihr vorgestellten Denker Soroush und Shabestari teilhaben. Das Ziel, den Islam neu zu denken, verbindet die Deutsch-Iranerin zugleich mit dem schillernden Begriff des Dschihad, den sie dem militaristischen Sprachduktus der Islamisten entzieht und positiv als Einsatz für einen modernen und menschlichen Islam bewertet. Zeichen solcher Modernität ist zum einen die Vereinbarkeit mit Demokratie und freiheitlichem Denken; vor allem aber muss sich das neue islamische Denken daran messen, ob es zu einer grundsätzlichen Geschlechtergerechtigkeit beizutragen vermag. Im Anschluss an Nasr Hamid Abu-Zaid ist die Frauenfrage für Amirpur daher der „Lackmustest für den Islam in der modernen Welt“ (16). Da Theologie nie im luftleeren Raum betrieben wird, wird ein solchermaßen neu durchdachter Islam auch zu einem „Islam in und für Europa“ (47) führen müssen.
Angesichts der Vielzahl reformorientierter muslimischer Ansätze, die die Autorin kurz skizziert und deren Entstehung sie nachzeichnet (Kapitel 1 und 2), war eine Beschränkung auf einige wenige Theologinnen und Theologen unausweichlich. Die sechs von Amirpur vorgestellten Personen repräsentieren dennoch die Pluralität des Reformislam und sind von daher gut ausgewählt. Nicht zufällig setzt die Hamburger Islamwissenschaftlerin mit Nasr Hamid Abu Zaid ein (Kapitel 3), dem sie auch ihr Buch gewidmet hat. Abu Zaids Leben und Studien vertreten nicht nur den sunnitisch-arabischen Bereich des Reformislam. Sie zeigen auch die für viele muslimische Reformer typische Biografie, die mit einer traditionellen muslimischen Ausbildung beginnt, an die sich Phasen der Sympathie mit fundamentalistischen Bestrebungen anschließen, bevor ein kritisches Denken sich Bahn bricht, das schließlich zum Konflikt mit den traditionellen Eliten führt. Nicht wenige Reformdenker mussten wie Abu Zaid ihre Heimat verlassen und wirkten im Exil. Die Biografie des 2010 verstorbenen Islam- und Literaturwissenschaftlers zeigt damit auf, dass Koranexegese nicht nur eine wissenschaftliche Angelegenheit ist, sondern dass hier mit ungleichen Mitteln um „Macht und Deutungshoheit“ (242) gekämpft wird.
Ähnliches lässt sich für Fazlur Rahman (Kapitel 5) sagen, der in Deutschland immer noch zu wenig rezipiert wird. Die von ihm betriebene Doppelstrategie einer Kontextualisierung der Koranoffenbarung und einer Deduktion von Prinzipien und Werten aus dem Koran (eine Art „Kanon im Kanon“) basiert auf der Grundannahme, die auch Abu Zaid und andere Reformer teilen, dass nämlich der Koran zugleich Gotteswort und Menschenwort sei.
Die in den beiden folgenden Kapiteln vorgestellten Theologinnen eint, dass sie als Vertreterinnen eines „Gender Dschihads“ (117) charakterisiert werden können. Damit ist das Anliegen gemeint, „eine koranische Basis für Gender-Gerechtigkeit im Islam (zu) schaffen“ (120). Um die Diskriminierung der Frauen im Islam zu überwinden, muss man lernen, „sich vom Buchstaben zu entfernen und den koranischen Geist zu erkennen“ (143). Dabei plädiert die Afroamerikanerin Amina Wadud, Tochter eines methodistischen Pfarrers und später zum Islam konvertiert, für eine „Hermeneutik des Tawhid“ (134), die die prinzipielle Gleichheit von Mann und Frau im koranischen Schöpfungsbericht angelegt sieht, der keine Differenzierung in Mann und Frau erkennen lässt. Gegenüber solchen Einzelexegesen plädiert die aus Pakistan stammende Asma Barlas für ein neues Gottesbild, das als hermeneutischer Schlüssel auch jene Textstellen entschärft, deren diskriminierende Tendenz durch traditionelle Exegese nicht zu beseitigen ist.
Mit Abdolkarim Soroush und Mohammed Mojtahed Shabestari stellt die Deutsch-Iranerin schließlich zwei Denker aus dem persisch-schiitischen Bereich vor, die bei aller Unterschiedlichkeit das von einer Schicht muslimischer Gelehrter für die Koranexegese beanspruchte Interpretationsmonopol ablehnen und für eine Pluralität der Koranauslegung votieren. Soroush knüpft dabei an die Erkenntnistheorie Karl Poppers an und gesteht jeder Auslegung des Korans nur einen „bloßen Annäherungscharakter von Erkenntnis“ (185) zu. Demgegenüber rezipiert der weiterhin im Iran lebende, aber zwangsemeritierte Shabestari die protestantischen Theologen Barth und Tillich und betont die Glaubenserfahrung vor allen dogmatischen Einstellungen und Ritualen. Shabestari unterscheidet daher folgerichtig die Erfahrung der Offenbarung vom Koran als Produkt jener Erfahrung. Der Koran als literarischer Text kann – so Shabestari – grundsätzlich nicht objektiv gelesen werden. Letztlich kann daher „keine Lesart des Korans … beanspruchen, die einzig richtige zu sein“ (216).
Die Notwendigkeit, einzelne Reformerinnen und Reformer aus einer Vielzahl von möglichen muslimischen Theologen auszuwählen, weckt selbstverständlich die Frage, warum nicht auch andere Vordenker vorgestellt worden sind. Zu denken wäre hier unter anderem an Farid Esack aus Südafrika oder an Vertreter der Ankaraner Schule. Das Verdienst von Amirpur liegt aber darin, das Tor zur Beschäftigung mit der modernen muslimischen Theologie weit aufgestoßen und deren Vielfalt aufgezeigt zu haben. Von daher lässt sich ihr Werk als ein Meilenstein der Auseinandersetzung mit der innerislamischen Pluralität bezeichnen.
Ralf Lange-Sonntag, Schwerte