Dalai Lama und Franz Alt

Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Ethik ist wichtiger als Religion

Dalai Lama und Franz Alt, Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Ethik ist wichtiger als Religion, Benevento Verlag, Salzburg 2015, 56 Seiten, 4,99 Euro.

Anlässlich des Terroranschlags auf das Redaktionsbüro von Charlie Hebdo im Januar 2015 in Paris stellte der Dalai Lama, geistiges Oberhaupt des tibetischen Buddhismus, den modernen Stellenwert aller Religionen pointiert infrage: „Ich denke an manchen Tagen, dass es besser wäre, wenn wir gar keine Religionen mehr hätten. Alle Religionen und alle Heiligen Schriften bergen ein Gewaltpotenzial in sich. Deshalb brauchen wir eine säkulare Ethik jenseits aller Religionen“ (7). Diese Aussage steht im Mittelpunkt des im Juni 2015 erschienenen Buches „Der Appell des Dalai Lama an die Welt. Ethik ist wichtiger als Religion“, das gewissermaßen von zwei Autoren gestaltet wurde: dem Dalai Lama als Impulsgeber und dem Fernsehjournalisten und Buchautor Franz Alt, der die Publikation maßgeblich zusammengestellt hat.

Hauptintention beider Autoren ist die Verständnisförderung für urmenschliche spirituelle Werte und die Entwicklung einer darauf aufbauenden universellen, zeitgemäßen Ethik, die für Religionsnahe wie Religionsferne gültig sein kann (18). Die Argumente liefert der Dalai Lama in seinem Appell für eine säkulare Ethik und Frieden (9-14). In dem darauf folgenden Interview (15-46), das Franz Alt aus drei Gesprächen mit dem Dalai Lama zusammengestellt hat, werden die Kernthesen des Aufrufs mehrfach wiederholt und an konkreten Beispielen näher erläutert. Eine Einleitung von Franz Alt (5-7) und die Dalai-Lama-Story (47-51), die Leben und Wirken des Friedensnobelpreisträgers beschreibt, umrahmen den Hauptteil. Zusätzlich folgen biografische Daten des Dalai Lama (47-51) und einige Informationen über Franz Alts Werdegang (56).

Die zentrale Behauptung, Ethik sei wichtiger als Religion, erklärt der Dalai Lama mithilfe eines einfachen Beispiels (9): Wie das Wasser ist Ethik als angeborenes Grundbedürfnis des Menschen nach Liebe, Güte und Mitgefühl lebensnotwendig. Jede Religion ist dagegen ein spezifischer Tee, der mit Wasser gekocht, aber je nach Geschmack mit verschiedenen Zutaten angereichert wird. In der Vielfalt der Geschmäcker liegt auch die Problematik der Religionen. Eine Religion, die wie ein ungenießbarer Tee schlechte Zutaten enthält, bringt Nationalismus, Fundamentalismus oder Gewaltherrschaft hervor. Deshalb werden das Wissen und die Praxis von Konfessionen dem modernen, wissenschaftlichen Zeitalter nicht mehr gerecht (15). Neurobiologie, -psychologie und Hirnforschung haben vielmehr nachgewiesen, dass der Mensch in Meditationstechniken negative Emotionen bewusst überwinden und so seine inneren natürlichen, religionsunabhängigen Werte kultivieren kann (26). Auf diese Weise kann jeder Einzelne sein persönliches Glück finden sowie zur „äußeren Abrüstung“ von Intoleranz, Hass und Gewalt beitragen. Eine solche Werte-Transformation könnte das 21. Jahrhundert (doch) noch zu einem Jahrhundert des Friedens formen, in dem der schöpfungsbewusste Mensch Konflikte dialogbereit und gewaltfrei löst (35).

Bereits im Vorwort wird deutlich, dass sich in diesem Werk zwei Personen auf drei unterschiedlichen Ebenen begegnen: Franz Alt und der Dalai Lama stehen in einem christlich-buddhistischen Dialog, der sich auf eine interessensverwandte Arbeit und eine daraus erwachsene persönliche Freundschaft stützt. Anders gesagt: Ein Umweltschützer und Kapitalismuskritiker, der sich in seinen zahlreichen Publikationen und Vortragsreisen christlich positioniert, entwirft mit einem buddhistischen Religionsführer, der sich sowohl als pazifistischer Aktivist und politisch Verfolgter, als auch Bodhisattva des universellen Mitgefühls versteht, das Konzept einer säkularen Ethik. Der Widerspruch des Textes liegt in der Fülle der Interpretationsmöglichkeiten. Eine Ethik, die für alle Menschen gültig ist, fordert Kompromisse, die häufig zu moralisch konnotierten Verallgemeinerungen geraten. „Wir können diese Welt besser machen, wenn wir selber bessere Menschen werden“ (36). Aussagen wie diese sind nicht falsch, aber auch nicht konkret. Sie bieten vielerlei Anknüpfungspunkte. Auch Benevento Publishing, Verlagstochter des eigentlich branchenfremden Konzerns Red Bull Media House, zeigt sich stolz, dem Dalai Lama höchstpersönlich als erstem Vertriebspartner „Flügel verleihen“ zu dürfen. Und man kann dem Großunternehmen durchaus gratulieren, denn der schmale Band, der auch als kostenfreier E-Book-Download erhältlich ist, bewährt sich seit über zwei Monaten an der Spitze der Spiegel-Sachbuchliste. Doch wenn sich die Wahrheit tatsächlich so einfach gestalten ließe, wie dieser moralische Appell voraussetzt, wäre die Durchsetzung einer säkularen Ethik längst überflüssig geworden. So bleibt die Überwindung von geschichtlich gewachsenen, in der Identität des Menschen verwurzelten und religiös geprägten Moralgerüsten auch für den Dalai Lama und Franz Alt eine unüberwindbare Hürde.


Charlotte Schaufel, Berlin