Gabriele Lademann-Priemer

Der Dalai Lama in Hamburg

Religiöses Oberhaupt, Religionspolitiker und Projektionsfläche


In Deutschland ist die Präsenz buddhistischer Religiosität kaum zu übersehen. Es gibt viele Zentren und ein fast unüberschaubares Geflecht unterschiedlicher Richtungen und Schulen. Nach Schätzungen gibt es hierzulande 130000 deutsche und 120000 asiatische Buddhisten. Darüber hinaus ist eine sehr stark individualisierte und selektive Rezeption buddhistischen Gedankengutes zu beobachten, so dass sich damit Erscheinungsformen einer neuen Privatreligion zu erkennen geben. Für zusätzliche Popularität buddhistischen Gedankengutes sorgt die Person des Dalai Lama, auf den sich unterschiedliche Hoffnungen und Erwartungen richten. Vom 21. bis 28. Juli 2007 hat das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus Hamburg besucht und auf Einladung des dortigen Tibetischen Zentrums mehrere öffentliche Vorträge gehalten. Die Weltanschauungsbeauftragte der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, Gabriele Lademann-Priemer, hat die Großveranstaltung sowie das Begleitprogramm besucht und schildert ihre Eindrücke.

 

Schon im Vorfeld des Besuchs herrschte in Hamburg eine Art Kirchentagsstimmung – in buddhistischer Variante. Über dem Tennisstadion am „Rothenbaum“ stand das Rad der Lehre, mit zwei Gazellen als Schildhaltern, denn Gautama Buddha hatte seine erste Lehrrede im Wildpark von Saranath, dem sogenannten Gazellenhain, gehalten.1 Es wehte die Fahne des freien Tibet. Ein Aufkleber erläuterte ihre Symbolik: Der Berg bildet das Sinnbild der Nation, die sechs roten Sonnenstrahlen bedeuten die sechs Volksstämme. Die Farbe Blau soll das Zusammenspiel der religiösen und weltlichen Herrschaft darstellen, die Schneelöwen eine buddhistische Regierungsform. Die goldene Einfassung versinnbildlicht die Blüte der buddhistischen Lehre und die randlose Seite die Offenheit für andere Weltanschauungen. Schließlich symbolisiert das Juwel die drei „Juwelen“ Buddha, Dharma (Lehre) und Sangha (Ordensgemeinschaft).

Zu den öffentlichen Vorträgen kamen nach Schätzungen 40000 Menschen. Das Gedränge am ersten Tag war entsprechend groß. Viele Besucher trugen rote Bänder mit der Aufschrift „Der Dalai Lama in Hamburg“ um den Hals. Im Hamburger Museum für Völkerkunde gab es eine begleitende Ausstellung mit Vorträgen zum Buddhismus und musikalischen Darbietungen. Im Kino liefen Filme über den Dalai Lama und den Buddhismus. Im Umfeld der Großveranstaltung wurden auch Werbezettel verteilt, die zu einem Treffen „Gott oder Buddha?“ in eine Hamburger Pfingstgemeinde einluden. Auf dem Werbeblatt fand sich die Erzählung eines Lamas, der sich zu Christus bekehrt hatte. Die evangelikal motivierte Warnung durfte im Vorfeld nicht fehlen.

Im Folgenden soll das Hauptaugenmerk zunächst auf zwei Veranstaltungen gerichtet werden: auf den sog. Nonnenkongress, der vom 18. bis 20. Juli 2007 in der Universität Hamburg stattfand, und auf den Tibetmarkt, der gegenüber dem Tennisstadion aufgebaut war.

Der Nonnenkongress

Der Nonnenkongress sollte der vollen Anerkennung der buddhistischen Nonnenordination dienen. Buddhistische Nonnen sind auch heute noch oft benachteiligt, ihre Ordination (Bhikshuni- [Nonnen-] Ordination) wird vielerorts nicht als gültig angesehen; oft können sie nur zur „Novizin“ ordiniert werden. Die Anerkennung der Nonne ist in den verschiedenen buddhistischen Traditionslinien unterschiedlich. Das führt dazu, dass Buddhistinnen u.U. lange Reisen zu Klöstern anderer Traditionen und Aufenthalte dort auf sich nehmen müssen, um sich ordinieren zu lassen, wenn die Ordination überhaupt möglich ist. In manchen Ländern Asiens sind die Nonnen schlecht ausgebildet; höhere buddhistische Grade wie den Grad des Geshe (entsprechend etwa dem Dr. phil.) können sie aufgrund ihrer mangelnden Ordination nicht erwerben. Es gibt immer noch Nonnen, die dafür beten, als Mann wiedergeboren zu werden, und es gibt Menschen, die es für verdienstvoller halten, einem Mönch Almosen zu geben als einer Nonne. Seit vielen Jahren bemühen sich die Nonnen darum, in allen Traditionen als vollwertig betrachtet zu werden. Es hat auch schon vorher entsprechende Kongresse gegeben. Dieser aber wurde mit besonderer Spannung erwartet. Der Dalai Lama sollte die Streitfragen im Sinne der Frauen und der Vereinheitlichung entscheiden.

Als Redner und Referentinnen hatten sich für dieses Treffen weit mehr buddhistische Gelehrte angemeldet als vorauszusehen war. Die Traditionslinien der Ordination sollten festgestellt und interpretiert werden. Immer wieder wurde betont, der Buddha selbst habe das volle Mönchtum für beide Geschlechter begründet. Vor dem Auditorium Maximum der Universität, in dem die Schlussveranstaltungen stattfanden, war eine Sammlung von Grußworten von Lehrern aller buddhistischer Schulen ausgelegt. Sie sandten ihre Segenswünsche und Gebete, dass es gelingen möge, die Bhikshuni-Ordination in allen buddhistischen Traditionen, auch der tibetischen, zu etablieren, sodass lange und kostspielige Reisen vermieden werden. Auch der 17. Karmapa Trinley Dorje, das reinkarnierte Oberhaupt der Karma-Kagyü-Schule,2 hatte ein Schreiben geschickt. Er unterstrich, dass der Kongress von historischer Bedeutung sein werde. Die Anerkennung der weiblichen Linie solle dem Schutz und der Verbreitung der buddhistischen Lehre dienen.

Die Bedeutung der Versammlung wurde durch ein Referat der Hamburger Bischöfin Maria Jepsen über die „spirituelle Kompetenz von Frauen“ und durch den Vortrag des Dalai Lama hervorgehoben. Die entscheidenden Fragen wurden am Nachmittag auf einem Schlusspodium diskutiert, auf dem sowohl buddhistische Mönche als auch Nonnen saßen. Diejenigen, die der Nonnenordination grundsätzlich kritisch gegenüberstehen, waren allerdings nicht vertreten. Im Diskussionsverlauf ging es im Wesentlichen um die Frage, ob zur Gültigkeit der Ordination einer Frau ein Mönch am Ritual mitwirken müsse oder ob die Frauen das Ritual auch unter sich durchführen dürften. Vom Dalai Lama wurde eine abschließende Stellungnahme erwartet, doch er lehnte dies mit der Begründung ab , er sei kein Diktator und könne solche Entscheidungen nicht ohne den Orden treffen. Gleichzeitig ermutigte er die Frauen dazu, die mönchischen Pflichten einzuhalten und die Rituale des vollen Mönchtums durchzuführen. Damit versuchte er offensichtlich, für die Zukunft den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen und auf praktischem Wege die Akzeptanz der Bhikshuni-Ordination durchzusetzen.

Bei diesem Podium entsprach der Dalai Lama in keiner Weise dem Klischee des stets freundlich lächelnden, friedlichen und humorvollen Mönchs. Er trug seine Voten mit ruhiger und gelassener Strenge, aber nicht ohne eine gewisse Schärfe vor. Damit entsprach er der Rolle eines Religionspolitikers einer Weltreligion, für deren Einheit er eintritt. Dies hatten auch die Auseinandersetzungen mit den Anhängern der „Shugden-Sekte“, einer fundamentalistischen buddhistischen Gruppierung, erkennen lassen. Zudem habe er sich – wie mir berichtet wurde3 – deren Anwesenheit beim Abschlussritual am Ende der Unterweisung verbeten.

Der Tibetmarkt

Eine Attraktion war der Tibetmarkt gegenüber dem Stadion, eine Art buddhistischer „Markt der Möglichkeiten“, auf dem zahlreiche Devotionalien verkauft wurden. In seinem Zentrum befand sich eine Buchhandlung, die Bücher über den Buddhismus, Kalender mit Bildern des Dalai Lama und vielfältige Postkarten offerierte. Dabei lag – so der Eindruck – ein besonderes Gewicht auf Veröffentlichungen zur „Grünen Tara“, dem Bodhisattva des „Tätigen Mitgefühls“, einer tibetischen Schutzgottheit – vielleicht um das weibliche Element zu stärken. Sie wird sogar als „weiblicher Buddha“ verstanden.4 Die Tara sei ein Beispiel dafür, dass den Frauen das „gleiche Erleuchtungspotential wie den Männern zugesprochen wird“5.

Manche deutschen Kundinnen und Kunden erwarben Schutzsteine und Plaketten gegen Unglück und Gefahr, andere kauften Götterstatuen und religiöse Gegenstände. Zwischen Kitsch und Kunst fanden sich, manchmal verborgen, aber auch alte Stücke, darunter Musikinstrumente wie Trompeten und Muschelhörner. Sie hatten irgendwann einmal ihren Weg aus Tibet über den Himalaja nach Indien gefunden – und jetzt auf den Hamburger Tibetmarkt. Es handelt sich um Gegenstände, die manche bedrückenden Geschichten erzählen könnten und die angeboten werden, damit Menschen ihren Broterwerb einigermaßen sichern können. Droht ein kultureller Ausverkauf?

Ferner waren verschiedene Initiativen mit Ständen vertreten, die sich für ein freies Tibet, für Flüchtlinge, Gefangene und die tibetische Kultur einsetzen, darunter der Rote Lotus, Amnesty International, die Deutsche Tibethilfe, Nuns’ Welfare Foundation of Nepal und andere mehr. Fast überall konnte der Besucher Aufrufe unterschreiben, Spenden geben, kleine Dinge kaufen, mit deren Erlös ein gezieltes Projekt unterstützt werden konnte. Hübsche Kalligraphien, Handarbeiten, kleine Publikationen und DVDs waren dabei. Klöster in Indien und Tibet sind zu renovieren, Lehrer müssen bezahlt, Studienmaterial, Kleidung und Nahrung beschafft werden. In der tibetischen Region Dargye soll beispielsweise in Verbindung mit dem Tibetischen Zentrum Hamburg ein Klosterbezirk mit Tempel, Gästehaus, Schule und Krankenstation gebaut werden.6 Eine andere Organisation, Prisoners’ Assistance Nepal & Pauenhof e.V., nimmt sich der Betreuung nepalesischer Gefangener, vor allem inhaftierter Frauen und ihrer Kinder an, die unter katastrophalen Umständen leben müssen. Der Slogan lautet: „Eine Zusammenarbeit für eine bessere Gegenwart & eine gerechte Zukunft“. Außerdem werden Meditationen und Retreats angeboten.7

Die International Campaign for Tibet verkaufte eine Broschüre über den 11. Panchen Lama und sein Schicksal. Ein Junge mit Namen Gedun Choekyi Nyima ist 1995 vom Dalai Lama als Panchen Lama anerkannt worden und kurz darauf in China verschwunden. Über seinen Verbleib ist nichts bekannt. Die chinesische Parteiführung hat einen eigenen „Panchen Lama“ mit dem Namen Gyaltsen Norbu kreiert. Die Broschüre stellt fest, die Kommunistische Partei betrachte sich selbst als den lebenden Buddha.8 „Der Chef der Partei der Autonomen Region Tibet Zhang Qingli bezeichnete kürzlich die Chinesische Kommunistische Partei als ‚lebenden Buddha’ und ‚Eltern’ des tibetischen Volkes.“9 Im Begleitprogramm zu der Großveranstaltung stand ein Abend unter der Überschrift „China – Weltmacht ohne Menschenrechte“. In den Rahmen der Menschenrechtsproblematik gehören auch jene Projekte, die der Erhaltung der tibetischen Kultur dienen: Unterricht im Thangka-Malen, in tibetischer Musik und traditionellem Gesang, im Kunsthandwerk.

Das auch in Hamburg ansässige Theksum Tashi Chöling (TTC) war mit einem eigenen Stand vertreten. Sein Oberhaupt ist Trinley Dorje, der 17. Karmapa der Karma-Kagyü-Linie. Um die rechtmäßige Reinkarnation des 16. Karmapa war ein Streit entbrannt, weil Trinley Dorje zunächst in einem tibetischen Kloster lebte und verdächtigt wurde, ein Vertreter chinesischer Interessen zu sein. Seine dramatische Flucht vor den Chinesen nach Indien im Jahr 2000 wird von seinen Kritikern nicht zur Kenntnis genommen. Vom Dalai Lama ist Trinley Dorje als Reinkarnation des 16. Karmapa anerkannt.

Das Diamantweg Zentrum, das von Ole Nydahl gegründet wurde und auch mit einer Gruppe in Hamburg vertreten ist, trat im Rahmen des Tibetmarktes nicht auf. Es beansprucht ebenfalls, in der Karma-Kagyü-Tradition zu stehen. Hier wird ein junger Mann namens Thaye Dorje als 17. Karmapa verehrt.

Neben den genannten Angeboten gab es Werbung für Meditationskurse und Kurse zum „spirituellen Umgang mit Tod und Trauer“ sowie für Seminare mit buddhistischer Unterweisung. Ein Stand machte Werbung für den Verein International Academy for Traditional Tibetan Medicine (IATTM) – Germany, der im Jahr 2006 mit dem Ziel gegründet worden war, die Integrität und Authentizität der traditionellen tibetischen Medizin zu gewährleisten. Die tibetische Medizin ist mit dem indischen Ayurveda und der traditionellen chinesischen Medizin verwandt. Der Verein verfolgt das Ziel, eine sehr alte Wissenschaft und Kunst vor dem Untergang zu bewahren.10

In den verschiedenen Broschüren und Devotionalien sowie im Begleitprogramm wurde auch sichtbar, dass der tibetische Buddhismus viele uns fremde Elemente aufweist. Nicht nur die tibetische Kunst mutet teilweise befremdlich an, auch die Orakeltechniken zur Auffindung einer Reinkarnation oder das „Nechung-Orakel“ entsprechen nicht gängigen westlichen Vorstellungen. Die Trance des Nechung-Orakels erinnert an die Trance der Voodoopriester und -priesterinnen in Westafrika und lässt die Frage aufkommen, ob es nicht vielleicht einst eine gemeinsame Menschheitskultur gegeben habe. Solche Praktiken werden bei uns landläufig in den Bereich von Okkultismus und Aberglauben geschoben. Hierzulande werden die fremden Aspekte des tibetischen Buddhismus weitgehend ausgeblendet. Er wird dadurch zur Projektionsfläche: So nimmt der Einzelne oft nur die Seite wahr, die er auch sehen möchte und die der Dalai Lama zeigt, wenn er im Westen öffentlich vor einem Laienpublikum auftritt. Tantrische Texte und Rituale werden in der Regel nicht verstanden.

Der Dalai Lama im Tennisstadion

Die Tage mit dem Dalai Lama im Tennisstadion umfassten zwei Teile, einen Vortragsteil und eine Unterweisung. Für den Dalai Lama stand ein Thron bereit, auf dem er Platz nehmen konnte, wie er es bei seinem letzten Deutschlandaufenthalt auch getan hatte. Er zog es dieses Mal jedoch vor, sich in einen Sessel unterhalb des Thrones zu setzen. Lediglich das Abschlussritual hielt er vom Thron aus.

Im Vortragsteil ging es um die Friedensproblematik und das gewaltlose Zusammenleben von Menschen. Gewalt und Krieg wurden als Probleme bezeichnet, die sich die Menschen selbst schaffen würden. Durch die Änderung ihres Bewusstseins könnten sie sie auch wieder beseitigen. Wer anderen – auch seinen Feinden – schade, schade am Ende sich selbst. Gewaltlosigkeit wurde zum beherrschenden Thema des Vortrags; auch gegenüber der imperialistischen Politik Chinas mahnte der Dalai Lama zur Gewaltfreiheit. Deutschland komme für die Förderung einer Gesellschaft ohne Gewalt eine besondere Aufgabe in der Welt zu: Nach der Erfahrung von Krieg und Zerstörung sei dem Land der Wiederaufbau in Frieden und Wohlstand gelungen.

Manche Sätze, die wie aus einem Psychologiebuch klangen, überzeugten das Publikum. Immer wieder gab es Beifall. Gewürzt waren die Reden mit Humor und Witz. Manches klang auch banal. Es drängte sich die Frage auf, ob allein die Änderung des Bewusstseins ausreicht, um die Weltprobleme zu lösen. Unklar blieb auch, was der tibetische Buddhismus letztlich unter „Bewusstsein“ verstehen möchte. Eine Diskussion hierüber könnte fruchtbar sein.

Nach dem Vortragsteil gab es kurze Aussprachen mit Menschen, die sich in der Friedensarbeit engagieren oder sich denen zuwenden, die ihr Mitgefühl brauchen. Eine der Gesprächspartnerinnen war die Landespastorin Annegrethe Stoltenberg, Leiterin des Diakonischen Werks Hamburg. Sie war eingeladen worden, um das Obdachlosenmagazin Hinz & Kunzt vorzustellen. Durch die Beschäftigung mit dem Buddhismus und Reisen durch Asien hatte sie zum Christentum zurückgefunden.11 Der Dalai Lama hörte sehr genau zu, was ihm die Vertreter verschiedener Einrichtungen und Organisationen berichteten und brachte den Arbeitszweigen damit große Hochachtung entgegen.

Im zweiten Teil gab der Dalai Lama Belehrungen über die „400 Verse“ des Aryadeva, eines Philosophen aus dem 2./3. Jahrhundert. Diese Texte sind schwer verständlich. Am Ende stand die Ermächtigung in die Praxis des sog. „Manjushri“, d.h. des Bodhisattva der Weisheit, auch der Wissenschaft und Logik. Die Ermächtigung soll dazu befähigen, ihn zu visualisieren und eine entsprechende Mantrarezitation durchzuführen, so dass im Klang des Mantra seine geistigen Eigenschaften und Fähigkeiten im Menschen verwirklicht werden. Der Dalai Lama war vom Veranstalter, dem Tibetischen Zentrum Hamburg, gebeten worden, diese Ermächtigung durchzuführen.

Einschätzung

Viele Menschen waren zu diesem Groß-Event gekommen, um den Dalai Lama einmal „live“ zu erleben, doch auch im Stadion konnte man ihn am besten über die Monitore sehen. Viele waren begeistert, manche reagierten aber auch gelangweilt und wirkten etwas müde. Ob diejenigen, die an den Belehrungen teilnahmen, diese immer verstanden haben, bleibt fraglich. Für manchen reichte es wohl schon aus, die „Ausstrahlung“ des Dalai Lama erleben und spüren zu können. Oft heißt es, der Dalai Lama missioniere nicht, sondern fordere die Menschen auf, sich an die eigene angestammte Kultur und Religion zu halten. Er sieht natürlich die Bedrohung für die Religion, wenn man sie zum Steinbruch für die eigenen spirituellen Bedürfnisse degradiert, und er kennt die Gefahr, die darin liegt, kulturelle Grenzen zu überspringen, ohne sich bewusst zu sein, was man damit tut.

Als Eindruck bleibt aber, dass der Event doch auch Momente einer Missionsveranstaltung freisetzte. Zwar wurde niemand zur Bekehrung aufgerufen, doch viele projizierten gesteigerte Hoffnungen und Erwartungen auf dieses Großereignis. Mancher mag im Anblick und in der Person des Dalai Lama, den man nur aus der Ferne kennt und von dem man meist nur gewisse Aspekte erlebt, bereits die Erfüllung dieser individuellen Sehnsucht sehen. Zweifelsohne verschafft das buddhistische Oberhaupt mit seiner Person und über die von ihr ausgehende Wirkung dem Buddhismus zusätzliche Attraktivität. So erblickt mancher westliche Dalai-Lama-Faszinierte in Tibet bereits „Shangri-La“, das Land der Seligen – jedoch weitgehend unabhängig vom tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Zustand. Viele vermuten im Buddhismus weniger eine Religion als eine Wissenschaft oder gar eine Lebensphilosophie, sodass die Gründe, sich ihm zuzuwenden, oft rein intellektueller Natur sind.

Die Ernsthaftigkeit von Religion und Spiritualität zeigt sich daran, dass man lernt, mit der Gebrochenheit menschlicher Existenz und den Ambivalenzen des Lebens umzugehen. Sonst besteht für den Einzelnen die Gefahr, sich in eine heile spirituelle Welt zu flüchten, die es verhindert, sich mit den oft harten Realitäten des Lebens auseinanderzusetzen und sich für diejenigen Mitmenschen einzusetzen, die der tätigen Hilfe bedürfen.


Gabriele Lademann-Priemer, Hamburg


Anmerkungen

1 Erklärung von O. Ohanecian, dem ich auch weitere Erklärungen zum Buddhismus, besonders zu Manjushri und der Tibetischen Medizin, verdanke.

2 Vgl. Dharma-Nektar, Buddhistische Zeitschrift des Kamashila Instituts, 2007, Sonderausgabe.

3 Mitteilung von O. Ohanecian.

4 C. Roloff, Frauen im Tibetischen Buddhismus, in: Mandala – Buddhismus heute, 1/05/1995, 31-35, 33.

5 Ebd., 34.

6 D. Winkler, Dargye in Tibet – Land und Menschen, Hamburg 2007.

7 www.pauenhof.de

8 International Campaign for Tibet (Hg.), The Communist Party as Living Buddha – the Crisis Facing Tibetan Religion under Chinese Control, Washington / Amsterdam / Berlin / Brüssel, o. J. (2007).

9 Ebd., Übersetzung von L.-P. – Übrigens wies auch das Nachrichtenmagazin Der Spiegel auf den 11. Panchen Lama und seine Entführung unter dem Titel „Die Macht der Ohnmacht“ hin, Der Spiegel 29/2007 (16.7.2007), 80-93, bes. 90ff.

10 Vgl. TTM Journal – The Journal of Traditional Tibetan Medicine 1/1/2007, 7.

11 Hinz&Kunzt – Das Hamburger Straßenmagazin 174/2007, Vom Glück des Überlebens – Warum der Dalai Lama Mitgefühl und Warmherzigkeit als die notwendigen Grundwerte der Gesellschaft sieht