Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen
Ulrich Beck, Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen, Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag, Frankfurt a. M. / Leipzig 2008, 275 Seiten, 19,80 Euro.
„Die Aufklärung“ ist ein sehr komplexes historisches Phänomen. An ihrem Beginn im 17. und 18. Jahrhundert steht sie noch im Verbund mit der christlichen Religion, der sie nur langsam entwächst. Erst im 19. Jahrhundert emanzipiert sie sich endgültig von ihrem Mutterboden, um selbst quasireligiöse Ziele und teleologische Geschichtsverläufe zu generieren. Mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts sind jene Utopien des Fortschritts und des innerweltlichen Glücks zur Makulatur geworden. Übriggeblieben ist das ausgekernte Ideal eines selbstbestimmten Handelns in Menschenwürde sowie ein tiefes Unbehagen an historischen Identitäten, gewachsenen Institutionen und geistigen Erbschaften, sofern sich diese nicht rational, sondern nur durch ihr Herkommen ausweisen können.
Verblieben ist freilich auch die Lust am Pläneschmieden und Projektemachen am grünen Tisch, um die Welt einer besseren Zukunft zuzuführen. In diese Rubrik des „So sollte es sein – so wollen wir es machen“ fällt das neueste Buch des bekannten Münchner Soziologen Ulrich Beck, der seit seinem Erstlingswerk „Die Risikogesellschaft“ vor über zwei Jahrzehnten die öffentlichen Debatten in der Bundesrepublik Deutschland mitbelebt.
Ohne viel Federlesens konstatiert der Autor eingangs die Ent-Europäisierung des Christentums bei gleichzeitiger Persistenz der Weltreligionen, die Ausbreitung des Islam in weiten Teilen Europas sowie die Entbindung der Religionen aus ihren ursprünglichen nationalen, territorialen und kulturellen Kontexten: heikle Themen, bei denen sich der Rezensent als Soziologe gespannt fragt, wie sich diese Tatsachen auf das gesellschaftliche Miteinander auswirken. Hier nun nimmt das Buch eine überraschende und befremdliche Wendung: Obwohl der Untertitel konstruktive und destruktive Leistungen der Religionen gleichstark verbindet, baut Becks Schrift primär ein hässliches Feindbild von Religion auf, während ihre integrativen und solidarischen Kräfte ein mehr oder weniger kümmerliches Fußnotendasein erleiden müssen. Der Autor stützt sich zur Demonstration seiner Thesen vorwiegend auf das Christentum, mit der Begründung, er kenne sich woanders wenig aus (was sich an einzelnen Bemerkungen zu den Religionen Asiens erschreckend bestätigt).
Religionen versteht Beck tendenziell als Brandherde des Weltfriedens, auf deren „Feuer“ die Soziologie ihr „Löschwasser“ zu gießen habe (13). „Daher peinigt den modernen Menschen der Gedanke, religiöse Menschen könnten ernst machen mit ihrem Glauben“ (88). Zum Beleg ihrer Gefährlichkeit dient Beck die übliche Kriminalgeschichte des Christentums, deren Gruselstücke von der antiken Gnosisbekämpfung bis zu den „Deutschen Christen“ nach 1933 reichen und die er allesamt retrospektiv, vom heutigen liberalen Wertekatalog aus, vernichtend beurteilt.
Es käme ihm darauf an, „die Blutspur durch die Geschichte des Christentums“ (107) nachzuzeichnen. Zum verhängnisvollsten Wesenszug jeder Religion dekretiert er ihre angebliche Tendenz, den religiös anders Denkenden zu verteufeln, zu dämonisieren und zu verketzern. Religionen konstituieren sich nach Becks Meinung durch eine „Fundamentalunterscheidung und Hierarchie ... zwischen Gläubigen und Ungläubigen. Den ‚Ungläubigen’ ... wird der Status des Menschseins abgesprochen“ (74). Er zieht daraus die fast zwangsläufige Bilanz, „dass die Weltgeschichte der Religionen die Geschichte von Irren ist, die sich aktuell oder potentiell wechselseitig an die Gurgel springen“ (194f). „Auch heute geht die Wiederauferstehung des Glaubens mit einer öffentlichen Warnung des Gesundheitsministeriums einher: Religion kann töten!“ (218)
Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Bei der Zähmung der Religion setzt der Verfasser große Hoffnung auf die zunehmende Vereinzelung des Menschen, seine Entbindung aus den überlieferten sozialen Zusammenhängen und -halten. Er nennt das – wie in seinen früheren Publikationen – euphemistisch „Individualisierung“, ein Vorgang, der die Religion ins Religiöse verdampft. Der individualisierte und isolierte Mensch löst sich von den hergebrachten Gottesbildern bzw. macht sie mit seinen eigenen Erfahrungen kompatibel. „Der ‚eigene’ ist der nicht durch Herkunft zugewiesene Gott“ (178). Dieser Gläubige neuen Typs hätte der „Preisgabe der Souveränität, [der] Ein- und Unterordnung in die vorgegebene Hierarchie und Orthodoxie der Glaubensgemeinschaft“ (131) abgeschworen. Ihn kennzeichne eine „‚glaubwürdige Suche’, die ihm Autorität verleiht, nicht das Bemühen um Konformität mit den vorgegebenen Wahrheiten“ (119). Er identifiziere sich nicht mehr „mit dem Reinheitsideal der klerikalen Hüter institutionalisierter ‚Volkskirchen-Wahrheiten’“ (180). Moralisch beteilige er sich „nicht an der Verbreitung von Ignoranz und Tod mit Hilfe der Autorität der Religion“ (185). Kurz gesagt: die „kollektive Religion zerfällt“ (116). Eine Epochenschwelle ist erreicht, mit der ein neuer Menschenschlag selbstbewusst die Bühne der Religionsgeschichte betritt, der nur noch seinem persönlichen Gewissen und seinem Gusto gehorcht. Entsprechend bildeten sich neue, quasisakrale Institutionen. „In diesem Sinne wäre Amnesty International eine moderne Kirche des eigenen Gottes“ (118).
Eine hundertprozentige Garantie für zivilisiertes religiöses Verhalten gewährt der Individualismus – so viel erkennt Beck – noch nicht. Individualismus kann in Terrorismus umschlagen oder in religiöses Fellachentum: „religiöses Analphabetentum breitet sich aus; Atheisten wissen nicht einmal, an welchen Gott sie nicht mehr glauben sollen“ (115). Aber da helfen weitere Domestikationsstrategien: die Entpolitisierung des Religiösen, die Vermittlung religiöser Inhalte auf kommerziellen Märkten, der religionsneutrale Verfassungsstaat, ein sich herausbildendes universelles Weltethos, die kosmopolitische Revolution. Weil nun selbst dieses Bündel von Maßnahmen noch nicht die endgültige Pazifizierung der religiösen Energien verbürgt, entwirft Beck am Ende des Buches noch eine besondere Versicherungspolice. „Im Verhältnis der weltreligiösen Wahrheiten zueinander bedarf es eines weltbürgerlichen Kosmopolitismus der Religionen, der nicht auf unumstößlichen, den Menschen vorgegebenen Wahrheiten beruht, sondern auf von Menschen untereinander vereinbarten, letztlich auf Regeln, Verträgen, Verfahren (Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit usw.)“ (242).
Wahrlich nichts Geringeres als die Ideen der Frühaufklärung (Pufendorf, Hobbes, Grotius), die die Gesellschaft aus dem Vertragsschluss entstehen ließen (eine Idee, welche die Soziologie schon vor über einem Jahrhundert zugunsten „präkontraktueller“, kollektiv bewusster gemeinschaftlicher Elemente [Emile Durkheim] ad acta gelegt hat), feiern hier fröhliche Urständ. Freilich müsste dann der Staat (oder überstaatliche Instanzen) wieder in die Rolle des allmächtigen Wächters über die Einhaltung der Verträge schlüpfen. Denn Verträge, die nicht geheiligt sind, können jederzeit umgangen, gebrochen, verfälscht und verleugnet werden, wenn es die eigenen Interessen gebieten; Verfassungen können verändert oder gestrichen werden oder einfach historisch erledigt sein. Von dieser geschichtlichen Erfahrung zeigt sich Beck unberührt, wie ein Generalbass begleitet sein Projekt das „Anything goes“ des erzliberalen Vordenkers, das nur durch das Gesetz eingeschränkte Laissez-faire. Er appelliert an die Religionen, ihre „Fraglosigkeit“ zugunsten eines Zweifels am eigenen Weg aufzuheben. Es ist die „Religion der Philosophen“, ebenfalls ein Kind der Frühaufklärung, von der er träumt. Darum wird ihm die Kernspaltung des einen Gottes in unzählige Partikel zur conditio sine qua non künftiger Friedensordnungen. „Es kommt darauf an, die Individualisierung der Religion nicht zu verteufeln, weil mit ihr über Religionsgrenzen hinweg die friedfertige Auflösung der Wahrheitsabsolutismen eingeübt wird“ (249). Die Alternative „wäre die Hölle des einen Universalismus, der alle anderen unter sich begraben hat“ (243).
Man meine nicht, Beck sei blinder Gefolgsmann der Aufklärung und ihrer Resultate. „Postindustrielle Gesellschaften haben die Reserven, von denen die ‚einfache’ Industrialisierung gezehrt hat, aufgebraucht – sowohl die vorgefundenen Ressourcen in der Natur als auch das soziale und kulturelle Kapital der vormodernen Gesellschaftsformationen“ (92). Und die Kirche der öffentlichen Meinung – so will ich sie einmal nennen – agiert nach dem- selben Exklusivitätsmuster wie die traditionellen Religionen: „Ebenso wie die Seite der Gläubigen den ‚Glauben der Säkularisten’ als Irrglaube anprangert, betrachtet die säkulare Seite die religiösen Mitbürger als aus ihrem Museumsgrab entwichene Fabelwesen, die sich selbst aus dem Kreis der Modernisierungsakteure ausschließen“ (223). Dieser Bankrotterklärung der Moderne folgt aber keineswegs ein echter Neuanfang. Der Autor begründet das zunächst biografisch. „Ich, Soziologe, der ich bin, habe im Glauben an die Erlösungskraft der soziologischen Aufklärung das Säkularismus-Idiom im Blut“ (13). Und in der Sache Religion fürchtet er eine Regression, wenn das Projekt Aufklärung ihr Ende finden würde. „Eher droht die Gefahr, dass mit dem Ende des säkularen Universalismus die Rationalitätsgrundlagen zerbrechen, was allen Bemühungen, die weltreligiös-weltgesellschaftlichen Konfliktpotentiale zu zivilisieren, die Grundlage entzöge. Die Gefahr also, die mit dem Tod der säkularen Hoffnung letztlich heraufbeschworen wird, ist die Wiedergeburt von Glaubenskriegern und Glaubenskriegen ... die man im Fortschreiten der säkularisierten Moderne überwunden glaubte“ (64).
Es ist wirklich schade, was Ulrich Beck aus einer guten Anlage der Untersuchung macht. Seine Grundbeobachtung stimmt ja: „Dass es mit der Religion wieder ernst wird, würde man am Aufbrechen kampfbereiter Fronten merken“, orakelte 1970 der Sozialphilosoph Arnold Gehlen weitsichtig. Dass Beck nun im Kult des „eigenen Gottes“, im Rückzug auf den je eigenen Standpunkt, ein Remedium erblickt, zeugt nicht gerade von Realitätssinn, eher hat er sich von der Ideologie des autonomen Menschen einfangen lassen. Denn die Gefahr militanter Austragung von Konflikten nimmt zu, je separierter die Kombattanten sind – bornierte Sektierer eben. Sie greifen gern zur Kanone, wenn ihnen (oder einem Einzelgänger) die anderen nicht mehr passen. Die beschämenden Vorgänge in Nordirland etwa waren ja keine Kriege zwischen Vatikan und der Church of England, sondern zwischen Regionalfürsten (Warlords sollte man besser sagen). Nein, umgekehrt wächst die Chance echten interreligiösen Dialogs: durch große, umfassende religiöse Vereinigungen, deren Verantwortungsträger mit Augenmaß aufeinander zugehen und der Loyalität ihrer Mitglieder gewiss sein dürfen. Becks Konzept einer entmachteten „kollektiven“ Religion schafft dagegen ein gefährliches Vakuum nicht mehr beeinflussbarer Sonderlinge und Fanatiker.
Vollkommen berechtigt fragt Beck nach der Rolle der Kirchen und Religionen in einer total globalisierten Welt. Hier möchte ich auf einen anderen Liberalen hinweisen, den kürzlich verstorbenen Ralf Dahrendorf. Er hielt – unter anderem – die Religionen für ein adäquates Mittel, „Ligaturen“ herzustellen, wo die meisten der traditionellen Bindungen mürbe werden oder zerreißen. Man könnte auch sagen: Die institutionalisierte Religion vermittelt Heimat, wo die angestammten Heimaten durch den permanenten Wandel instabil werden.
Die Soziologie hat im Gefolge des kulturrevolutionären Aufräumens nach 1968 zu weiten Teilen den Kontakt zum Forschungsgegenstand „Religion“ verloren. Nach 40 oder 50 Jahren soll er wieder hergestellt werden, weil diese Gestalt des Lebens offensichtlich nicht von unserem Planeten verschwindet. Aber sie ist Ulrich Beck fremd, unheimlich und bedrohlich geworden. Ich spüre das nicht zuletzt am haarsträubenden Mangel an theologischen, kirchen- und religionsgeschichtlichen, auch religionssoziologischen Kenntnissen, mehr noch am fehlenden lebensgeschichtlichen Umgang mit dem Christentum. Spürt der Autor auch diese Mängel? Das Buch beginnt mit dem Satz „Ist es möglich, ein Buch mit dem Eingeständnis des Scheiterns zu beginnen?“ (13), und endet mit der Selbsteinschätzung eines „buchförmigen Stochern im Nebel“ (249). So viel Ironie lässt hoffen.
Rainer Waßner, Hamburg