Martin Greschat

Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick

Martin Greschat, Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 2014, 164 Seiten, 24,90 Euro.

In der Springflut gegenwärtiger Erinnerungsliteratur zum Ersten Weltkrieg ist relativ wenig vom Tun und Lassen der Kirchen und Religionsgemeinschaften die Rede. Hier füllt das schmale, aber inhaltsreiche Bändchen des emeritierten Münsteraner Kirchenhistorikers Martin Greschat eine Lücke.

Sein Blick auf die Haltung der christlichen Kirchen zu und in diesem Krieg bleibt nicht bei Europa stehen. Neben amtlichen Äußerungen aus den Kirchen der am Kampf beteiligten Mächte (zentral Deutschland, Frankreich, England, Russland) werden in eigenen Kapiteln kirchliche Stimmen aus den USA sowie aus Asien und Afrika vorgestellt. Letztere umfassen sowohl die Missionskirchen in den Kolonien als auch die gerade in diesen Jahren wachsenden indigenen, von den Kolonialmächten wie ihren Missionsgesellschaften unabhängigen christlichen Kirchen. Ein wichtiges Kapitel ist den – leider erfolglosen – Friedensbemühungen und Vermittlungsversuchen aus den Kirchen neutraler Länder gewidmet. Eine herausragende Rolle spielen dabei die protestantischen Stimmen aus Skandinavien (nicht zuletzt der in der ökumenischen Bewegung wichtige Erzbischof Söderblom von Uppsala) und auf katholischer Seite Papst Benedikt XV.; vom natürlich neutralen kleinen Vatikanstaat aus versuchte er als Kirchenführer wie als Diplomat vermittelnd und friedensstiftend zu wirken. Greschat macht schon in seiner Einleitung deutlich, dass es ihm um mehr geht als um Ereignisgeschichte, nämlich um grundsätzliche Fragen christlicher Identität: Kann das Christentum in seinem Wesenskern verändert werden oder sich selbst verändern, wenn es mit staatlich gefordertem Kriegsgeist und Militarismus konfrontiert wird? Was passiert mit der christlichen Botschaft, wenn Kaiser und Nation zu heilsgeschichtlichen Größen mutieren? Diese theologisch-weltanschauliche Herausforderung ist bislang meist erst in den extremen Ausläufern wie der völkischen Theologie der NS-Zeit und der Glaubensbewegung „Deutsche Christen“ analysiert worden; die Anfänge sind aber schon hier, in der „Urkatastrophe Europas“ (George Kennan) zu beobachten.

Das gilt vor allem für die christlichen Kirchen in Europa. Es verblüfft zu sehen, wie sehr diese die Tatsache verdrängten, dass auf der anderen Seite der Front auch Christen in den Schützengräben lagen. In bruchloser Anpassung an die staatliche Kriegspropaganda wurde die jeweils andere Seite als glaubens- und sittenlos dämonisiert, die eigene Seite hingegen zum Verteidiger nicht nur der Zivilisation, sondern der gottgesetzten Ordnung, letztlich Gottes selbst stilisiert. In der deutschen Variante wurde dann eben englischem Krämergeist und Materialismus, französischem Rationalismus und Atheismus der Kampf angesagt. Umgekehrt nutzte die englisch-französische Propaganda insbesondere den deutschen Überfall auf das neutrale Belgien, um den eigenen Kampf als Rettung vor Barbaren und Heiden darzustellen. So predigte der französische Bischof von Arras 1914: „Ihr seid Kämpfer für die Sache Gottes und der Menschheit, moderne Kreuzfahrer in einem Kreuzzug ...; er ist insofern göttlich, als eine neue Barbarei die edlen Ideen der Gerechtigkeit und der universalen Liebe unterdrücken will ...; ihr kämpft mit Gott!“ (zit. 24). Das Gegenteil verkündete nicht nur das Koppelschloss der deutschen Soldaten („Gott mit uns“), der Berliner Oberhofprediger Ernst Dryander wusste es noch genauer: „Wir ziehen in den Kampf für unsere Kultur gegen die Unkultur, für deutsche Gesittung wider die Barbarei, für die freie, deutsche, an Gott gebundene Persönlichkeit gegen die Instinkte der ungeordneten Masse“ (zit. 20), womit letztlich die „Ideen von 1789“ gemeint waren. Auch englische Theologen sprachen ebenso unbefangen von der eigenen Nation als auserwähltem Volk wie Amerikaner von ihrer göttlichen Mission. Allgemein ging es nicht nur um einen notwendigen oder gerechten, sondern um einen heiligen Krieg. In einem ersten Zwischenfazit schreibt Greschat allen beteiligten Kirchen eine „Infizierung, wenn nicht sogar Übermächtigung durch einen religiös überhöhten Nationalismus“ zu. Somit müsse man „aufs Ganze gesehen eine erschreckende Preisgabe der christlichen Substanz in den Voten der europäischen Kirchen während des Ersten Weltkriegs konstatieren“ (48). Solche klaren Worte sind ebenso wahr wie spät; im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg kamen sie öffentlichkeitswirksam nur von Kirchenkritikern von außen wie Kurt Tucholsky oder George Grosz.

Neu ist bei Greschat auch der Blick über den europäischen Zaun hinaus – mit ernüchterndem Ergebnis. Ob in Indien oder Korea, ob in Ostafrika oder Westafrika, die Kolonialmächte taten genau das Gegenteil dessen, was sie noch auf der Kongo-Konferenz in Berlin 1894/95 beschlossen hatten: „Afrika aus einem künftigen Krieg herauszuhalten, um den Schwarzen nicht das Schauspiel gegeneinander kämpfender Weißer zu bieten“ (zit. 134). Die europäischen Missionare unterstützten nicht nur verbal den Kriegskurs ihrer jeweiligen Heimatländer; sie führten auch mit Druck und Täuschung Einheimische dem Kriegsdienst der Kolonialmächte zu, sei es in Afrika oder Asien selbst (auch dort wurde gekämpft), sei es als zwangsrekrutierte Soldaten in Europa. In den französischen Protektoraten Nordafrikas galt die allgemeine Wehrpflicht für Frankreich. Ein tunesischer Soldat schrieb an seinen Vater: „Der Christ hat ein Mittel zu seinem Schutz ersonnen ...; unsere Leichen bleiben draußen liegen, sie dienen den Ratten zur Nahrung ... Der Christ geht sehr freigebig mit unserem Leben um“ (zit. 132). Solche Erfahrungen minderten die Glaubwürdigkeit der missionarischen Verkündigung erheblich, in Afrika ebenso wie in China oder Indien. Ein Hindu schrieb 1919 an einen Missionar: „Warum vergeudet ihr eure Zeit damit, uns zu evangelisieren? Christentum bedeutet für uns Bajonett und Maschinengewehr“ (zit. 137). Als kulturelles oder moralisches Vorbild, wie es ihr Anspruch war, hatten die weißen Missionare weitgehend verspielt.

Greschat zieht ein niederschmetterndes Fazit: „Der Erste Weltkrieg stellt die umfassende Katastrophe des europäischen Christentums in allen seinen Konfessionen dar ... In Afrika und Asien bröckelte durch den Krieg die Vorherrschaft der Europäer und im Zusammenhang damit die europäische Form des Christentums. Erheblich gefördert wurde dadurch jedoch die Entwicklung vielfältiger Gestalten eines eigenen, indigenen Christentums. Dieser Prozess bewirkte auch im Protestantismus die Verschiebung des Christentums weg von Europa zu anderen Kontinenten“ (151).

Es sind gerade solche weitreichenden Perspektiven, welche die Lektüre dieses Buches lohnend machen, auch über die historische Fragestellung hinaus. Eine offene Frage bleibt die Erklärung und Deutung dessen, was damals in Kirche und Theologie passiert ist. Handelte es sich einfach um eine Anpassung an einen nationalistischen und militaristischen „Zeitgeist“? Diese Kategorie wurde schon früh herangezogen, sie reicht aber nicht aus. Die auch in gegenwärtigen, thematisch ganz anders (z. B. um Sexualität und Familie) zentrierten Auseinandersetzungen beliebte Polemik gegen „zeitgeistige Theologie“ setzt ja unausgesprochen voraus, dass „der Zeitgeist“ dem Evangelium entgegengesetzt sei. Das muss aber im Einzelfall inhaltlich bestimmt werden; Zeitgeist ist nicht gleich Zeitgeist. Ist die Erklärung des Ökumenischen Rates der Kirchen von 1948 „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ einfach Ausfluss eines jetzt eben kriegsmüden, pazifistischen Zeitgeistes? Ist es die in der katholischen Kirche erstmals 1965 ausgesprochene Anerkennung einer Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen? Sind nicht vielmehr beide Aussagen der Bergpredigt mit ihrer Seligsprechung der Sanftmütigen und Friedensstifter zeitlos näher als eine Kriegstheologie wie 1914? Ist ein auf Gleichheit setzender „Zeitgeist“ dem Evangelium ebenso nah oder fern wie einer, der bestimmte Völker und Rassen privilegiert? Nein, man muss schon genauer hinsehen. Die Krise der Kriegstheologie von 1914 geht tiefer. Sie liegt darin, dass vorletzte Werte zu letzten gemacht wurden, dass Kategorien wie der eigenen Nation, der eigenen Kultur metaphysische Weihen verliehen wurden. Letztlich handelte es sich um eine Form von Götzendienst. Scharfsinnige Beobachter wie der aus der neutralen Schweiz kommende Karl Barth erlebten das damals schon als Bankrotterklärung der herrschenden Theologie.

Ist also der Erste Weltkrieg eine Urkatastrophe nicht nur der Politik, sondern auch der Theologie? Mindestens bleibt die Mahnung an die theologische Zunft, gerade nicht gesellschaftlich-profane Sachverhalte metaphysisch zu überhöhen, sondern sich in dem zu üben, was Michael Nüchtern, der frühere Leiter der EZW, einmal die „Entsakralisierung des Profanen“ genannt hat.


Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M