Johannes Kandel, Reinhard Hempelmann

Der Erzbischof von Canterbury und die Scharia

Anmerkungen zur muslimischen Existenz in Europa

Am 7. Februar hielt der Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, vor rund 1000 Zuhörern eine Rede im „Royal Court of Justice“, London, mit dem Titel „Civil and Religious Law in England: a Religious Perspective“. Dem Publikum wurde rasch klar, welchen Sprengstoff diese Rede enthielt. Sie löste eine heftige, kontroverse Diskussion aus, die von den Medien auf die Schlagzeile gebracht wurde: „Scharia über Großbritannien“. Die Emotionen gingen hoch. Ruth Gledhill, Times-Korrespondentin für Religion, fragte entgeistert und drastisch: „Ist der Erzbischof übergeschnappt?“ („Is the Archbishop bonkers?“) Williams war von den scharfen, überwiegend kritischen und ablehnenden Reaktionen sichtlich überrascht. Sein Büro teilte mit, dass der Erzbischof keineswegs für die Einführung der Scharia als eine Form paralleler Rechtsprechung plädiert habe. Dies wiederum rief die Kritiker erneut auf den Plan, die ihn jetzt der fortschreitenden Vernebelung seiner Aussagen bezichtigten.1 Beifall erhielt der Erzbischof in erster Linie vom islamistisch dominierten „Muslim Council of Britain“ (MCB) und einer Reihe konservativer islamischer Gruppen. In der Church of England waren Lob und Tadel einigermaßen gleich verteilt, wobei das Lob vor allem von denen kam, die sich seit Jahren im „Inter-Faith-Dialogue“ engagieren und sich als Fürsprecher und Anwälte religiöser Minderheiten verstehen. Der unter allen Christen unumstrittene Dialogauftrag wird von zahlreichen Repräsentanten der Church of England auch als öffentliche Parteinahme für die Interessen der Menschen anderen Glaubens verstanden, mit dem Ziel, mehr Zusammenhalt in der Gesellschaft zu schaffen. Vor diesem Hintergrund sind die Aussagen des Erzbischofs zu verstehen.

Wie immer man die Rede des Erzbischofs beurteilt – durch sie wurde eine politische Polarisierung sichtbar und hörbar, die weitgehend unter dem Deckmantel multikulturalistischer „Political Correctness“ verborgen geblieben war. Die interreligiös erfahrenen Briten ereifern sich öffentlich in Kommentaren pro und contra über das Verhältnis von Religion und Politik, Islam, Islamismus und die Rechte der muslimischen Minorität. Fundamentale Fragen des Zusammenlebens werden aufgeworfen: nach Sicherung von Menschenrechten, nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einer religiös und kulturell pluralistischen Gesellschaft, die sich mit wachsenden Anerkennungsansprüchen der politischen Sprecher ihrer muslimischen Minorität konfrontiert sieht. Es geht dem Erzbischof von Canterbury nicht um die Gewährleistung von Religionsfreiheit, sie gilt im EU-Raum ohnehin gemäß Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Es geht ihm nicht um Respekt, Toleranz und moralische Anerkennung der spezifischen „religiösen“ und „kulturellen“ Identitäten muslimischer Gemeinschaften. Vielmehr hält Williams eine Inkorporation einer „ergänzenden Rechtsprechung“ („supplementary jurisdiction“) in zivilrechtlichen Rechtsmaterien gemäß den Bestimmungen der Scharia für unvermeidlich. Damit wird im Verhältnis von nicht-muslimischer Mehrheit und muslimischer Minderheit eine neue Qualität der Beziehungen gefordert. Im Musterland des europäischen Multikulturalismus, das nach Meinung mancher Kritiker auf dem Wege ist, „islamisiert“ zu werden („Londonistan“)2, wird eine scharfe und dringend notwendige Kontroverse ausgetragen.

Optionen muslimischen Lebens in Europa

Wenn ein Teil der britischen Muslime nach religiösem (Scharia-) Recht leben will, muss es zu Kollisionen mit dem Recht des säkularen Staates kommen. Zwei grundlegend verschiedene Rechtsauffassungen stoßen aufeinander: eine Rechtsposition, die Recht als Inkarnation unmittelbarer göttlicher Offenbarung versteht, und eine, die von der Säkularität des Rechts ausgeht, den Staat als religiös und weltanschaulich neutral versteht und die Verfassung als für alle gleich geltende Grundlage des Zusammenlebens begreift. Innerhalb eines Rechtssystems, das von der Unterscheidung zwischen Religion und Politik und von der Ausdifferenzierung der Sphären Recht, Politik, Ethos, Wissenschaft und Religion geprägt ist, soll partiell und bezogen auf die Muslime einem anderen Rechtssystem Raum gegeben werden, das auf religiösen Voraussetzungen beruht und pointiert die Rücknahme der Ausdifferenzierung der genannten Sphären im Namen der Religion fordert. Die eine Rechtsposition bildet einen wichtigen Hindergrund für die Entstehung religiöser Vielfalt. Die andere ist mit der Vision eines durch die Scharia umfassend geregelten Zusammenlebens bestimmt.

Das Aufeinanderstoßen von zwei verschiedenen Rechtssystemen ist Resultat historischer Entwicklungen. Noch vor wenigen Jahrzehnten lag es jenseits der Vorstellungen europäischer Staaten, dass Millionen von Menschen muslimischen Glaubens in Europa leben würden. Ebenso lag es jenseits der Vorstellungskraft des traditionellen Islam, dass Millionen von Muslimen sich dauerhaft in nicht-muslimischen Ländern Europas aufhalten würden. Mohammed und seine Gefährten, die ersten vier „rechtgeleiteten“ Kalifen und die Herrscher der folgenden Jahrhunderte und die das „Gesetz Gottes“ interpretierenden Rechtsgelehrten („ulema“) gingen von der fundamentalen Einheit zwischen politischem und religiösem Gemeinwesen aus. Doch stellte sich mit zunehmenden Kontakten, Handelsgeschäften, Erkundungsreisen und diplomatischen Beziehungen von „Abendland“ und „Morgenland“ die Frage, ob Muslime, die gemäß den Regeln der Scharia leben müssen, sich überhaupt in einem nicht-muslimischen Land aufhalten dürfen. Die islamrechtlichen Konstruktionen, die vom 8. bis 10. Jahrhundert gefunden wurden, um diese Frage zu beantworten, werden im Prinzip heute noch herangezogen und zitiert.3 Aber sie helfen nicht oder nur sehr bedingt, um die durch massenhafte Zuwanderung von Muslimen nach Europa immer zahlreicher werdenden praktischen Fragen dauerhafter muslimischer Existenz im nicht-muslimischen Raum zu beantworten. Dieses Problem ist von muslimischen Rechtsgelehrten durchaus erkannt worden. Es gibt zahlreiche Versuche, durch eine Weiterentwicklung und Interpretation des islamischen Rechts auf diese Lage zu reagieren.

Muslime, die dauerhaft in Europa leben, haben, idealtypisch betrachtet, fünf Optionen: 1. Auswanderung, d. h. Rückkehr in die islamischen Räume, wo sie als fromme Muslime ganz unter der Scharia leben können; 2. Apostasie, d. h. Übertritt zum Christentum, zu einer anderen Religion oder „Austritt“ aus dem Islam; 3. Integration, d. h. das nicht-muslimische Gebiet wird pragmatisch als „dar-al-ahd“, „Land des Vertrages“ betrachtet, in dem Muslime leben können, insofern sie ungehindert ihren religiösen Grundpflichten nachkommen können; 4. Islamisierung des „Gastlandes“, d. h. das „nicht-muslimische Gebiet“, das nach islamrechtlicher Kategorisierung als „dar-al-harb“, „Land des Krieges“ gilt, wird zum „dar-al-Islam“, „Land des Friedens“. 5. Entwicklung eines europäischen Islam, „Euro-Islam“ etc.

Die erste Option, die Rückwanderung, hat es immer gegeben, sie war nach den jeweiligen wirtschaftlichen und politischen Konjunkturen in Europa mal stärker, mal schwächer. Einen regelrechten „Exodus“ hat es allerdings nie gegeben.

Die zweite Option kann lebensgefährlich sein, da der „Abfall“ vom Islam nach Koran und Überlieferung als Verbrechen gegen Gott und die islamische Gemeinschaft („umma“) gilt und mit jenseitigen und diesseitigen Strafen (für männliche Apostaten die Todesstrafe) bedroht wird.4 Selbst im demokratischen Europa befinden sich Konvertiten vom Islam zum Christentum in ausgesprochen bedrängenden Situationen.

Die häufigste Option ist die dritte. Muslime mühen sich um Integration (wie sie auch immer verstanden und definiert wird) und suchen ihre (durchaus differenzierte) islamische Identität im Kontext europäischer Demokratien und Kulturen praktisch zu leben. Das Festhalten an den Prinzipien, Geboten und Verboten der Scharia stellt dabei für viele ein Problem dar. Kann und darf Scharia „im Westen“ gelebt werden?

Die vierte Option ist die der Fundamentalisten, Salafiten und Islamisten, die mit vielfältigen Strategien versuchen, die muslimischen Milieus in fundamentalistisch-islamistische Gegenwelten und Parallelgesellschaften zu transformieren. In Großbritannien ist eine Entwicklung in diese Richtung am weitesten fortgeschritten.5 Dem Bemühen um die Anerkennung schariarechtlicher Regelungen und Institutionen kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu. Seit geraumer Zeit ist der islamistisch dominierte „Europäische Rat für Fatwa und Forschung“ (Vorsitz: Yussuf al-Qaradawi) darum bemüht, ein schariakonformes Recht für Minderheiten (arab.: „fiqh-al-aqalliyat“) zu entwickeln.6

Die fünfte Option ist gegenwärtig nur auf der Ebene des intellektuellen Diskurses zu finden, es gibt keine politische oder kulturelle Organisation eines „europäischen Islam“. Ein europäischer Islam wäre ein Islam, der im Blick auf die „essentials“ einer europäischen „Leit-“ oder „Basis-“Kultur (Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat, Pluralismus) eine theologisch-islamrechtliche Legitimation formulierte.7

Anliegen des Erzbischofs

Die anspruchsvolle akademische Sprache des Erzbischofs erfordert große Aufmerksamkeit. Man muss die Rede mehrmals lesen, um ihre Quintessenz zu verstehen. Etwas populärer präsentierte er seine Anliegen in einem Interview mit der BBC (Radio 4 World at One) wenige Stunden vor seiner Rede. Hier ist die Kernbotschaft des Erzbischofs.

Williams möchte:

• eine stärkere Berücksichtigung der „Identitäten“ und Rechte religiöser Minderheiten im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung, um den „sozialen Zusammenhalt“ zu stärken. Er wendet sich kritisch gegen ein „Monopol“ des Staates in Bezug auf die Definition von öffentlicher und politischer Identität. Er übt Kritik an der „Herrschaft eines einheitlichen Rechts“, das „alle anderen Beziehungen, Bindungen und Verhaltensmuster“ exklusiv der Privatsphäre zuweise. Diese staatliche „Konstruktion“ werde den „pluralen Identitäten“ in einer modernen Gesellschaft nicht gerecht. Es gebe im modernen Staat diverse „kommunale Zugehörigkeiten“, die auch im System des Rechts Berücksichtigung finden müssten. Damit spricht er ein Grundthema im multikulturalistischen Diskurs an, das vom kanadischen Sozialphilosophen Charles Taylor auf den Begriff der „politics of recognition“ („Politik der Anerkennung“) gebracht wurde. Es geht im Kern um das Spannungsverhältnis von staatsbürgerlicher Gleichheit aller („one rule of law“) und dem Recht auf Differenz. Insofern ist das vom Erzbischof Gesagte nichts Neues, und die Aufregung wäre schwer verständlich, ginge es da nicht um eine ganz besondere muslimische Identität, d. h. um die Scharia und ihren rechtlichen Geltungsanspruch für die muslimische Minorität.

• die „Politik der Anerkennung“ nicht nur auf ethische und moralische Anerkennung religiöser und kultureller Identitäten beziehen und Toleranz für diese einfordern, sondern es geht ihm konkret um eine „konstruktive Beziehung“ zwischen britischer (kodifizierter) Rechtsordnung und „islamischem Recht“, mehr noch, er favorisiert eine „ergänzende Rechtsprechung“ („supplementary jurisdiction“). Er geht dabei über die ohnehin schon vom Staat tolerierte Praxis hinaus, dass Muslime in zivilrechtlichen Rechtsmaterien (Ehe-, Familien-, Erbschaftsangelegenheiten) Entscheidungen nach islamischem Recht freiwillig suchen können, z. B. bei den seit 1982 agierenden so genannten „Islamic Sharia Councils“. Jetzt aber soll eine offizielle Anerkennung des dort gesprochenen Scharia-Rechts durch den britischen Staat hinzukommen. Diese sei sogar „unvermeidlich“ („unavoidable“). Muslime sollen die Rechtsprechung für bestimmte Rechtsmaterien wählen können. Williams nennt ausdrücklich das Eherecht, finanzielle Angelegenheiten und Konfliktschlichtung. Er erhofft sich davon eine nachhaltige positive Wirkung für den sozialen Frieden unter Muslimen sowie zwischen Muslimen und dem säkularen Staat. In der komplexen, pluralistischen Gesellschaft würden „religiöse Bedürfnisse“ durch die Wahlmöglichkeit „sensibler“ berücksichtigt und „sozialer Zusammenhalt“ gestärkt.

Es ist interessant, dass der Erzbischof im Blick auf elementare öffentliche Güter (die allgemeine Rechtsordnung) sogar eine Art „Marktmodell“ assoziiert. Gäbe es erst einmal die Möglichkeit, die Jurisdiktion seines Vertrauens zu wählen, dann müsste sich der britische Staat viel stärker als bisher werbend um die muslimische Minorität bemühen. Hier liegt der Gedanke nahe, dass der Staat auf dem „Markt“ der öffentlichen Güter noch zu weiteren Konzessionen veranlasst werden könnte, eine vor dem Hintergrund des realexistierenden Islam in Großbritannien höchst beunruhigende Aussicht. Leider schweigt sich der Erzbischof über die Konstruktion und Funktionsweise der „ergänzenden Rechtsprechung“ aus. Seine Argumentation verbleibt auf einer allgemeinen religionsrechtlichen und religionspolitischen Ebene. Begriffe wie „delegation“ und „accomodation“ werden nicht operationalisiert. Nur an einigen Stellen seiner Rede blitzen mögliche Einwände gegen seine Argumentation auf, die aber rasch „erledigt“ werden.

• aber keine „Parallelgesellschaften“ und kein „Parallelgesetz“. Er weist den Vorwurf strikt von sich, er befürworte mit seinem Vorstoß auch die Einführung der barbarischen Körperstrafen, die im islamischen Strafrecht für so genannte „Grenzvergehen“ (Ehebruch, Unzucht, Falschaussage wegen Unzucht/Ehebruchs, Diebstahl, Straßen- und Raubmord, Alkoholkonsum)8 vorgesehen sind: von der Auspeitschung bis zur Todesstrafe. Hier wird der Erzbischof geradezu emphatisch: „Keiner, der seines Verstandes mächtig ist, würde in diesem Land derartige Unmenschlichkeiten sehen wollen, wie sie in der Rechts-praxis mancher islamischer Staaten hinsichtlich extremer Strafen und dem Verhalten gegenüber Frauen vorkommen.“9

Was versteht der Erzbischof unter Scharia?

Williams bekennt mehrfach freimütig, dass er sich mit der Scharia nicht auskenne. („Ich bin kein Experte.“ „Das ginge weit über meine Kompetenz hinaus.“) Trotz dieses eingestandenen Defizits erhebt er die weitreichende Forderung nach Inkorporation von Scharia-Recht in das britische Rechtssystem. Eine genauere Erkundung des zeitgenössischen Diskurses über die Scharia hätte erbringen können, dass die Sicht der Scharia als Methode der Rechtswissenschaft keineswegs Common Sense der Rechtsgelehrten ist. In der Argumentation des Erzbischofs ist insofern ein idealisiertes Islambild leitend. Zwar ist die Scharia auch – wie der Islamwissenschaftler und Jurist Mathias Rohe formuliert – „ein höchst komplexes System von Normen und Regeln dafür, wie Normen aufgefunden und interpretiert werden können“, also ein System der Rechtsfindung.10 Und es kommt entscheidend darauf an, in welchen historisch-politischen Kontexten, mit welchen Zielsetzungen und Verfahren dieses System der Rechtsfindung eingesetzt wird. Aber Scharia ist mehr. Sie ist gemäß herrschender Lehre ein aus der göttlichen Offenbarung erschlossenes und den Gläubigen verkündetes System verbindlicher Lebensregeln, das ihr Alltagsleben bis ins Detail bestimmt und an jedem Ort und zu jeder Zeit gelten soll. Es reicht von den gottesdienstlichen Ritualen bis zum Strafrecht, d. h. konkret zu den in Koran und Sunna vorgeschriebenen Körperstrafen. Für den gläubigen Muslim sind Scharia und die Religion („din“) Islam identisch. Zum Islam gehört ein umfassender rechtlicher und politischer Gestaltungsanspruch, der in der Scharia seinen Ausdruck findet. Sehr klar drückt das Khurram Murad aus, ein Funktionär der pakistanischen Islam-Partei „Jama’at-i-Islami“, der auch in Großbritannien einflussreich ist: „Scharia ist in ihrer umfassenden Bedeutung praktisch synonym und austauschbar mit dem Wort ‚din’… Scharia schließt Glauben und Glaubenspraxis ein. Sie umfasst Gottesdienst, individuelles Verhalten und Lebensführung sowie soziale Normen und Gesetze, seien sie politischer, wirtschaftlicher, familienrechtlicher, strafrechtlicher oder zivilrechtlicher Natur.“11

Die Scharia kann somit weder auf das Recht und/oder die „Methoden der Rechtsfindung“ reduziert werden, noch meint sie nur die Gesamtheit der ethisch-moralischen Prinzipien und Orientierungen des Islam. Sie ist, wie es Chris Hewer ausdrückt, das als „complete code of life“ aufnotierte verbindliche Muster muslimischen Lebens.12

Es ist aufschlussreich, dass der Erzbischof den umstrittenen muslimischen Philosophen Tariq Ramadan, bekanntlich der Enkel Hassan al-Bannas (Gründer der islamistischen Muslimbruderschaft) im Blick auf die Scharia mehrfach zustimmend zitiert. Ramadan lehrt gegenwärtig in Oxford und ist Berater der britischen Regierung in Islamfragen. Er gilt als „moderat“ und „fortschrittlich“, was sich bei näherer Beschäftigung mit seinen Positionen jedoch nicht bestätigt. Ramadan ist ein eloquenter, medienkompetenter, konservativ-orthodoxer Intellektueller, der es mit seiner modernitätskonformen Rhetorik geschafft hat, viele zu beeindrucken. In der Scharia-Frage ist er darum bemüht, den systemisch-rechtlichen Charakter der Scharia zu minimalisieren, ihre absolute Autorität und Bindungswirkung für das Alltagsleben von Muslimen herunterzuspielen und den strafrechtlichen Teil zu verharmlosen. Die Scharia, so wird Ramadan von Williams zitiert, sei nicht nur der „Ausdruck der universalen Prinzipien“ des Islam, sondern meine auch den „Rahmen“ und das „Denken“ für die Umsetzung der Scharia in der Geschichte.13 Williams folgt Ramadan darin, diesen „Rahmen“ nicht als starr fixiertes Regelungssystem erscheinen zu lassen, sondern als höchst flexibles Rahmenwerk.

Wenn es von den „universalen Prinzipien“ ausgehend unterschiedliche ethische Orientierungen und rechtliche Regeln geben kann, so würde hier ein ergebnisoffener Diskursraum erschlossen. Die von Williams idealistisch intendierte „Anerkennung“ der Scharia würde sich dann nur auf die Methode der Rechtswissenschaft im Rahmen der geoffenbarten Texte und nicht auf ein „einziges System“ beziehen. Das klingt gut, lässt aber außer Acht, dass es doch einen durch Glaubensprinzipien fixierten Referenzrahmen („Aqida“ = Glaube) und ein durch die islamische Rechtswissenschaft über Jahrhunderte hinweg gestaltetes System von Rechtsregeln gibt („usul-al-fiqh“), die kein Muslim ignorieren kann. Williams lässt den Eindruck entstehen, dass die „Anerkennung“ der Scharia so etwas wie ein akademisches Diskursunternehmen im interreligiösen Dialog ist, bei dem wir uns mit „liberalen“ Muslimen (à la Tariq Ramadan) auf die gemeinsame Suche nach dem „guten Leben“ begeben. Wir haben es dagegen mit einer schwerwiegenden Entscheidung zu tun, die für die betroffenen muslimischen Gemeinschaften keinen offenen Diskursraum schafft, sondern sie den Regeln und Entscheidungen konservativ-orthodox orientierter Scharia-Richter unterwirft.

Der als „liberal“ geltende Tariq Ramadan, der in seinen Schriften pluralistisch-diskurstheoretisches Vokabular aufgreift, sieht sich z. B. nicht in der Lage, die von ihm so betonten „universalen Prinzipien“ des Islam menschenrechtlich akzeptabel auszulegen, z. B. das Prinzip der „Barmherzigkeit“. Die Steinigung wird nicht grundsätzlich und unmissverständlich als inhumane, menschenrechtswidrige Strafe verurteilt; er empfiehlt lediglich ein „Moratorium“, d. h. eine vorläufige Einstellung der Strafpraxis bei gleichzeitiger Prüfung durch die Rechtsgelehrten. (Bekannte Rechtsgelehrte verbaten sich übrigens jede „Einmischung“ Ramadans und lehnten seine Intervention umgehend ab.)

Ramadan hat auch, trotz seines „Moratorium“-Aufrufes, keinen Zweifel daran gelassen, dass die Körperstrafen für „Grenzvergehen“ ganz selbstverständlich zum Islam gehören. Sie seien für den Islam keineswegs „schädlich“, dürften allerdings nur in der vollkommen gerechten islamischen Gesellschaft fair und gerecht verhängt werden.14 Ramadan ist trotz seiner modernen Rhetorik gerade nicht einer derjenigen gegenwärtigen muslimischen Intellektuellen, die sich in besonderer Weise durch originelle, kreative und fortschrittliche Beiträge im internationalen Scharia-Diskurs auszeichnen, wie Abdullahi An’Naim oder Khaled Abou El-Fadl, um nur zwei herausragende „progressive Muslime“ zu nennen.15

Wenig Spielraum für eine Fortschreibung der Scharia

Die gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen in der islamischen Welt, Bildungsniveau und Kommunikationskultur der großen islamischen Bildungseinrichtungen lassen wenig Raum zum Optimismus für eine kritische Scharia-Debatte – trotz einer beobachtbaren vorsichtigen „Pluralisierung“ islamischer religiöser Autorität in der Moderne.16 Von Kairo über Riad bis Islamabad dominiert ein konservativ-orthodoxer bis fundamentalistischer und/oder islamistisch orientierter Islam, der über die „bewährten“ Methoden der Auslegung („tafsir“) nicht hinauszugehen wagt oder, wie die Islamisten, die literalistische Interpretation politisch für globale Dschihad-Strategien instrumentalisiert. Die wenigen „progressiven Muslime“, die, verstreut über den Globus, sich im intellektuellen Diskurs mehr oder weniger behindert bewegen, fallen da nicht ins Gewicht. Auch in Europa sind „progressive Ansätze“, z. B. zur Koranhermeneutik, sehr zarte Pflänzchen und haben für den realexistierenden Islam kaum Bedeutung. Die seit Ende der siebziger Jahre in vielen Staaten der islamischen Welt beobachtbare „Reislamisierung“, vor allem befördert durch die expandierenden islamistischen Bewegungen, hat teilweise zur Wiederherstellung klassischen Scharia-Rechts bzw. zu dessen Integration in die bestehenden, manchmal mit europäischen Rechtsnormen verbundenen Rechtssysteme geführt. Gegenwärtig ist die Scharia geltendes Recht in folgenden Ländern: Afghanistan, Bahrain, Bangladesch, Brunei, Indonesien, Iran, Irak, Jemen, Qatar, Kuwait, Malediven, Nigeria (einige Bundesstaaten), Niger, Oman, Pakistan, Autonomiegebiete Palästina, Somalia, Sudan, Vereinigte Arabische Emirate, Saudi-Arabien. In Ägypten, Algerien, Dschibouti, Jordanien, Malaysia, Marokko, Libanon, Libyen und Syrien sind wichtige Elemente der Scharia ins Rechtssystem eingepasst. Nur in der Türkei und in Tunesien ist das Scharia-Recht ausdrücklich abgeschafft.

Scharia-Bestimmungen und Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat 2001 und 2003 im Zusammenhang mit der Bestätigung der Rechtmäßigkeit des Verbots der türkischen „Refah Partisi“ (Necmettin Erbakan) die Unvereinbarkeit der Scharia mit den Menschenrechten festgestellt. In fünf Bereichen sind die bis heute geltenden Scharia-Bestimmungen nicht mit den Menschenrechten vereinbar: 1. Körperstrafen (Verstoß gegen Art. 5 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, Verbot inhumaner Strafen, der Folter und erniedrigender Behandlung), 2. Religionsfreiheit (Benachteiligung anderer Religionen: Verstoß gegen Art. 18 AEMR), 3. Apostasie („Abfall vom Islam“, Verstoß gegen Art. 18 AEMR), 4. Im Blick auf die militante Konzeption von „Dschihad“ (Verstoß gegen Art. 3, Recht auf Leben) und 5. hinsichtlich der Frauenfrage (Verstöße gegen Art. 16 AEMR und Art. 7, Gleichberechtigungsgrundsatz).

Es sind aus islamischen Staaten vielfältige Menschenrechtsverletzungen bekannt. Besonders bedrückend ist die Praxis der Körperstrafen, z. B. im Iran, in Saudi-Arabien, im Sudan und in einigen Bundesstaaten Nigerias. Werden diese und andere Menschenrechtsverletzungen im „interreligiösen Dialog“ offen thematisiert, so beobachtet man auf muslimischer Seite und bei den mit ihr verbundenen nicht-muslimischen „Dialogfreunden“ häufig apologetische Ausweichmanöver: Menschenrechtsverletzungen gebe es überall, alle Religionen hätten eine „dunkle Seite“, die Körperstrafen würden nur noch in „Ausnahmefällen“ verhängt, an den Gesetzen selbst wäre nichts Verwerfliches, nur ihre Anwendung durch „ungerechte Herrscher“ sei falsch und schließlich dürften sie nur in einer vollkommen gerechten (islamischen) Gesellschaft zur Anwendung kommen. Es ist bedrückend, dass der Erzbischof das integral zur Scharia gehörende Strafrecht als fast randständiges, irrelevantes Feld abzutun versucht.

Scharia in Europa

Scharia findet in Europa praktisch bereits statt. Wo der Ruf des Muezzin erklingt und sich die Gläubigen fünfmal täglich vor Allah verneigen, da geschieht Scharia, denn das Ritualgebet gehört zur Abteilung „ibadat“ der Scharia. Dieser Teil der Scharia kollidiert im Regelfall nicht mit den Menschenrechten und ist daher von der Religionsfreiheit nach Art. 9 Europäische Menschenrechtskonvention gedeckt. Religionsfreiheit gilt auch, obgleich in der Praxis der EU-Staaten sehr verschieden geregelt, z. B. für Moscheebau, betäubungsloses Schlachten („Schächten“) und die islamischen Bekleidungs- und Speisegebote. Von Edinburgh bis Sizilien, von Lissabon bis Berlin wird auf muslimische Religionspraxis Rücksicht genommen.

Manche Aktionen vorauseilenden pro-muslimischen Gehorsams offenbaren ein fehlendes Selbstbewusstsein im Blick auf die eigene Herkunft und Pflege kultureller Traditionen: Im Jahre 2003 verbot der Stadtrat von High Wycombe eine Anzeige für einen christlichen Weihnachtsgottesdienst. Er befürchtete, es könne in der multi-ethnischen Community zu interreligiösen Spannungen kommen. 2005 untersagte der Stadtrat von Dudley alle Bilder von Schweinen in Behördenräumen, weil sich ein Muslim über die Anlieferung von Spielzeugen, bei denen einige die Form von Schweinen hatten, „diskriminiert“ fühlte. Die Tate Gallery of Modern Art ließ ein Kunstwerk von John Latham entfernen, weil es einen Koran darstellte. Bis dahin hatte sich allerdings noch kein Muslim beschwert. In einer nordenglischen Stadt sahen Lehrer davon ab, den Holocaust zu behandeln, weil sie antisemitische Äußerungen von muslimischen Schülern fürchteten. Das Thematisieren islamischer Geschichte in der Schule scheint in Großbritannien insgesamt ein Problem zu sein, weil zahlreiche Muslime sich weigern, ihre eigene Geschichte nach allgemein anerkannten Maßstäben historischer Quellenkritik zu betrachten.17 Weitere Beispiele ließen sich mühelos auch aus anderen europäischen Staaten beibringen.

Die Konfliktlinien werden trotz oder gerade wegen dieser „Politik der Anerkennung“ und ihrer Auswüchse schärfer und der Ton zwischen nicht-muslimischer Mehrheit und muslimischer Minderheit rauer. Der „Karikaturenstreit“ 2005/2006 hat in dramatischer Weise deutlich gemacht, dass es zwischen Muslimen, Andersgläubigen und Religionslosen weit auseinanderliegende Auffassungen darüber gibt, wie weit Meinungs- und Pressefreiheit in Bezug auf den Islam gehen darf. Der „Pew Global Attitudes Report“ von 2006 fragte Muslime und „Nicht-Muslime“ in sechs europäischen Staaten, wer an dem „Karikaturenstreit“ die Schuld trage. 59% der Befragten in Großbritannien und 62% in Deutschland waren der Auffassung, dies sei muslimischer „Intoleranz“ geschuldet. 19% in Großbritannien und 26% in Deutschland waren der Meinung, es sei der „Mangel an Respekt“ („disrespect“) gegenüber dem Islam gewesen. 73% der britischen und 71% der deutschen Muslime sahen die Ursache des Streites im „Mangel an Respekt“.18 Wer sich die Mühe macht und täglich im weltweiten Netz die „Pro und Contra Islam“-Portale durchforstet, stellt fest, wie polarisiert die Meinungen über „den Islam“ sind und wie unversöhnlich die Geister „aufeinanderplatzen“, um Martin Luther zu zitieren. Der Vorstoß des Erzbischofs hat die gereizte Stimmung verstärkt. Die Öffentlichkeit beschäftigt sich intensiv mit der Scharia. Jeder Muslim, der wünscht, in Europa nach „der Scharia“ zu leben, muss sich die Frage stellen, wie er mit den offensichtlichen Kollisionen zwischen Scharia und Menschenrechten umzugehen gedenkt. Inwieweit lassen sich die menschenrechtswidrigen Teile rechtsdogmatisch wie praktisch von den im engeren Sinne religiösen (den „ibadat“) trennen?

Wie denken Muslime in Großbritannien über die Scharia?

1989 erklärten 66% der britischen Muslime, sie würden, wenn es einen Kollisionsfall zwischen britischer Rechtsordnung und der Scharia gebe, der Scharia folgen. Im November 2004 sprachen sich 61% der Befragten für die Einrichtung von Scharia-Gerichten für zivilrechtliche Angelegenheiten aus, unter der Bedingung, dass die verhängten Strafen nicht der britischen Rechtsordnung widersprächen. 30% waren gegen die Einführung.19 2007 ermittelte das „Policy Exchange Institute“ in einer repräsentativen Umfrage, dass 28% der britischen Muslime Scharia-Recht dem britischen Recht vorziehen würden, 59% entschieden sich für das britische Recht. Je jünger die Befragten waren, umso größer die Präferenz für das Scharia-Recht. 37% der zwischen 16- und 24-Jährigen wünschen sich „Sharia-Law“, 50% britisches Recht. Bei den 45- bis 54-Jährigen sieht es ganz anders aus: Nur 16% wünschen Scharia-Recht, aber 75% britisches Recht. 51% der Muslime (56% der 16- bis 24-Jährigen) halten es für richtig, dass eine muslimische Frau keinen Nicht-Muslim heiraten darf, 43% stimmen der Aussage zu, dass eine Frau nicht ohne Zustimmung ihres „Beschützers“ („wali“) die Ehe eingehen darf (bei den 16- bis 24-Jährigen sind es 57%), 51% sind dagegen. Gespalten ist die muslimische Community in der Frage der Polygamie. 46% stimmen dem Statement zu, dass ein muslimischer Mann bis zu vier Frauen haben darf, aber eine muslimische Frau nur einen Mann (52% der 16- bis 24-Jährigen). 48% sind dagegen. Immerhin noch 31% (36% der 16- bis 14-Jährigen) befürworten die Todesstrafe für „Apostaten“, 57% sind dagegen. 61% (71% der 16- bis 24-Jährigen) verurteilen Homosexualität als falsch und illegal.20

Die Umfragen sind schwer miteinander zu vergleichen, und sie geben keinen Aufschluss darüber, was die Befragten tatsächlich unter Scharia verstehen. Gleichwohl ist anzunehmen, dass sie Scharia so begreifen, wie es ihnen in Moscheen, islamischen Bildungsinstitutionen und zahllosen Internetportalen vermittelt wird. Es ist nicht vermessen zu sagen, dass sie dort nicht die idealisierte Version von Scharia lernen, die der Erzbischof im Anschluss an Tariq Ramadan vertritt, sondern die traditionalistische Sicht der Scharia als zeitlos überall geltendes, allumfassendes Regelwerk für den Alltag der Muslime. Die gute Nachricht ist: Die Mehrheit der britischen Muslime will kein Scharia-Recht in die allgemeine Rechtsordnung inkorporiert sehen. Doch eine starke und vor allem junge Minderheit will es. Bedenklich ist auch, dass die Jüngeren, die Scharia-Recht wünschen, es nicht interpretiert sehen wollen, d. h. keine Weiterentwicklung und mögliche „Liberalisierung“ erstreben. Das sind immerhin 42% der 16- bis 24-Jährigen.

Es gibt somit eine wachsende junge muslimische Minderheit, die deutliche Distanz zum britischen Rechtsstaat zeigt. Hier wird der problematische Einfluss islamistischer Gruppen auf Moscheen und Bildungseinrichtungen sichtbar. Seit mehr als einem Jahrzehnt können diese Gruppen ungehindert ihre antidemokratische Haltung und häufig auch antisemitischen Botschaften verbreiten und ihre Netzwerke ausbauen. Wie das geschieht und welchen Anteil die „laissez-faire“ Politik des britischen Staates an dieser Entwicklung hat, zeigt das Buch eines Insiders. Ed Husain, der mit 16 Jahren Fundamentalist wurde, der extremistischen „Hizb-ut-Tahrir“ („Partei der Befreiung“) beitrat und sich später vom Islamismus trennte, beschreibt im graphischen Detail, wie leicht es den Islamisten in Großbritannien gemacht wird.21

Konsequenzen des erzbischöflichen Vorschlags

Der Erzbischof wollte sicherlich einen Beitrag zur „Integration“ für Muslime liefern. Doch sein Vorschlag ist kontraproduktiv, integrationsfeindlich und für die Demokratie gefährlich. Der religiöse Pluralismus einer demokratischen Kultur lebt von gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Rechtsbewusstsein, das nicht automatisch bewahrt wird. Die gleichzeitige Geltung verschiedener Rechtssysteme schafft „Grauzonen des Rechts“ und ist geeignet, der Rechtsordnung empfindlichen Schaden zuzufügen. Sie stellt zugleich die Bindung des Staates an Recht und Gesetz in Frage. Die Identifikation des Staates mit unterschiedlichen Rechtssystemen untergräbt seine Autorität, indem sie den Bürger im Unklaren darüber lässt, welche Ethik der Rechtsbefolgung von ihm erwartet wird. Geschichtliche Erinnerung kann vor Augen führen, dass die Erhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien keineswegs selbstverständlich ist. Sie kann durch Aushöhlung zerstört werden.

1. Die offizielle Anerkennung von islamischen Institutionen, wie den „Islamic Sharia Councils“, die seit 1982 schariarechtliche Entscheidungen vor allem in Scheidungsfragen (95% der Urteile) treffen, wäre der Anfang vom Ende der allgemeinen, säkularen, für alle Staatsbürger gleichermaßen geltenden Rechtsordnung. Die Schaffung spezifischer islamischer Rechtsbezirke würde zur Verfestigung und nachhaltigen Stabilisierung parallelgesellschaftlicher Strukturen führen, die schon lange die gesellschaftliche Wirklichkeit Großbritanniens prägen. Im November 2001 war eine Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Stadtdirektors von Nottingham, Ted Cantle, zu dem deprimierenden Ergebnis gekommen, dass in einigen Regionen Englands Segregation und massive Konflikte zwischen den unterschiedlichen ethnischen, religiösen und kulturellen Gruppen den Alltag bestimmten. Die Kommission äußerte sich betroffen über „die Tiefe der Polarisierung in unseren Städten“. Die Segregation der Bevölkerung zeige sich in Sprachinseln, „getrennten Bildungseinrichtungen, kommunalen Diensten und zivilgesellschaftlichen Gruppen“, sie werde sichtbar auf dem Arbeitsmarkt, in den religiösen Orientierungen und den sozialen und kulturellen Netzwerken. Viele Kommunen funktionierten praktisch nur „auf der Basis paralleler Lebenswelten“.22 Die hier beklagte Segregation würde sich entlang der Trennlinie „Religion“ erheblich verstärken.

Die Wahlmöglichkeit für Schariarecht würde den sozialen Zusammenhalt in der britischen Gesellschaft nicht stärken, sondern schwächen. Der Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Heiner Bielefeldt, hat den von Williams propagierten Multikulturalismus treffend so gekennzeichnet: „Plädoyers für die Einführung des islamischen Familien- und Erbrechts auf fakultativer Basis laufen auf eine Form von Multikulturalismus mit antiliberalen Nebenwirkungen hinaus. An die Stelle des offenen kulturellen Pluralismus der freiheitlichen Gesellschaft würde ein Nebeneinander mehr oder weniger geschlossener und religionsrechtlich partiell autonomer Gruppen treten“.23

Zur Legitimation seiner Vorschläge hat Williams auf die Tätigkeit der jüdischen religiösen Schiedsgerichte („Beth Din“) verwiesen und darin einen Beleg für „überlappende Rechtsprechung“ sehen wollen. Im Sinne formaler Gleichbehandlung sollte den Muslimen also zugestanden werden, was Juden angeblich schon lange praktizierten. Eine Vergleichbarkeit zwischen der jüdischen und muslimischen Gemeinschaft ist jedoch nicht gegeben. Die „Beth Din“-Schiedsgerichte, die sich in der Tat mit Konfliktschlichtung, Ehe- und Scheidungsfragen beschäftigen, haben nie, wie die muslimischen Organisationen schon seit Anfang der achtziger Jahre, offizielle rechtliche Anerkennung ihrer Rechtssprüche verlangt. Sie arbeiten stets informell, und ihre Entscheidungen bleiben immer auf der Ebene der Freiwilligkeit.24 Muslimische Organisationen haben darüber hinaus auf das „Indische Personalstatut“ verwiesen und verlangt, diese Regelung auch in Großbritannien einzuführen. Warum – so hieß es – sollte, was für indische Muslime seit den dreißiger Jahren gilt, nicht auch für britische Muslime gelten? Doch das indische „Muslim Personal Law“ ist äußerst umstritten. Viele säkular orientierte Muslime und kritische muslimische Intellektuelle, wie z. B. Ashgar Ali Engineer, machen geltend, dass es die gesellschaftliche Segregation und Konflikte zwischen den Religionsgruppen verstärkt, die immer wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen münden („communalism“). Ferner käme es zu massiven Benachteiligungen und Ungleichbehandlungen von Frauen.

2. Williams überantwortet Entscheidungen in zivilrechtlichen Fragen mit weit reichenden Folgen (Scheidung, Erbschaft) den kaum repräsentativen, unzureichend oder gar nicht demokratisch legitimierten Institutionen der muslimischen Gemeinschaften. Das ist umso erstaunlicher, als dem Erzbischof nicht verborgen geblieben sein wird, welche Varianten des Islam gegenwärtig in den britischen muslimischen Communities den Ton angeben. Es sind gewiss nicht die, die seinem Bild vom Islam entsprechen. Nicht die Tariq Ramadans und/oder Williams’ „liberale“, gebildete Partner im „interreligiösen Dialog“ sind die religiösen Autoritäten in den muslimischen Milieus, sondern leider, mit seinen eigenen Worten, die „repressivsten und am meisten rückwärts gewandten Elemente“. Die muslimischen Milieus in Großbritannien sind eng geknüpfte Netzwerke, wobei ethnische und religiös-kulturelle Eliten der Herkunftsländer (die saudischen Wahabiten, die Barelvis, die Deobandis u. a.) sowie zunehmend islamistische Gruppen wie „Hizb-ut-Tahrir“, „Al-Mujahiroun“, „Ahl-al-Hadith“, „Islamic Society of Britain“ (Muslimbrüder) u. a. das religiös-politische Leben dominieren. Williams Kollege, der aus Pakistan stammende Bischof von Rochester, Michael Nazir-Ali, sieht die gegenwärtige Lage in Großbritannien wesentlich klarer. Er beklagte, dass es inzwischen „no-go-zones“ für Nicht-Muslime in von Muslimen bewohnten Räumen gebe, und spielte dabei auf die zunehmenden Radikalisierungstendenzen unter jungen Muslimen an. Seine klare Aussage brachte ihm Todesdrohungen von islamistischer Seite ein. Er steht unter Polizeischutz.25 Vor dem Hintergrund der Tendenz zur Islamisierung in Teilen der muslimischen Milieus wäre es naiv anzunehmen, dass die gegenwärtig etwa zwölf „Islamic Shariah Councils“ von solchen Tendenzen unbeeinflusst blieben. Ohnehin amtieren dort Scheichs, die keinen Zweifel daran lassen, dass sie die Einführung auch des islamischen Strafrechts in Großbritannien für sinnvoll halten. So erklärte Scharia-Richter Suheib Hasan, der islamisches Recht in Medina studiert hat und seit 30 Jahren in Großbritannien lebt, unverblümt, dass, wenn Großbritannien das islamische Strafrecht einführte, die Regierung weniger Gefängnisse bräuchte. Er fügte hinzu: „Dieses Land könnte in einen Hort des Friedens verwandelt werden, denn keiner wird mehr stehlen, wenn die Hand eines Diebes abgehackt wird.“26

3. Gerade die schwächsten Gruppen in den muslimischen Communities, vor allem die Mädchen und jungen Frauen, wären von der offiziellen „Anerkennung“ der Scharia-Gerichte besonders betroffen. Schon heute haben sie große Schwierigkeiten, ihre vom britischen Staat garantierten gleichen Rechte gegen die geballte Macht der patriarchalisch-religiösen Eliten und die selbsternannten Religionswächter zu behaupten. Wenn inzwischen schon strafrechtlich relevante Fälle berichtet werden (zum Beispiel Totschlag und Mord), die nicht der britischen Justiz angezeigt, sondern von muslimischen Ordnungshütern „geregelt“ wurden, dann müssten die Alarmglocken läuten. Wer sollte vom britischen Staat offiziell anerkannte „Islamic Sharia Courts“ in den muslimischen Milieus noch daran hindern, auch irgendwann islamisches Strafrecht anzuwenden? Der Erzbischof hätte aus dem blutigen Nordirlandkonflikt gelernt haben können, was es heißt, wenn in verfeindeten Communities der „sectarianism“ regiert und paramilitärische Gruppen den „Schutz“ der jeweils eigenen Gruppe übernehmen. Das Gewaltmonopol des britischen Staates war in den extremistischen Enklaven der IRA oder der loyalistischen militanten Gruppen jahrzehntelang nicht mehr vorhanden. Eine ähnliche Situation könnte sich in muslimischen Milieus entwickeln. Es ist das erklärte Ziel einiger islamistischer Gruppen, Großbritannien in ein „dar-al-Islam“ zu verwandeln. Scharia-Gerichte mit staatlicher Anerkennung wären ein wichtiger Schritt in die Richtung der Etablierung islamischer Inseln in „ungläubiger“ Umgebung. Dass der Erzbischof von Canterbury diese Strategie begünstigt, zeigt einen gravierenden Mangel an Wahrnehmungs- und politischer Urteilskraft.


Johannes Kandel, Reinhard Hempelmann


Anmerkungen

1 Sehr drastisch, aber klar ist der Kommentar von Melanie Phillips, „Dhimmi or just dim?“ im „Spectator“, www.spectator.co.uk/melaniephillips/.

2 Siehe dazu sehr eindrücklich Melanie Phillips, Londonistan. How Britain Is Creating a Terror State Within, London 2006.

3 Tilman Nagel, Das Islamische Recht. Eine Einführung, Westhofen 2001, 93ff; Ludwig Hagemann / Adel Theodor Khoury, Dürfen Muslime auf Dauer in einem nicht-muslimischen Land leben? Würzburg / Altenberge 1997.

4 Vgl. dazu umfassend Abdullah Saeed / Hassan Saeed, Freedom of Religion, Apostasy and Islam, Aldershot 2004.

5 Zahlreiche empirische Belege finden sich in der Studie von Munira Mirza / Abi Senthilkumaran / Zein Ja’Far, Living Apart Together. British Muslims and the Paradox of Multiculturalism, Policy Exchange Institute, London 2007.

6 Siehe dazu die glänzende Analyse von Ralph Ghadban, Kann der Islam mit Hilfe des „Fiqh“ modernisiert werden? In: Peter Hünseler (Hg.), Im Dienst der Versöhnung. Für einen authentischen Dialog zwischen Christen und Muslimen, Regensburg 2008, 51-64.

7 Siehe dazu u. a. Bassam Tibi, Die islamische Herausforderung. Religion und Politik im Europa des 21. Jahrhunderts, Darmstadt 2007, 72.

8 „Grenzvergehen“ heißen so, weil mit diesen Kapitalverbrechen eine „Grenze“ (arab. „hadd“) überschritten wird. Der Täter frevelt nicht nur gegen Menschen, sondern auch gegen Gottes Ordnung (siehe Sure 9,111f). Das Strafmaß für solche Vergehen ist im Koran ausdrücklich festgelegt. Vgl. zum Ganzen: Christine Schirrmacher / Ursula Spuler-Stegemann, Frauen und die Scharia. Die Menschenrechte im Islam, Kreuzlingen / München 2004, 37ff.

9 Interview BBC am 7.2.2008.

10 Mathias Rohe, Islamismus und Sharia, in: Integration und Islam, hg. vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2006, 122.

11 Khurram Murad, What is the Shari’ah? (19.4.2005), www.islamonline.net/english/In_Depth/ShariahAndHumanity/Articles/2005-04/01.shtml

12 Chris T. R. Hewer, Understanding Islam. The First Ten Steps, London 2006, 139.

13 Tariq Ramadan, Western Muslims and Future of Islam, Oxford 2004, 31ff.

14 Siehe zu Ramadan v. a. Ralph Ghadban, Tariq Ramadan und die Islamisierung Europas, Berlin 2006, bes. 45ff.

15 Abdullahi An-Na’im, Toward an Islamic Reformation, Syracuse / New York 1996; Khaled Abou El Fadl, Speaking in God’s Name. Islamic Law, Authority and Women, Oxford 2001. Zu den „progressiven Muslimen“ siehe Christian W. Troll, Progressives Denken im zeitgenössischen Islam, Berlin 2005 (= Islam und Gesellschaft, Nr. 4, hg. v. der Friedrich-Ebert-Stiftung).

16 Zur Scharia-Debatte siehe Gudrun Krämer, Zum Verhältnis von Religion, Recht und Politik: Säkularisierung im Islam, in: Säkularisierung und die Weltreligionen, hg. v. Hans Joas und Klaus Wiegandt, Frankfurt/Main 2007, 185ff. Siehe auch Gudrun Krämer, Gottes Staat als Republik. Reflexionen zeitgenössischer Muslime zu Islam, Menschenrechten und Demokratie, Baden-Baden 1999, 49ff. Zum Zustand der islamischen Welt siehe v. a. Dan Diner, Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt, Berlin 2005; Bernard Lewis, The Crisis of Islam. Holy War and Unholy Terror, New York 2003; Abdelwahab Meddeb, Die Krankheit des Islam, Heidelberg 2002; Arab Human Development Reports 2002-2005, New York, United Nations Development Programme / Arab Fund for Economic and Social Development.

17 Sehr erhellend ist dazu die Studie der Historical Association, „Teaching Emotive and Controversial History 3-19“, London 2007.

18 The Pew Global Attitudes Project, The Great Divide: How Westerners and Muslims View Each Other, Washington 2006, 21.

19 ICM Research, November 2004, www.icmresearch.co.uk/pdfs/2004_november_guardian_muslims_poll.pdf.

20 Munira Mirza et al., Living Apart Together, a.a.O. (Anm. 5), 45ff.

21 Ed Husain, The Islamist. Why I joined radical Islam in Britain, what I saw inside and why I left, London 2007.

22 Community Cohesion. A Report of the Independent Review Team. Chaired by Ted Cantle, ed. by the Home Office, London 2001, 9.

23 Heiner Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld 2007, 107.

24 www.spectator.co.uk/stephenpollard/493021/the-beth-din-and-jewish-courts-do-not-make-the-archbishops-case.thtml.

25 www.telegraph.co.uk/news/main.jhtml?xml=/news/2008/01/06/nislam106.xml.

26 Daily Telegraph, 23.1.2008.