Sondergemeinschaften / Sekten

Der Film „Deutsche Seelen - Leben nach der Colonia Dignidad“

(Letzter Bericht: 6/2010, 226f) Im vergangenen Jahr war in einigen Kinos und im Fernsehen der Film „Deutsche Seelen – Leben nach der Colonia Dignidad" von Martin Farkas und Matthias Zuber zu sehen. Seit Oktober 2010 ist der Film im Handel als DVD erhältlich. Er nähert sich in sehr bewegender Weise den noch verbliebenen Bewohnern von Villa Baviera (ehemals Colonia Dignidad) in Chile an.1961 hatte Paul Schäfer mit etwa 200 Anhängern aus Deutschland die christliche Gemeinschaft „Colonia Dignidad“ in Chile gegründet. Hinter Stacheldraht und überwacht von Kameras lebte die auf 300 Mitglieder angewachsene „Brautgemeinde Christi“ abgeschottet und autonom in totalitären Strukturen. Systematisch missbrauchte der pädophil veranlagte Schäfer die Jungen der Gemeinschaft. Zudem wurden die Kinder mit Stromschlägen und Psychopharmaka misshandelt. Unter dem Regime von Pinochet sollen zahlreiche Regimegegner auf das Gelände der Colonia Dignidad verschleppt und dort getötet worden sein. 1997 floh Schäfer nach Argentinien, wo er 2005 gefasst wurde. Er starb im April 2010 im Gefängniskrankenhaus in Santiago de Chile.

Zur Jahreswende 2006/2007 teilten die Filmemacher Farkas und Zuber drei Monate lang das Leben der damals noch in Villa Baviera verbliebenen gut 150 Bewohner. Sie ließen zunächst ihre Kameras in der Tasche und nahmen sich Zeit, sich auf die Menschen und den Ort einzulassen. Auf diese Weise konnten sich Beziehungen zu einzelnen Bewohnern entwickeln, von denen der Film lebt. Ziel der Filmemacher war es nicht, investigativ vorzugehen und Geschehenes zu dokumentieren. Vielmehr interessierten sie sich für die Menschen und ihr Leben nach dem Zusammenbruch des totalitären Systems ihrer hermetisch abgeriegelten Welt. Was hat dieses System mit den Menschen gemacht und wie gehen die Menschen damit um? Der Film bietet als Medium die Möglichkeit eines eher emotionalen, empathischen Zugangs, die die beiden Regisseure bewusst nutzten. In der Begegnung mit einzelnen Menschen von Villa Baviera suchten die Filmemacher auch die Begegnung mit sich selbst und der eigenen Geschichte. Im Besonderen der Geschichte der deutschen Sekte in Chile wollten sie allgemein Menschliches aufzeigen. Was machen totalitäre Verhältnisse mit Menschen? Wie ist es möglich, dass Menschen ihre nächsten Mitmenschen misshandeln? Wie geht die Gemeinschaft damit um, aneinander und an anderen schuldig geworden zu sein? Wie greifen Verdrängungsmechanismen und wo bricht etwas auf? Wohl nicht zufällig erinnert der Film unwillkürlich an die Nachkriegszeit in Deutschland. Die Gespräche zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern kommen einem vertraut vor. Hier wird vorsichtig nach Verantwortung gefragt, dort wird gesagt, man habe nichts gewusst.

Die Filmemacher wollten nicht selbst dem Muster verfallen, das in der Sekte wirksam war: die Welt in Gut und Böse einzuteilen. Sie wollten den Menschen, die sie zeigen, keinen Opfer- oder Täter-Stempel aufdrücken. Nötige Differenzierungen tragen die Interviewten selbst ein, vor allem Aki Laube, der offen über seine Misshandlungen spricht und nicht bereit ist, sich der Forderung der Älteren in der Gemeinschaft anzuschließen, sich alle mehr oder weniger als schuldig zu betrachten, ohne Taten zu nennen und die Täter zur Verantwortung zu ziehen. Die Filmemacher zeigen die schöne Landschaft, in der sich die Gemeinschaft niedergelassen hat, in romantischen Bildern. Dies vermittelt eine Ahnung von der Sehnsucht und der Utopie, die die Anhänger von Schäfer ursprünglich bewogen haben mögen, sich auf das Projekt der „Kolonie der Würde“ einzulassen. Den Menschen dagegen sind eher Verletzungen und Härte ins Gesicht gezeichnet. Der Film transportiert eine große Traurigkeit und ein Gefühl der Schwere, was wohl der Grundstimmung der Gemeinschaft in Villa Baviera entspricht. Angesichts des Geschehenen zeigt der Film einerseits auf, wie mächtig die Verdrängung wirksam ist, andererseits ist eine starke innere Bewegung bei den Menschen spürbar.Farkas und Zuber verzichten auf Kommentare. Nur die nötigsten Informationen zur Colonia Dignidad werden eingeblendet.

Zu Wort kommen Rüdiger Schmidtke, der als Sechsjähriger mit seinen Eltern in die Kolonie kam, Aki Laube, der zur Zeit der Gründung der Gemeinschaft wenige Monate alt war, sein Vater Walter Laube, Anna Schnellenkamp, die in der Kolonie geboren wurde, ihr Vater Kurt Schnellenkamp, der als Stellvertreter von Paul Schäfer zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, ein Sohn von Kurt Schnellenkamp, ein Chilene, der als gehbehindertes Kind von der Kolonie aufgenommen wurde, Johan Spatz, der als Anhänger Paul Schäfers nach Chile kam, Enno Haaks, der als evangelischer Pfarrer die Bewohner von Villa Baviera in den letzten Jahren betreute, und Herman Schwember, der sich im Auftrag der chilenischen Regierung um die Bewohner kümmert.Von großem Wert ist auf der DVD ein Interview mit den beiden Filmemachern Farkas und Zuber. Sie berichten ausführlich nicht nur über ihre Absichten, die sie mit dem Film verbanden, sondern auch über ihre Eindrücke von Villa Baviera. Unter anderem schildern sie die Reaktionen der Bewohner, als sie ihnen den Film im Sommer 2009 zeigten. Der Film ermöglicht eine ungewöhnliche Begegnung mit Menschen, die unter einem Totalitarismus im Kleinen gelebt haben und sich langsam in ein neues Leben danach hineintasten. Mehr Informationen zum Film sind im Internet unter www.deutsche-seelen.de zu finden.


Claudia Knepper