Alternative Medizin

Der Film „Die Gabe zu heilen“

„Bei uns geht man immer zum Arzt und zum Abbeter. Immer beides.“ So sagte es uns ein Einheimischer bei der EZW-Exkursion ins Allgäu im September 2017. Es genüge, den Abbeter anzurufen. Jesus gleich spreche er aus der Ferne ein Gebet. Im Alpenraum ist die Tradition der Heiler und Abbeter verbreitet. Das sind in der Regel einfache Männer und Frauen, denen eine besondere Gabe zu heilen nachgesagt und zugetraut wird. Traditionell lief das Heilen unspektakulär neben der eigentlichen Arbeit in der Landwirtschaft oder im Handwerk. Heute kann schon mal eine „Praxis“, eine Dienstleistung im Haupterwerb, aus der wundersamen, in der Regel nichtärztlichen Heilkunst werden.

Der Regisseur Andreas Geiger zeigte uns bei der EZW-Exkursion seinen Dokumentarfilm „Die Gabe zu heilen“, der im letzten Herbst in den Kinos lief, und kam mit den Exkursionsteilnehmern aus der Weltanschauungsarbeit dazu ins Gespräch. Mittlerweile ist auch ein Buch zum Film erschienen.

Unvoreingenommen und wertfrei schaut der Dokumentarfilm fünf Heilern über die Schulter. Geiger wollte keinen weiteren kritischen Film über Scharlatane machen, sondern hat bewusst fünf Heiler ausgesucht, die er für glaubwürdig hielt. Zu sehen sind zwei ältere Männer, die am ehesten dem klassischen ländlichen „Heiler“ entsprechen, um die jeder im Dorf weiß. Robert Baldauf ist ein Bauer aus Vorarlberg. Er pendelt, stellt ein Kräutergetränk her, dessen Rezept er von Engeln hat, und befreit Menschen durch seine Gebete von Schmerzen. Jakob „Köbi“ Meile ist Alphirt und Sattler. Er lebt in den Schweizer Bergen bei Wattwil. Er nutzt die Kraft der Autosuggestion und macht Rückführungen in frühere Leben. Ojuna Altangerel stammt aus der Mongolei und hat in der DDR Medizin studiert. Bereits als Ärztin praktizierend, besann sie sich auf ihre nomadischen Wurzeln und ihr schamanisches Erbe. Heute lebt sie in Walzenhausen in der Schweiz und arbeitet in ihrer Praxis mit einer Mischung aus traditionellen schamanischen Methoden und modernen medizinischen Erkenntnissen. Stephan Dalley aus Ludwigsburg ist nach mehreren Studienabbrüchen und Tätigkeiten heute ganz „Berufsheiler“. Er erspürt die Energiefelder von Menschen und heilt durch Handauflegen. Birthe Krabbes ist eine Erzieherin aus Hamburg. Auch sie heilt mit ihren Händen, indem sie Krankheiten, vor allem Gürtelrose, aus dem Körper „zieht“.

Es ist bewegend, den Begegnungen zwischen Heilern und Hilfesuchenden zuzuschauen. Die Heiler zeigen oft gute Intuition, Empathie und Menschenkenntnis. Häufig kommen sie im Gespräch vom körperlichen Leiden zur Trauer um einen nahen Angehörigen und zu Beziehungsproblemen. Da ist ein krebskranker Junge, der sich Sorgen um den herzkranken älteren Bruder macht. Da ist ein Mann mit Spätfolgen eines schweren Verkehrsunfalls. Im Gespräch geht es um seine Beziehung zu dem Unfallverursacher und um die Frage von Schuld und Vergebung. Da ist ein Mädchen, das ins Bett nässt und auf Nachfrage erzählt, dass ihr Vater gestorben sei. Es sind Dinge, die im üblichen Patienten-Arzt-Gespräch kaum thematisiert werden. Die Heiler sind zugleich und wohl vor allem Seelsorger und eine Art „Psychotherapeuten“.

Je länger man im Film den Heilern zuhören und zusehen kann, umso mehr Skepsis kann sich bei einem kritischen Zuschauer einstellen. Die Gespräche balancieren auf einem schmalen Grat zwischen hilfreicher Intuition und problematischen Aussagen, wenn zum Beispiel die Sorge um den Bruder schuld ist am Hirntumor oder das Pendel des anatomisch wenig bewanderten Bauern überraschend eine Eierstockentzündung als Ursache der beklagten Bauchschmerzen ausmacht.

Heiler hat es schon immer gegeben, und sie sind auch in der Gegenwart für viele Menschen trotz wissenschaftlicher Einwände eine glaubwürdige und attraktive Ergänzung oder Alternative zur Schulmedizin. Der Film ist sehenswert für alle, die sich ein Bild machen möchten über das Wirken von „Heilern“ in Mitteleuropa in der Gegenwart jenseits von offensichtlicher Scharlatanerie. Schlüsse muss jeder Zuschauer allerdings selbst ziehen. Der Film enthält sich einer Wertung, er beobachtet nur und das sehr gut.


Claudia Knepper, Werdau


Anmerkungen

  1. DVD: Andreas Geiger (Regie), Die Gabe zu heilen, 15. Dezember 2017, 102 Minuten Film plus 120 Minuten Bonusmaterial mit weiteren Fallbeispielen. Buch: Andreas Geiger / Annette Maria Rieger, Die Gabe zu heilen. Von wegen Wunder, Tübingen 2017.