Haringke Fugmann

Der Film „Winna - Weg der Seelen“

Anomalistische Phänomene rund um Tod und Sterben

Der Film „Winna – Weg der Seelen“ (2014, 83 Min., Regie: Fabienne Mathier1) will ein Film sein „über ein Stück ursprüngliches, mysteriöses, faszinierendes Wallis, über Sagen und Mythen zum Thema Seelenwanderungen und über Menschen, die Verstorbenen begegnet sind“2. Aus dem Begleittext zum Film erfährt man außerdem, dass sich der Film als Dokumentation versteht: „Dieses alte und verborgene Wissen gerät immer mehr in Vergessenheit. Mit dem Film wurde ein wichtiges Zeitdokument geschaffen. Die alten Traditionen werden aufgespürt, es kommen Sagenerzähler und Sagensammler zu Wort.“3 Interessant ist vielleicht noch der Hinweis, dass der Film teilweise über Crowdfunding finanziert wurde.4

Die Regisseurin Fabienne Mathier, promovierte Psychologin, hat nach ihrer Selbstauskunft zehn Jahre als Psychologin und Psychotherapeutin gearbeitet. Im Jahr 2009 begann sie, sich in Theaterpädagogik, Filmregie, Filmschnitt und Drehbuchschreiben weiterzubilden. Außerdem entwickelte sie ein starkes Interesse für das Thema Spiritualität und absolvierte zahlreiche Kurse bei verschiedenen spirituellen Lehrern und Lehrerinnen.5

Inhalt des Films

Der Film wird von einer einfachen narrativen Grundstruktur getragen: Eine Schülerin namens Sarina Zimmermann aus Visperterminen im Kanton Wallis in der Schweiz hört im Unterricht von alten Sagen über den „Gratzug“. Als Hausaufgabe soll sie sich in ihrem sozialen Umfeld nach alten Erzählungen zu diesem Thema umhören. Im Verlauf des Films sehen wir sie dann etwa bei einem Erzählabend mit dem bekannten Sagenerzähler Andreas Weissen6 aus Brig oder bei einer Begehung des Aletschgletschers zusammen mit Martin Nellen aus Riederalp, der dort eine Bergsteigerschule betreibt.7 Immer wieder werden im Film auch beeindruckende, ruhige, von meditativer Musik unterlegte Landschaftsaufnahmen gezeigt.

Am Anfang des Films stehen also Sagen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum sogenannten „Gratzug“ im Mittelpunkt. Dabei handelt es sich um Geschichten, die davon erzählen, dass die „armen Seelen“ aus dem Fegefeuer, nur mit Leichentüchern bekleidet, des Nachts und in der eisigen Kälte einer mehrstündigen Prozession entlang einer eindeutig bestimmbaren Route im Kanton Wallis folgen, um auf diese Weise zu büßen, bis sie schließlich in den Spalten des Aletschgletschers verschwinden. Die erst kürzlich Verstorbenen oder in Kürze Sterbenden sollen am Schluss des Zugs gehen. Es handelt sich also um stark durch die römisch-katholische Volksfrömmigkeit dieser Gegend geprägte Sagen aus dem letzten Jahrhundert.

„Winna“ (der Begriff, der dem Film seinen Namen gegeben hat), nach Auskunft der Regisseurin8 gleichbedeutend mit dem Wort „Gratzug“, wird im Film als eine besondere Art von Wiedergänger-Phänomen beschrieben: Wie u. a. der Lokalhistoriker Rainer Brigger (der das Pfarreibuch über die Dreifaltigkeitspfarrei von Staldenried verfasst hat9) im Film erklärt, wurde die Redewendung „in eine Winna kommen“ verwendet, wenn eine Person Blasen oder Schwellungen im Gesicht hatte. Man erklärte sich dieses Phänomen so, dass die oder der Betroffene nachts von einer „armen Seele“ aus dem Gratzug geküsst oder berührt worden war oder dass diese ihm etwas ins Gesicht geworfen hatte. Meist sei das Phänomen im November aufgetreten, im „Allerseelenmonat“. In den schlimmsten Fällen von „Winna“ sei die oder der Betroffene einige Zeit später verstorben.

Danach werden im Film zeitgenössische, jeweils sehr unterschiedliche anomalistische (also von alltäglichen Erfahrungen abweichende) Erlebnisberichte rund um Sterben und Tod nach- und nebeneinander präsentiert: Lina Heinzmann aus Visperterminen berichtet von synchronistischen Phänomenen beim Tod nahestehender Menschen; so habe es bei ihr als Teenager an der Tür geklopft, als ihr Vater im Krankenhaus gestorben sei. Inhaltlich passt dazu ein (später im Film gezeigter) Bericht von Mathilde Burgener aus Visperterminen: Sie habe genau im Augenblick des Todes ihres Sohnes Mike (der als Bergführer am Berg verunglückte) einen starken Schmerz „auf der Schulter“ verspürt.

Maria Salzmann aus Ritzingen erzählt von einem Spuk mit Klopfgeräuschen in ihrem Haus, den sie vorsichtig mit ihrem verstorbenen Mann in Verbindung bringt. Inhaltlich dazu passend berichtet Mathilde Burgener (wieder später im Film), dass immer wieder nachts eine Lampe mit Berührungssensor bis zu viermal von selbst angegangen sei; sie führt dies auf die Anwesenheit ihres verstorbenen Sohnes zurück.

Das Medium Conny Giammarresi aus Brig spricht davon, seit wann und wie sie die Verstorbenen sehen kann (sie hat als Medium in der Vergangenheit 100 SFr für eine 60-minütige Sitzung verlangt10 und hat seit dem 1.9.2016 eine eigene Sendung mit dem Titel „Fräg Doch Misses Poppins“ auf „TV Oberwallis“ rund um anomalistische Phänomene moderiert11). Dazu passt inhaltlich, wenn Mathilde Burgener (wiederum später im Film) von einem Kontakt zu ihrem verstorbenen Sohn Mike im Rahmen einer spiritistischen Sitzung mit einem Medium erzählt.

Dann spricht wiederum Lina Heinzmann von selbst erlebten Präkognitionen: Sie „höre“, bevor jemand sterbe. Xaveria Furrer aus Naters berichtet, dass sie ihren verstorbenen Mann um sich wisse und auch eine kurze Erscheinung ihres verstorbenen Ehemanns im Garten bei den Rosen gehabt habe. Und Rainer Brigger erzählt von den Sterbebett-Visionen seiner Schwiegermutter und seiner Mutter.

Filmkritik

Vordergründig scheint der Film in neutraler, zumindest zurückhaltender Weise über anomalistische Phänomene rund um das Thema Tod und Sterben zu berichten: Es kommen Menschen zu Wort, die selbst anomalistische Erfahrungen gemacht haben oder die sich im Rahmen ihrer lokalhistorischen Recherchen damit befasst haben. Auf den zweiten Blick zeigt sich, dass der Film eine deutliche Sympathie für die sogenannte „spiritistische“ Deutung dieser verschiedenen anomalistischen Phänomene hegt. Mit der spiritistischen (von lat. spiritus für „Geist“) Deutung ist die Vorstellung gemeint, dass sich die Seele eines Menschen im Tod von seinem Körper trenne, weiter existieren und mit der Welt der Lebenden interagieren könne.

Diese Sympathie zeigt sich zunächst darin, dass der Film inhaltlich sehr disparate zeitgenössische anomalistische Phänomene unterschiedslos neben- und nacheinander präsentiert; ihr verbindendes Motiv haben alle diese sehr unterschiedlichen Phänomene (synchronistische Phänomene im Todesaugenblick, Spukfälle, spiritistische Erfahrungen, Präkognitionen, Erscheinungen von Verstorbenen und Sterbebett-Visionen) im Grunde einzig in ihrer spiritistischen Deutung durch die Personen, die zu Wort kommen.

Zudem hat die Regisseurin darauf verzichtet, solche Berichte zu zeigen und solche Personen zu Wort kommen zu lassen, die andere Deutungen propagieren würden. Was hätte z. B. eine literaturwissenschaftliche, eine volkskundliche, eine parapsychologische oder eine theologische Perspektive zu sagen gehabt? Wie lassen sich diese anomalistischen Phänomene in die komplexen sozioökonomisch-kulturellen Veränderungsprozesse im Wallis im Laufe der letzten 100 Jahre einzeichnen? Wie stehen sie in Relation zur Geschichte des Spiritismus in der Schweiz? Inwiefern erfahren wir aus den Berichten eher etwas über die Welt der Lebenden als über die der Toten?

Schließlich ist im Film m. E. ein deutliches weltanschauliches Bewertungsgefälle festzustellen: Die Sagen über den Gratzug und über Winna aus vergangenen Zeiten, die stark vom römischen Volkskatholizismus dieser Gegend geprägt sind, werden eher am Anfang des Films und eher als beängstigend dargestellt und dementsprechend von dramatischer Musik unterlegt. Die zeitgenössischen anomalistischen Erfahrungen, die durchgehend spiritistisch gedeutet werden, werden danach und überwiegend als tröstlich präsentiert; selbst der Humor hat dort einen Platz.

Alternative mögliche Erklärungen für anomalistische Erfahrungen

Gegenüber der vom Film implizit bevorzugten monokausal spiritistischen Deutung solcher anomalistischen Erlebnisse halte ich es aufgrund meiner bisherigen Erfahrungen in der Beratung für sinnvoller, solche Erfahrungen multiperspektiv zu betrachten.

Eine naturwissenschaftlich naheliegende Interpretationsmöglichkeit für einige anomalistische Phänomene wäre Infraschall. Dabei handelt es sich um sehr tiefe Töne, also um Schallwellen unterhalb von 16 Hz. „Diese sind für das menschliche Ohr nicht mehr wahrnehmbar, können uns aber dennoch stark beeinflussen. Diese tiefen Töne können bei uns zu Halluzinationen, Angstgefühlen, Beklemmung und dem Gefühl, beobachtet zu werden, führen. Natürliche Ursachen dafür können z. B. Erdbeben oder bestimmte Winde sein, wobei Infraschall auch in tausenden Kilometern Entfernung noch seine Wirkung entfalten kann.“12 Da die Alpen geologisch gesehen relativ jung sind (sie entstanden erst vor ca. 100 Millionen Jahren), kommen Erdbeben in dieser Region häufig vor.13 Da es sich bei Infraschall letztlich um Schallwellen handelt (nur eben um sehr tiefe) und da Schallwellen immer entstehen können, wenn Objekte sich berühren oder gegeneinander reiben, kann Infraschall außer durch Erdbeben auch durch Lawinen und durch die enorm starken Kräfte bei der Bewegung großer Eismassen in einem Gletscher wie dem Aletschgletscher verursacht werden. Im Kontext eines starken römisch-katholischen Volkskatholizismus wäre es denkbar, dass sich die vom Infraschall ausgelösten „Halluzinationen, Angstgefühle“ und das Gefühl, „beobachtet zu werden“ (s. o.), in der vereinzelten Wahrnehmung eines „Gratzugs“ narrativ niederschlugen – und zwar auffälligerweise in einem erzählerischen Konnex zum Aletschgletscher.

Da viele der Begegnungen mit dem Gratzug alleine und bei Nacht bzw. draußen, also in Einsamkeit, bei Dunkelheit und unter dem Einfluss von Müdigkeit und Kälte stattfanden, wäre es weiterhin denkbar, dass es sich hierbei um nichtpathologische Halluzinationen handelt, wahrgenommen in leicht veränderten Bewusstseinszuständen, die durch Einsamkeit, Dunkelheit, Müdigkeit und Kälte bekanntlich evoziert werden.

Eine weitere mögliche Erklärung für die Sichtung von Verstorbenen im Allgemeinen, die möglicherweise auch hier Sinn ergeben würde, bieten Armando D‘Agostino, Anna Castelnovo und Silvio Scarone in einer kürzlich veröffentlichten Metastudie.14 Insgesamt haben sie dafür 13 Studien zwischen 1894 und 1993 ausgewertet. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass 30 bis 60 % aller älteren Menschen, die mit Trauer und Verlust zu tun haben, visuelle Halluzinationen ihrer verstorbenen Angehörigen erleben. Auch bei den 30- bis 39-Jährigen ist eine Häufung entsprechender Erfahrungen festzustellen. Die Autoren nehmen an, dass es sich bei diesen Sichtungen um eine psychologisch sinnvolle Coping-Strategie der Trauernden handelt, v. a. weil eine solche Erfahrung von den meisten Menschen eher als tröstend denn als verstörend wahrgenommen wird. Auch die im Film geschilderten Erscheinungen von und Kontaktaufnahmen mit Verstorbenen werden von den Angehörigen überwiegend positiv bewertet und als tröstlich erlebt.

Auch eine rein naturwissenschaftliche Erklärung eines spezifischen im Film geschilderten anomalistischen Phänomens wäre denkbar: Wenn Mathilde Burgener erzählt, dass sich ihr Sohn immer wieder durch das Einschalten einer Nachtlampe bemerkbar gemacht habe, und wenn sie im Film erwähnt, einmal beim Berühren der Lampe eine Art „Strom“ gefühlt zu haben (was sie als Hinweis auf die Gegenwart ihres verstorbenen Sohnes deutet, weil sie genau in diesem Augenblick gefragt hatte: „Mike, hast du dem Papa ein Zeichen gegeben?“), läge es ebenso nahe, an einen technischen Defekt der häuslichen Beleuchtungsanlage zu denken.

Schließlich böte sich aus animistisch-parapsychologischer Sicht die sogenannte „psychokinetische“ Deutung an: Demnach könnte sich auch die Psyche der Angehörigen – bei entsprechender Veranlagung und in besonderen Krisensituationen – psychokinetisch in der materiellen Umwelt bemerkbar machen, etwa in Gestalt eines Spuks.15

Die hier in aller Kürze zusammengestellten alternativen Deutungsmöglichkeiten wollen nicht beanspruchen, wahrer oder besser zu sein als eine spiritistische Deutung. Sie sollen nur deutlich machen, dass die von der Regisseurin bevorzugte spiritistische Deutung nicht die einzig mögliche ist. Übrigens hat Mathier beim Filmgespräch am 21.12.2016 in Bayreuth offen ihre Sympathie für eine spiritistische Weltanschauung zum Ausdruck gebracht.

Einige theologische Überlegungen zum Spiritismus

In der Geschichte des Christentums war die Vorstellung weit verbreitet, dass sich die Seele nach dem Tod vom Körper löst und weiterexistiert. Viele Christinnen und Christen empfinden diese Vorstellung bis heute als tröstlich. In der Bibel überwiegt insgesamt eher die Ansicht, dass die Toten tot sind und dass sie – so im Neuen Testament – bis zur leiblichen Auferstehung im Letzten auch tot bleiben.

Im Blick auf heutige spiritistische Vorstellungen sind vor allem zwei biblische Texte von Interesse: In der Geschichte von König Saul bei der Totenbeschwörerin in En-Dor (1. Sam 28) gelingt es der Beschwörerin schließlich tatsächlich, den Propheten Samuel heraufzuholen. Entgegen Sauls Erwartung hat dieser jedoch keine tröstliche oder hoffnungsvolle Botschaft, sondern prophezeit Sauls baldiges Ende. Der Text scheint an dieser Stelle sagen zu wollen, dass es zwar einerseits möglich ist, die Verstorbenen zu beschwören, dass dies aber andererseits nicht zielführend ist, weil die Toten weder praktisch helfen noch lebensförderliche Ratschläge geben.

In der Geschichte vom reichen Mann und armen Lazarus (Lk 16, 19-31) wird erzählt, wie der zu Lebzeiten arme Lazarus nach seinem Tod von den Engeln „in Abrahams Schoß“ (Vers 22) getragen wird, während der im Leben reiche Mann begraben wird und sich in der Hölle wiederfindet (vgl. Verse 22f). Als der ehemals reiche Mann Abraham daraufhin bittet, Lazarus zu seinen Brüdern zu schicken, um sie vor der Hölle zu warnen, entgegnet ihm Abraham: „Sie haben Mose und die Propheten; die sollen sie hören“ (Vers 29). Als der reiche Mann auf seiner Bitte beharrt, erwidert Abraham schließlich: „Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde“ (Vers 31). Auch an dieser Geschichte wird deutlich, dass die Verstorbenen den Lebenden keinerlei brauchbaren Rat geben können, die Lebenden vielmehr schon alles haben und wissen, was zu ihrem Heil gereicht.

Jesus selbst hat dann noch einmal einen völlig neuen Umgang mit den Toten demonstriert: Er hat sie nicht beschworen, sondern zum Leben erweckt. Das hält sich bis zu seinem eigenen Ende durch: Er erscheint seinen Jüngern an Ostern nicht als Totengeist im Leichenhemd, sondern als Auferstandener aus „Fleisch und Knochen“ (Lk 24,39). Darum müssen Christen heute keine spiritistischen Séancen abhalten, um mit Jesus in Kontakt zu treten, sondern sie vertrauen darauf, dass er bei ihnen ist, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind (vgl. Mt 18,20). Das wiederum bedeutet für mich als Theologe: Wenn ein Christ stirbt, sollten wir davon Abstand nehmen, seinen Geist zu beschwören. Wir sollten vielmehr dafür beten, dass Gott einst bei der Auferstehung seiner gedenken wird.

Zum Umgang mit anomalistischen Erfahrungen rund um Tod und Sterben

Eine zentrale Frage in der Beratung rund um anomalistische Erfahrungen lautet meist: Gibt es das wirklich? Ist das real? Dabei hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, diese Begriffe genauer in den Blick zu nehmen: Das Wort „Realität“ und das Adjektiv „real“ stammen von lateinisch res für „Sache, Ding“ ab. Wenn etwas also real ist, dann handelt es sich um etwas, das man wie eine Sache oder ein Ding sehen und anfassen bzw. mit den Sinnen erfassen kann. Das Substantiv „Wirklichkeit“ beruht auf dem Adjektiv „wirklich“, und dieses stammt ab von „spätmittelhochdeutsch wirkelich, mittelhochdeutsch würke[n]lich, würklich, eigentlich = tätig; wirksam; wirkend“16. Wirklich ist etwas also dann, wenn es wirkt. So gesehen sind viele anomalistische Erlebnisse zwar nicht auf ihre Realität hin überprüfbar, aber deswegen doch nicht weniger wirklich: Xaveria Furrer etwa konnte zwar ihren verstorbenen Ehemann, der plötzlich im Garten bei den Rosen stand, nicht berühren; aber dass seine Erscheinung eine Wirkung auf ihr Leben hatte, steht außer Frage.

Die Frage nach dem Realitätsgehalt einer anomalistischen Erfahrung spielt daher in meiner Beratungspraxis nur eine untergeordnete Rolle, gleichwohl sie meist zuerst im Raum steht. Viel relevanter ist meiner Erfahrung nach die Frage, was eine solche anomalistische Erfahrung für diejenigen, die sie erleben, bedeutet und bewirkt. Wäre ich beispielsweise im Gespräch mit den Mitwirkenden am Film „Winna“, würde ich sie etwa fragen: Was verändert sich für einen Menschen und sein Umfeld, wenn er davon erzählt, den „Gratzug“ gesehen zu haben? Wie lebt ein Mensch weiter, wenn er glaubt, von einer „armen Seele“ geküsst worden zu sein und womöglich sterben zu müssen? Welche Wirkungen haben synchronistische Erlebnisse im Todesaugenblick und Präkognitionen von Todesfällen auf die Betroffenen? Werden sie – wie es etwa Lina Heinzmann erzählt – als tröstlich oder manchmal auch als belastend erlebt? Kann der Glaube in Spukfällen eine Hilfe sein wie bei Maria Salzmann, die erzählt, dass sie ihr Zuhause von einem römisch-katholischen Priester segnen ließ? Führen Erfahrungen in spiritistischen Sitzungen (wie im Film dargestellt) nur dazu, dass Angehörige den Verlust eines geliebten Menschen besser verarbeiten, oder auch dazu, dass sie sich immer weiter in der vorgestellten Jenseitswelt verlieren und das Leben im Hier und Jetzt vernachlässigen? Reicht es aus, bei spiritistischen Praktiken ihren tröstlichen Charakter zu betonen? Müssen nicht ihre finanziellen Vorzüge für das Medium ebenso mit in den Blick genommen werden?

Fazit

„Winna“ bietet viele sinnvolle Anknüpfungspunkte, um über anomalistische Erfahrungen, über den Spiritismus und über die großen Themen des Glaubens ins Gespräch zu kommen. Dabei positioniert sich der Film – unausgesprochen – positiv zum Spiritismus. Er hätte mir noch besser gefallen, wenn dies explizit thematisiert worden wäre.


Haringke Fugmann


Anmerkungen

  1. Gemeinsam mit der Regisseurin wurde vom Cineplex Bayreuth in Kooperation mit dem Evangelischen Bildungswerk Bayreuth am 21.12.2016 eine Vorführung des Films mit anschließendem Filmgespräch durchgeführt. Meine Teilnahme als Gesprächspartner war Anlass für meine Recherchen zu dem Film.
  2. http://winna.ch/?page_id=51  (Abruf: 14.12.2016).
  3. Ebd.
  4. Vgl. https://wemakeit.com/projects/winna-weg-der-seelen  (Abruf: 21.12.2016).
  5. Vgl. die Internetseite der Regisseurin: www.fabiennemathier.ch . 
  6. Vgl. www.andreas-weissen.ch/site/sagen.html  (Abruf: 20.12.2016).
  7. Vgl. www.suedlenz.ch  (Abruf: 20.12.2016).
  8. Beim Filmgespräch in Bayreuth (s. Fußnote 1).
  9. Vgl. www.staldenried.ch/dorfleben/pfarrei/pfarreibuch.php  (Abruf: 20.12.2016).
  10. Vgl. www.deinmedium.ch/details.html?cf_id=13  (Abruf: 20.12.2016). Nach Auskunft der Regisseurin Fabienne Mathier beim Filmgespräch im Dezember 2016 (s. Fußnote 1) war Conny Giammarresi zu diesem Zeitpunkt nicht als Medium zu kontaktieren.
  11. Vgl. http://tvoberwallis.tv/fraeg-doch-misses-poppins-s1-e1-2  (Abruf: 20.12.2016).
  12. Lucia Moiné, Reise ins Unbekannte. Wahre Geistergeschichten aus dem deutschsprachigen Raum, Leipzig 2014, 241. Vgl. dazu Sebastian Bartoschek/Alexa Waschkau, Ghosthunting. Auf Spurensuche im Jenseits, Aschaffenburg 2013, 148.
  13. Vgl. www.zamg.ac.at/cms/de/geophysik/erdbeben/aktuelle-erdbeben/karten-und-listen/bebenkarte/europa  (Abruf: 20.12.2016).
  14. Vgl. Armando D’Agostino / Anna Castelnovo / Silvio Scarone, Non-pathological associations – sleep and dreams, deprivation and bereavement, in: Daniel Collerton / Urs Peter Mosimann / Elaine Perry (Hg.), The Neuroscience of Visual Hallucinations, Chichester, 2015, 59-89, hier 76ff.
  15. Vgl. Lucia Moiné, Reise ins Unbekannte (s. Fußnote 11).
  16. www.duden.de/rechtschreibung/wirklich_real_existent_wahrhaftig  (Abruf: 21.12.2016).