Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus
Philip Pullman, Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus, aus dem Englischen von Adelheid Zöfel, S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011, 231 Seiten, 18,95 Euro.
Der Titel „Der gute Herr Jesus und der Schurke Christus“ provoziert. Philip Pullman, Autor der Fantasy-Trilogie „His Dark Materials“, nimmt sich in seinem im Februar 2011 auf Deutsch erschienenen Buch der Person Jesus an. Im englischen Original bereits im April 2010 erschienen, sorgte das Buch für kontroverse Diskussionen. Im deutschsprachigen Raum fallen diese verhalten aus, obwohl das Buch schon äußerlich auffällt: Auf dem schwarzen Schutzumschlag sind in goldenen Buchstaben Autor und Titel zu lesen. Dass dabei „Philip Pullman“, „Jesus“ und „Christus“ graphisch stärker hervorgehoben sind, mag ein Layout-Detail sein, zeigt aber, worum es geht: um Pullmans Blick auf Jesus Christus. So beginnt er seine moderne (Nach-)Erzählung mit den Worten: „Dies ist die Geschichte von Jesus und seinem Bruder Christus.“Die Geschichte ist schnell zusammengefasst: Maria wird schwanger von einem Engel, der aussah „wie einer der jungen Männer, die sie am Brunnen schon öfter angesprochen hatten“ (11). Sie gebiert Zwillinge, den robusten erstgeborenen Jesus und seinen schwächlichen Bruder, ihren „geheimen Liebling“ (25), den sie Christus nennt. Die Brüder sind unterschiedlich: Jesus lernt das Handwerk des Zimmermanns; er wird von der Taufe durch Johannes den Täufer so bewegt, dass er fortan öffentlich das Kommen des Reiches Gottes verkündet, Wunder tut und schließlich den Kreuzestod erleidet.Christus dagegen studiert die heiligen Schriften. Zum „Schurken“ wird er als Interpret der Geschehnisse um Jesus. Ein Fremder, dessen Identität nicht gelüftet wird, spricht zu ihm: „Jesus ist ein Mensch und nur ein Mensch, doch du bist das Wort Gottes“ (58). Der Fremde beauftragt Christus, die Taten und Worte seines Bruders aufzuschreiben und zu deuten: „Die historische Wirklichkeit gehört in den Bereich der Zeit, aber die Wahrheit gehört in den Bereich jenseits der Zeit. Indem du die Dinge so aufschreibst, wie sie hätten sein müssen, fügst du zu den historischen Fakten die Wahrheit hinzu“ (93). Wirklichkeit zur Wahrheit zu machen, ist die Aufgabe von Christus. Seine Rolle ist aber vielschichtiger: So ist er es auch, der Jesus in der Wüste in Versuchung führt. Er ist es, der Jesus verrät. Er ist es, der nach dem Tod Jesu für den Auferstandenen gehalten wird. Nach den Begegnungen mit den Jüngern und Maria zieht er sich zurück und lebt unter anderem Namen in einer Küstenstadt. Dort sucht ihn der Fremde erneut auf und betraut ihn damit, „die Geschichte zu ordnen“ (225). Denn „ohne die Geschichte gibt es keine Kirche, und ohne die Kirche wird Jesus vergessen“ (230).Kirche statt Jesus – darin zeigt sich der historisch-kritische Ansatz Pullmans: Er zitiert und erzählt nach den Evangelien und aus apokryphen Texten über das Leben Jesu. Dabei behält er den biblischen Erzählduktus in Sprache und Gliederung bei, was keinen Spannungsbogen aufkommen lässt. Inhaltlich greift er mit dem Motiv der zwei Brüder auf gnostisches Gedankengut zurück. Christliche Glaubensinhalte werden dekonstruiert, wenn Jesus in Gethsemane Gott absagt, am Kreuz stirbt und nicht aufersteht. Die Jungfrauengeburt und die Wunder Jesu werden rational erklärt; das Petruswort („Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen“, Mt 16,18) wird zur Erfindung von Christus: „Da kam ihm ein Gedanke, und er schrieb etwas Neues“ (97).Pullman, so scheint es, arbeitet sich an der These des französischen Theologen Alfred Loisy ab: „Jesus kündigte das Reich Gottes an und gekommen ist die Kirche“ (L’évangile et l’église, Paris 1902). In Pullmans Erzählung ist die Kirche ein bewusst auf Lügen aufgebautes Gebilde und der christliche Glaube nichts als eine Fälschung. Das englische Original „The Good Man Jesus and the Scoundrel Christ“ erschien in der Reihe „Myths“ bei Canongate Books (Edinburgh). Während die anderen Bücher dieser Reihe antike Mythen neu erzählen, ist Pullmans Buch deutlich gegenwartsbezogen: Seine Kritik gilt der Institution Kirche und dem Christentum. Doch wer an einer Verschwörungstheorie zur Entstehung des Christentums interessiert ist, findet bei Dan Brown spannendere Lektüre. Pullmans Neuinterpretation des Lebens Jesu mag für die reizvoll sein, die die Evangelien kennen und zwischen Bibelzitat und Pullman-Deutung zu unterscheiden wissen. Für diese aber bietet die Geschichte letztlich wenig theologische Herausforderung. Das Schlusswort des Covers ist programmatisch: „Dies ist keine frohe Botschaft.“
Ulrike Treusch, Kassel