Katajun Amirpur, Ludwig Ammann (Hg.)

Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion

Katajun Amirpur/Ludwig Ammann (Hg.), Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2006, 219 Seiten, 9,90 Euro.


Die Vielfalt der Welt des Islam schlägt sich in der islamwissenschaftlichen Arbeit schon seit langem nieder, diese Einsichten dringen allerdings nur selten in die populärwissenschaftliche Rezeption ein, geschweige denn in die Massenmedien, die unverändert gerne „den Islam“ als monolithisches Konstrukt kolportieren. Ein Eindruck der vielen Facetten wird in diesem gelungenen Buch vermittelt, das unter dem Oberbegriff der „Reformer“ so unterschiedliche Gestalten wie Schirin Ebadi und Bekir Alboğa einerseits und den umstrittenen Yusuf al-Qaradawi oder Tariq Ramadan andererseits zusammenbringt. Leider beginnt auch das Vorwort dieses Buchs wieder mit dem unvermeidlichen Hinweis auf Terror (Madrid, London), als müsse immer noch jeder Leser zum Thema Islam bei diesem Stichwort abgeholt werden.

Danach jedoch geht es schnell zur Sache und zu einigen Problementfaltungen, die die Rationale des Buchs verdeutlichen. Kann der Koran wirklich als der eine Hintergrund für den „Stillstand der islamischen Welt“ betrachtet werden? Ist die islamische Welt demokratieresistent? Welche neuen Wege der Koranhermeneutik gibt es? Welche Rolle hat(te) der Westen bei der Stabilisierung autoritärer Regime in Staaten mit islamischer Bevölkerungsmehrheit?

Eingeleitet wird der Reigen der Einzelvorstellungen durch eine Darstellung Tariq Ramadans aus der Feder Ammanns. Dieser von Kritikern zu Unrecht mit der Muslimbruderschaft in Verbindung gebrachte, sehr selbständige Denker, der von ägyptischen Eltern im schweizerischen Exil geboren wurde und heute in Frankreich lebt und lehrt, ist zu einem wichtigen Sprecher des französischen Islam geworden, jedoch nicht eines „laizistisch weichgespülte(n), gänzlich private(n) Islam im stillen Kämmerlein“ (24). Ramadans Versuch, konservativ-moderate Reformen zu fordern und damit auch konservative muslimische Bevölkerungsteile in Europa für einen Euro-Islam zu gewinnen, ist vielfach missverstanden und als „islamistisch“ denunziert worden.

Da geht es Bekir Alboğa, vorgestellt durch T. Tezcan, besser, der als „perfekt Deutsch sprechender, öffentlich engagierter DITIB-Imam“ (50) immer mehr zum Gesicht des deutschen Islam wird und dies mit dem Alleinvertretungsanspruch von DITIB verknüpft, so dass auch seine Vorstellung zur Darstellung der DITIB-Politik in Deutschland bzw. Diyanet in Ankara samt den damit verbundenen Problemen gerät.

An dieser Stelle kommt das Thema der durch DITIB keineswegs angemessen vertretenen Aleviten ins Blickfeld. Der iranische Intellektuelle und Teheraner Professor für Islamische Philosophie Mohammad Schabestari (Autor: Roman Seidel) zeichnet sich durch eine bemerkenswerte Entwicklung vom Khomeini-Anhänger zum Kritiker der iranischen Verhältnisse aus. Dies verbindet sich mit einem reformerischen Verständnis des Koran, der Gottes Rede werde dadurch, dass er religiöse Erfahrungen im Rezipienten hervorruft, und mit einem Plädoyer für die Anerkennung der allgemeinen und universalen Menschenrechte aufgrund ihrer Vernunft- und Zeitgemäßheit und unabhängig davon, ob sie auch aus dem Koran oder aus der islamischen Tradition begründet werden können. Schabestari hatte in den 1970er Jahren die Leitung des Islamischen Zentrums und der Imam-Ali-Moschee in Hamburg inne.

Der Artikel von B. Gräf über den Ägypter Yusuf al-Qaradawi, heute an der Universität von Qatar aktiv, macht mit einem Denker bekannt, der sich hohen internationalen Ansehens in der sunnitischen Welt erfreut und der zugleich konservativ-reformerische wie auch kontextualisierende Impulse setzt. Die Entwicklung der islamischen Lehre und des Rechts müsse sich am Leben der Muslime orientieren. Das Projekt des „islamischen Erwachens“ ist für ihn leitend. Einen säkularen Staat kann Qaradawi nicht akzeptieren: Die oberste Kontroll- und Begutachtungsfunktion müsse muslimischen Gelehrten vorbehalten bleiben.

Deutlich andere Akzente finden sich bei dem in den USA lehrenden Ägypter Khaled Abou El Fadl (Autorin: Birgit Krawietz), der außer einer temperamentvollen Verteidigung des (dem Anspruch nach) westlichen Gleichberechtigungsgrundsatzes der Geschlechter weitere moderne Kontextualisierungen des Islam vornimmt.

Im weiteren Spektrum moderner islamischer Denker/innen und Aktivisten/innen (z.B. zum Koran-Verständnis: Nasr Hamid Abu Said, Muhammad Schahrur, Farid Esack, Mehmet Pacaci, zur Frauen- und Menschenrechtsthematik: Gamal al-Banna, Nadia Yassine, Gihan al-Halafawi, Schirin Ebadi) zeigt sich, dass die Koran-Hermeneutik, auch wenn sie nicht notwendigerweise jedem wissenschaftsgeschichtlichen Schritt der christlichen Bibel-Exegese parallelisierbar ist, inzwischen einen großen Facettenreichtum und Aktualisierungspotential aufweist. Längst ist Farid Esack (Südafrika) als islamischer Befreiungstheologie international anerkannt und geschätzt, ganz zu schweigen von der Friedensnobelpreisträgerin Schirin Ebadi.

Jedes der flüssig und eingängig lesbaren Kapitel, zumeist geschrieben von Autoren und Autorinnen, die selbst wissenschaftlich zur darzustellenden Person gearbeitet haben, bietet Literaturverweise zum Weiterinformieren und ist höchst empfehlenswert als ein an international wichtigen Gestalten orientierter erster Einblick in die sehr vielfältige Welt islamischen Denkens und Handelns


Ulrich Dehn